Blogpost | 23.05.2024

Die solidarische Antwort der „Engel von Kythira“ auf ein Bootsunglück von Migrant:innen

Herausforderungen für die Demokratie in Griechenland und Europa (Teil 1)
Blumen liegen am Strand

Ein Strauß von Blumen, der am Strand von Kythira niedergelegt wurde. 

Migration und Klimakrise werden zu zentralen Herausforderungen der Demokratie in Europa. Am Beispiel Griechenland beschäftigen sich Christoph und Christiane Bals damit in zwei Blogposts. Ausgangspunkt für den ersten Teil war ein Besuch von Christiane Bals im Oktober 2023 auf der griechischen Insel Kythira. Sie war dort gemeinsam mit Überlebenden und Angehörigen bei einer Gedenkfeier für Migrant:innen, deren Schiff ein Jahr zuvor in einem Sturm an den Felsen der Insel zerschollen war. Sie erlebte Trauer, aber auch Ermutigung – angesichts der zugleich erinnerten beeindruckenden Rettungsaktion.

Kythira ist eine kleine Insel, gerade mal 30 Kilometer lang, mit 3.600 Einwohner:innen und einer Hauptstraße, über die zwei kleine Städte im Norden und im Süden wie durch ein Rückgrat miteinander verbunden sind. Im Hafen Diakofti kommen täglich Fähren mit Feriengästen an. Gleich neben dem Hafen, einer ruhigen Bucht, zieht sich ein langer Sandstrand entlang. Einige hundert Meter weiter ragen die schroffen Felsen empor, an denen das Boot im Oktober 2022 zerschellte.

Heute, am 5. Oktober 2023, lappen kleine Wellen an Land. Das Meer liegt einladend ruhig da, als könne es kein Wässerchen trüben, als gäbe es keinen Wind – und erst recht keinen Sturm. Eine Menschengruppe hat sich am Strand versammelt: Überlebende und Angehörige, Inselbewohner:innen, einzelne Feriengäste. Ein Jahr ist seit dem Bootsunglück vergangen. Das überfüllte Segelboot mit 96 Geflüchteten – vor allem aus Afghanistan – zerschellte an den Felsen vor Kythira. Mindestens 15 Menschen kamen ums Leben

Ein Mann steht am Strand und spricht in ein Mikro

Ein Überlebender bedankt sich bei den „Engeln von Kythira“.

Gemeinsam gedenken wir der Toten. „Wir haben die Engel von Kythira kennengelernt“, sagt ein junger Mann, der das Unglück überlebt hat. Er fährt fort: „Ihr seid Menschen, die heute vor einem Jahr, mitten in der Nacht, mitten im Sturm, zu uns rannten, um uns an der Steilküste viele Meter hochzuziehen und so unser Leben zu retten. Wir sind heute hier, um uns an unsere Liebsten zu erinnern. Aber auch, um uns bei euch zu bedanken. Überall erzähle ich von euch, von eurem Mut, uns zu helfen und dabei euer eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Ich wünsche mir so sehr, dass alle Menschen in Europa euch kennenlernen könnten, um von euch zu lernen. Ich habe meine Eltern und meinen Bruder in der Nacht verloren. Aber jeder von uns, der jemanden verloren hat, hat hier auf Kythira eine neue Familie gefunden. Wir sind heute auch hier, um euch zu sagen: Ihr könnt auf uns zählen. Wenn ihr jemals Hilfe braucht, könnt Ihr euch auf uns verlassen – immer. Jederzeit bin ich bereit, mein Leben, das ihr mir geschenkt habt, für euch zu geben. Auf dem Boot hatte ich eine solche Angst. Wir haben uns gegenseitig ermutigt, uns ein Leben in Würde ausgemalt. Die Träume sind im Meer versunken. Und eine Bitte habe ich noch. Wenn wir morgen wieder abreisen, vertrauen wir euch weiter unsere Verstorbenen hier im Meer an. Ihr seid in der Nähe, bitte passt gut auf sie auf.“ 

Und dann gehen wir alle zum Meer, legen Blumen hinein, schauen zum Horizont, weinen, viele umarmen sich.

