Dorfliebe gegen Rechtsextremismus
Karo Jobst, eine der Gründerinnen von „Dorfliebe für alle“, spricht auf einer Kundgebung in Schleiz.
Foto: K. Jobst
In Thüringen wäre im Januar 2024 beinahe ein Kandidat der in diesem Bundesland als „sicher rechtsextrem“ eingeschätzten AfD zum Landrat gewählt worden. Eine lokale Initiative für demokratischen Zusammenhalt trug mit dazu bei, dass er scheiterte. Aber warum hat die AfD im Saale-Orla-Kreis überhaupt so viel Rückhalt? Was können engagierte Menschen vor Ort dem entgegensetzen? Und wie blicken sie in die Zukunft? Christoph und Christiane Bals reisen ins thüringische Pößneck und gehen diesen Fragen nach.
Pößneck in Thüringen ist Endstation unseres Zuges. Hier treffen wir die 21-jährige Karo Jobst. „An den kurzen Haaren erkennt Ihr mich“, hat sie geschrieben. Karo ist mit dem Fahrrad aus dem fünf Kilometer entfernten Dorf Krölpa angeradelt. Es regnet. Sie gehört zu den vier Personen, die die Initiative „Dorfliebe für alle“ ins Leben gerufen haben. Diese hatte sich zum Ziel gesetzt, bei der Landratswahl im Januar 2024 im Saale-Orla-Kreis mit rund 80.000 Einwohner:innen einen Wahlsieg der AfD zu verhindern. Drei der Initiatorinnen waren vorher schon politisch in verschiedenen Gruppen aktiv. Aber nun ging es darum, ein breites gesellschaftliches Bündnis auf die Beine zu stellen.
Aufstehen für Solidarität, Weltoffenheit und Demokratie
Beim ersten Treffen, im September 2023, kamen um die zehn Menschen, vor allem bekannte Gesichter. „Jeder brachte aber schon beim zweiten Treffen Bekannte mit. Es wurden Leute aktiv, die vorher noch nie aktiv waren“, erzählt Karo. Parteiunabhängig sollten die Aktionen sein. Die Gruppe entschied sich für den Namen „Dorfliebe für alle“.
Ein offener Brief wurde aufgesetzt: „Die bevorstehende Landratswahl ist nicht ausschließlich die Wahl eines Kandidaten. Sie entscheidet auch darüber, welche Art von Gemeinschaft wir sein werden. Es geht um Solidarität, Weltoffenheit und Demokratie auf der einen Seite – und Ausgrenzung, Spaltung und Hass auf der anderen.“ „Viele sagten: Wir finden das gut, aber wir wollen nicht namentlich genannt werden“, erzählt Karo. „Geschäftsleute hatten Sorge, wie die Kunden reagieren würden. Einer wollte wieder von der Liste runter, weil er im privaten Umfeld Probleme bekam.“ Und dennoch: 1.622 Personen unterzeichneten letztlich den offenen Brief.
Am 6. Januar 2024 demonstrierten daraufhin in der Kreisstadt Schleiz 300 Menschen unter dem Motto: „Saale-Orla-Kreis für Respekt und Solidarität. Kein Landratsamt der AfD“.
Wenige Tage später war klar: Der führende Kandidat Uwe Thrum (AfD) (45,7 %) hatte keine absolute Mehrheit und musste am 28. Januar in eine Stichwahl mit dem Zweitplatzierten Christian Herrgott (CDU) (33,3%), gegen den er unterlag. In den Wochen zwischen diesen beiden Wahlen gab es zusätzlich Rückenwind, weil endlich in ganz Deutschland die Mitte der Gesellschaft gegen die extreme Rechte aufstand.
Die Relevanz des Wahlkreises für die extreme Rechte
Der Saale-Orla-Kreis ist für die extreme Rechte sehr relevant. Wäre Thrum Landrat geworden, hätte sich AfD-Landeschef Björn Höcke statt diesem dort für ein erfolgversprechendes Direktmandat bei der thüringischen Landtagswahl im September bewerben können. Denn angesichts der hohen Umfragewerte der AfD in Thüringen könnte Höcke ein Luxusproblem bekommen. Die AfD wird Medienberichten zufolge nach aktuellen Umfragen „so viele Direktmandate gewinnen, dass die Landesliste nicht zum Zug kommt, auf der er auf Platz 1 steht. Höcke braucht also einen fremden Landkreis, der ihn als Direktkandidat sicher in den Landtag bringt – denn im Eichsfeld, wo er lebt, hat er zuletzt deutlich gegen einen CDU-Mann verloren.“
Zugleich hat Heinrich XIII. Prinz Reuß seinen Wohnsitz im Wahlkreis, im Jagdschloss Waidmannsheil bei Bad Lobenstein. Als mutmaßlicher Rädelsführer eines gewaltsamen Umsturzversuchs gegen die deutsche Regierung sitzt diese zentrale Person der Reichsbürger unter dringendem Tatverdacht in Untersuchungshaft. Es gibt ein Video von Thrum, das ihn zusammen mit Heinrich XIII. Prinz Reuß an einem Bistrotisch zeigt.