Große Solidarität nach dem Bootsunglück

Alexis, ein junger Mann, der auf der Insel aufgewachsen ist und in einer Bäckerei arbeitet, schaut mich an: „Es ist total verrückt“, sagt er, „dass Menschen anderen Menschen so etwas antun.“ Wir stehen nebeneinander, schauen auf die Blumen im Wasser. Das solidarische Verhalten der Menschen in Kythira steht in eklatantem Kontrast zum vermutlich hoch problematischen Verhalten der griechischen Küstenwache beim bislang größten Schiffsunglück in der Region, bei dem im Juni 2023 mehr als 500 Menschen ums Leben gekommen waren.

„Dieser Unfall hat das Leben auf der Insel verändert“, meint Alexis. „Jetzt halten wir noch mehr zusammen. In der Unglücksnacht konnten wir einander informieren und so spontan Hilfe leisten, weil wir eine App auf dem Handy haben, die uns vor Wald- und Buschbränden warnt.“ Er erzählt, dass sie die App inzwischen alle installiert haben, weil sich die Wetterbedingungen so rasch verändern und gerade Brände viel wahrscheinlicher geworden sind. Im Jahr 2017 hatten in einer starken Hitzewelle schwere Brände die Insel verwüstet. Auch 2022 gab es auf der Insel Buschbrände.

Zum Bootsunglück erzählt Alexis: „Es war mitten in der Nacht, als die Nachricht auf dem Handy ankam, dass hier Menschen um ihr Leben kämpfen. In Nullkommanix waren wir alle am Felsen. Hier auf Kythira gibt es einen Bauunternehmer, der seinen Kran mitbrachte. Wir ließen große Baustofftaschen und lange Seile hinab. Vielen gelang es, hochzuklettern. Wir nahmen sie dann hier oben in die Arme, brachten sie in die Schule. Alle waren wir auf den Beinen, wir suchten Decken zusammen und Essen, warme Suppe und Verbandszeug.“

Ronja, eine der an der Trauer- und Dankesfeier Beteiligten, schreibt kurz danach in einem Artikel: „Wir versprechen, dass wir die Menschen nie vergessen werden, die an diesen Grenzen gestorben sind. Wir werden immer an die denken, die Angehörige und Freund:innen in Lampedusa und an all den vielen anderen Orten, an diesen todbringenden Grenzen, verloren haben. Wir haben jetzt innegehalten. Und wir werden dann gemeinsam vorwärtsgehen – um diese Grenzen zu beseitigen und eine andere Welt des Willkommenheißens aufzubauen.“[1]

Das Mittelmeer wird zum Massengrab

Das kleine Segelboot war unterwegs nach Italien. Angesichts des problematischen Umgangs mit Geflüchteten in Griechenland wollen die meisten eher nach Italien kommen. Die UNO-Flüchtlingshilfe gibt an: „Auf den fünf griechischen Inseln Lesvos, Chios, Samos, Kos und Leros wurden sogenannte Closed Controlled Access Centers (CCAC) gebaut, in denen die Neuankömmlinge untergebracht werden. Die Versorgung der Menschen in diesen Zentren wird von Hilfsorganisationen immer wieder kritisiert. Restriktive Zugangskontrollen und die Abgeschiedenheit der Zentren stellen ein großes Problem dar. Im Dezember 2023 lebten auf den griechischen Inseln über 17.000 Flüchtlinge und Migranten, 92 % von ihnen in den CCACs.“ Abdul Ghafar Amur, der auf dem gekenterten Boot vor Kythira war, erzählt, er habe den Schleppern 9.000 Dollar für die Fahrt nach Italien bezahlt, Preise, die auch den Erzählungen der anderen Geflüchteten entsprechen. Das überfüllte Boot legte trotz schlechter Wetterlage ab. 