Einige Gründe für die Frustration
Was aber sind wichtige Gründe dafür, dass sich so viel Frust und zugleich Zustimmung für die extreme Rechte aufgebaut hat?
Ein Grund ist sicherlich die für viele vor Ort problematischen Erfahrungen der Wende 1990. Kurz nach der Wende übernahm die sogenannte Treuhandanstalt ehemalige Staatsbetriebe der DDR, um sie nach und nach zu privatisieren oder stillzulegen. In Pößneck kaufte 1991 das Schweinfurter Unternehmen Kugelfischer das Kugellager-Unternehmen ROTASYM von der Treuhandanstalt – nur um es kurze Zeit später zu schließen und einen Wettbewerber los zu sein. Ein schwedischer Investor, der in die Zukunft des Unternehmens investieren wollte, war nicht zum Zug gekommen. Wie sehr der Verlust bis heute schmerzt, verdeutlicht ein Bericht über eine Erinnerungsveranstaltung im September 2022 in Pößneck: „ROTASYM war, neben der bis heute bestehenden Großdruckerei, nicht nur wichtigster Arbeitgeber der Stadt, er war auch Identitätssymbol und hat mit seinen Sozial- und Kultureinrichtungen die Region geprägt.“
Renovierte Fassaden in Pößneck: Das Stadtbild hat sich in den vergangenen Jahren deutlich gewandelt, allerdings verlassen viele junge, gut ausgebildete Menschen die Region.
Foto: C. Bals
Ein weiterer Faktor, der die Stimmung drückt, ist die demografische Entwicklung. Seit 1994 schrumpfte der Saale-Orla-Kreis von 103.000 Menschen auf derzeit etwa 79.000. „In Pößneck allein lebten einige Jahre vor der Wende 20.000 Menschen, heute sind es noch etwa 12.000“, erzählt Karo. Viele junge, zum Teil gut ausgebildete und meist liberal eingestellte Menschen gingen. Die, die blieben, fühlten sich oft im Stich gelassen und zunehmend abgehängt. Plötzlich tauchten 2015 mehr Geflüchtete im Stadtbild auf. Die Zahl der aus dem Ausland Zugewanderten verdoppelte sich in der Region, obwohl sie mit vier Prozent immer noch sehr niedrig ist. Aber Ängste wurden ausgelöst. Das rechte Narrativ vom „großen Bevölkerungsaustausch“ fiel zunehmend auf fruchtbaren Boden.
Der 2022 erschienene Bericht „Saale-Orla, Bürger in Aktion“ macht deutlich, dass sich einige der oben genannten Trends auch in Zukunft fortsetzen werden. Demnach soll die Einwohnerzahl in den nächsten zehn Jahren nochmals „um 11,4 % sinken […], die große Gruppe der Bevölkerung im berufsfähigen Alter um 20 % zurückgehen, […] voraussichtlich 9.300 Menschen weniger für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen“. Der Fachkräftemangel könnte damit weiter zunehmen. Dass vor allem nahe der Landesgrenze Fachkräfte aus der Region ins benachbarte Bayern ziehen, verbessert nicht die Stimmung. Mit einem durchschnittlichen Bruttolohn von 28.084 Euro war der Saale-Orla-Kreis im Jahr 2020 außerdem das Schlusslicht im Niedriglohnland Thüringen und bundesweit auf dem drittletzten Platz.
„Für Zündstoff sorgten auch die Diskussionen um Umstrukturierungen im Krankenhaus in Pößneck – obwohl bislang nur eingekürzt wurde. Großen Protest gab es auch, als in Schleiz 2020 die einzige Geburtsstation des Saale-Orla-Kreises geschlossen wurde“, erinnert sich Karo.
Neue Angst-Räume
Verschiedene Menschen, mit denen wir reden, erzählen von der Schweigespirale angesichts des spürbaren Drucks durch die extreme Rechte. Die Grüne Direktkandidatin Anne Rech berichtete schon 2019 von einem Netzwerk Jugendlicher, das zuerst unter dem Namen „Neue Hitlerjugend“ auftrat. Die Jugendlichen machten demnach regelrecht Jagd auf „ausländisch“ aussehende Menschen. Es gab zudem eingeworfene Scheiben und Parolen an der Hauswand. Nach Aussage von Anne Rech machen sie mittlerweile wohl unter dem Namen „Pößnecker Hooligans“ weiter.
Auch unmittelbar nach der Wahlniederlage von AfD-Kandidat Thrum gab es einen Versuch der Einschüchterung. Vor den Rathäusern Pößneck, Triptis, Krölpa und Neustadt, deren Bürgermeister sich im Landratswahlkampf für den CDU-Kandidaten Herrgott ausgesprochen hatten, wurden über Nacht Misthaufen platziert.
Keine Frage: Wer im Saale-Orla-Kreis Gesicht zeigt, einen offenen Brief unterzeichnet oder gegen die extreme Rechte demonstriert, beweist Rückgrat.
Von der Abwärts- in die Aufwärtsspirale
„Der Ärger über Vergangenes und Heutiges ist verständlich. Aber dann immer diese falsche Abbiegung: Die Ausländer, die Zuwanderer, die Flüchtlinge sind an allem schuld. Obwohl es gerade mal vier Prozent Ausländer hier gibt und es vor 2015 kaum welche gegeben hat“, erzählt uns Steve Richter, der das Café Dittmann in Pößneck betreibt und für die Grünen im Stadtrat sitzt. Wichtig sei doch, voranzugehen.
Christoph und Christiane Bals mit Steve Richter (Mitte). Er sitzt für die Grünen im Stadtrat und betreibt das Café Dittmann in Pößneck.
Foto: C. Bals
„Man kann sich auch in die Abwärtsspirale hineinreden und dabei völlig übersehen, was sich alles verbessert hat. Wie schön hier vieles geworden ist, was zum Ende der DDR runtergekommen war“, sagt Steve Richter. Saniert sind das Gymnasium, ein Museum, zwei Bäder in der Stadt, die Bibliothek.
„Das Schützenhaus ist Kulturzentrum“, ergänzt er. Und: „Jedes Kind bekommt problemlos einen KITA-Platz.“
Auch die Arbeitslosigkeit in der Salle-Orla-Region ist eher gering. Die Arbeitslosenquote sank in den letzten Jahren kontinuierlich und lag im September 2022 laut der Agentur für Arbeit im Bereich Pößneck bei 5,4 % und im Bereich Schleiz/Bad Lobenstein sogar bei 4,2 %. Einziger Schönheitsfehler: Der Anteil der Langzeitarbeitslosen unter dieser geringen Zahl liegt laut der oben angeführten Regionalanalyse mit rund 30 % überdurchschnittlich hoch.
Darüber hinaus ist das Potenzial der Erneuerbaren Energien für Klimaschutz und regionale Wertschöpfung immens.
Blick auf das sanierte Stadtbad in Pößneck.
Foto: C. Bals
„Die Saale-Orla-Region ist mit 249,7 Megawatt installierter elektrischer Leistung einer der größten Erzeuger Erneuerbarer Energien in Thüringen,“ heißt es im Bericht „Saale-Orla, Bürger in Aktion“. Die installierte Leistung stieg allein in den vergangenen zehn Jahren um etwa 65 %. Die Stromerzeugung aus Biomasse, Wind und Photovoltaik ist stark gewachsen. Ebenso die Wärmeenergie aus Biomasse und Solarthermie. Was wäre da möglich, gäbe es endlich ein Klimaschutzkonzept. Laut dem Thüringer Klimaschutzgesetz soll das Bundesland seinen Energiebedarf ab 2040 bilanziell durch einen Mix aus Erneuerbaren Energien aus eigenen Quellen decken. Aber dazu bedarf es einer guten Planung für erneuerbaren Strom und Wärme.
Den Erfolg auf Dauer stellen
Dass die AfD die – als sicher gewonnen geglaubte – Landratswahl im Januar verlor, ist ein wichtiger Erfolg. Aber für viele aus dem links-grünen Spektrum hat er einen bitteren Beigeschmack, da der erfolgreiche CDU-Kandidat Herrgott dem rechten Rand der Union zugeordnet wird. Zugleich war diese Wahl aber zugleich nur der Auftakt in einem wichtigen Wahljahr. Am 26. Mai stehen die Kommunal- und Bürgermeisterwahlen an. Sind Stichwahlen notwendig, finden sie – gemeinsam mit der Europawahl – am 9. Juni statt. Dann erst sieht man, wie die Rathäuser besetzt sind, wo die meisten Entscheidungen vor Ort fallen. Und am 1. September wird dann (auch) in Thüringen der Landtag neu gewählt.
Karo Jobst hofft, dass die Gruppe „Dorfliebe für alle“ weiter Akzente setzt und zeigt, wie Probleme demokratisch, nicht durch Diskriminierung von Minderheiten, gelöst werden. Demnächst setze man sich zusammen und diskutiere Vorschläge, wie Debattenräume entstehen können. Der ganze Landkreis sei vermutlich zu groß, um durch solche Gruppen Veränderungen anzustoßen, aber es gelte, dorfübergreifend konkrete Probleme anzusprechen und dazu passende, wirkungsvolle Lösungen zu finden. Wie können eine aufsuchende Jugendarbeit und wirkungsvolle Demokratieförderprojekte aussehen? Welche Ansätze gibt es, die Gestaltung der Zukunft mit der Wertschöpfung im Landkreis zu verknüpfen? Im März soll es ein erstes Treffen geben. Startbahnhof Pößneck.
Autor:innenChristoph Bals, Christiane Bals |