Das Mittelmeer ist zum Massengrab geworden: Zwischen Januar 2014 und März 2024 sind mindestens 29.313 Geflüchtete im Meer ertrunken. Allerdings handelt es sich um eine Schätzung, die tatsächliche Zahl der Todesopfer kann durchaus noch höher liegen. Die tatkräftig gelebte Solidarität auf Kythira steht auch in Kontrast zum beunruhigenden Erfolg der Rechtspopulist:innen in vielen Ländern der EU – auch in Griechenland und Italien –, denen die kräftig geschürte Angst vor Geflüchteten neue Wähler:innen in die Arme treibt. Erstmals seit Wiederherstellung der Demokratie im Jahr 1974 schafften Ende Juni 2023 drei rechtsextreme und nationalistische Parteien den Sprung ins griechische Parlament – mit insgesamt 13 Prozent der Stimmen. Der Umgang mit den Themen Flucht und Migration wird nicht nur bei der kommenden EU-Wahl stark mitentscheidend sein.

Menschen stehen am Strand und verabschieden sich

Angehörige und Inselbewohner:innen verabschieden sich am Strand von Kythira – und drängen auf einen menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten.


Der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Er ist auch die Grundlage für das Projekt Europa. „Der gleiche Satz ist auch der erste Artikel in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Und das Ideal der Menschenwürde ist ebenso der Anker der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die wiederum das Vorbild für zahlreiche europäische Verfassungen der Nachkriegszeit war“, betonte am 7. Mai 2024 der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm auf dem Wiener Judenplatz in seiner „Rede an Europa 2024“. Kann die EU – auch gemeinsam mit Partner:innen in der Welt – einen Umgang mit Geflüchteten finden, der die Menschenwürde ins Zentrum stellt und zugleich den menschenverachtenden Werten der Rechtspopulist:innen das Wasser abgräbt?

Europäische Migrationspolitik als unbewältigte Herausforderung für die Demokratie

Am 10. April 2024 hat das EU-Parlament einer Einigung zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zugestimmt. Während eine Angleichung der Standards und eine – auch gegenüber Griechenland und Italien – fairere Verteilung von Asylsuchenden auf dem Kontinent überfällig waren, drohen die im Frühjahr 2026 in Kraft tretenden massiven Verschärfungen der Asylbestimmugen den Schutz der Menschenwürde und damit auch diesen Kern des Projekts Europa zu untergraben. Während es wichtig ist, berechtigte Ängste von Menschen aufzugreifen, stärkt das Einknicken bei zentralen Werten in Bezug auf Menschenrechte in aller Regel eher die Rechtspopulist:innen. 

Die Trauergemeinde in Kythira machte deutlich, dass auch sie sich mit der prekären Situation der Geflüchteten nicht abfinden will. Die Geflüchteten retten zwar, wenn sie nicht wie vor Kythira an einem Felsen zerschellen, ihr Leben. Aber sie verlieren bei ihrer Flucht zugleich ihren nationalstaatlichen Raum, der ihnen eigentlich ihre Menschen- und Bürgerrechte garantieren soll. Die klassische Dreiteilung von Staat, Staatsvolk und Staatsgrenzen kommt hier an ihre Grenzen. Hannah Arendt argumentiert bereits in ihrem 1943 veröffentlichten Essay „Wir Flüchtlinge“, im Falle einer intakten Zivilisation würde den Geflüchteten zwar immerhin das Leben gerettet, doch seien sie, „politisch gesprochen, lebendige Leichname“. Der Mensch büße seine Rechte ein, wenn er den Standort in der Welt verliere, durch den allein er überhaupt Rechte haben könne und der die Bedingung dafür biete, dass seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind. Nun fänden sich die Flüchtlinge in einem anderen Land wieder, wo sie eigentlich nicht willkommen seien und das ihnen nur ein Minimum an Rechten gewähre. Die Geflüchteten verlieren, so Arendt, das „Recht, Rechte zu haben“.[2] Wie schaffen wir in der EU und mit Partnerländern in der Welt Fortschritte auf diesem Weg, ohne damit rechtsextreme Tendenzen zu befördern?

Autor:innen

Christoph und Christiane Bals

Zitiervorschlag

Bals, C., 2024, Die solidarische Antwort der „Engel von Kythira“ auf ein Bootsunglück von Migrant:innen

Ansprechpersonen

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Politischer Geschäftsführer