Wahlkampf jenseits der Talkshows

Weitblick Artikel

Wahlkampf jenseits der Talkshows

Es geht um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands
Karikatur Weitblick zur Bundestagswahl

© Michael Hüter


Der Wahlkampf plätschert vor sich hin. Keiner hat den Mut, die zentralen Fragen zu beantworten, die ganz viele BürgerInnen in Deutschland und der EU umtreiben:

  • Wie sieht eine zukunftsfähige Perspektive für die EU aus? Ohne grundlegend neue Initiativen drohen Europa in diesem Jahrzehnt hohe Arbeitslosigkeit, große regionale und soziale Ungleichheit und Wirtschaftsstagnation.
  • Lässt sich angesichts von globaler Klima-, Ernährungs- und Rohstoffkrise eine Perspektive der Nachhaltigkeit entwickeln und das Friedensprojekt EU angesichts der heute drängenden Herausforderungen erneuern?
  • Menschen suchen in vielen EU-Staaten händeringend nach Arbeit, Kapital sucht nach Investitionsmöglichkeiten. Lässt sich ein Rahmen setzen, der Investitionen ermöglicht und Arbeitsplätze schafft für die notwendige Transformation unseres Energieund Verkehrssystems? Oder konkreter: Wie kann es gelingen, existierende und neu zu kanalisierende Finanzströme so in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu lenken, dass daraus neuer Schwung entsteht?

Ist die neue Bundesregierung in der Lage, diese Herausforderung in Angriff zu nehmen? Bisher werden im Wahlkampf zentrale Zukunftsherausforderungen an den Rand gedrängt.

  • Beispiel EU-Klimapolitik: 
    Die deutsche Regierung ist in den letzten beiden Jahren zunehmend vom Vorreiter zum Bremser geworden. Die notwendige Erhöhung der EU-Klimaziele auf 30 % bis 2020, die Reparatur des EU-Emissionshandels, die Verschärfung der stockenden Energieeffizienzrichtlinie – in allen drei Fällen erwies sich die deutsche Regierung als nicht handlungsfähig. Handlungsfähig war sie aber plötzlich, als es darum ging, den schon besiegelten Kompromiss zwischen Ministerrat und Europaparlament zu verschärften Auto-Grenzwerten zu torpedieren. Wird die neue Bundesregierung ihren Beitrag leisten, die notwendigen Klima- und Energieziele für 2030 auf EU-Ebene durchzusetzen?
  • Beispiel Unternehmen und Menschenrechte: Die EU-Kommission hat die EU-Staaten vor fast zwei Jahren aufgefordert, Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte zu erarbeiten. Diese könnten die Unsitte eindämmen, dass Unternehmen unverträgliche Arbeitsbedingungen, massive Umweltschäden oder Vertreibungen von Menschen in ihren Lieferketten in Kauf nehmen. Großbritannien und die Niederlande haben solche Aktionspläne schon erarbeitet, Spanien und Dänemark entwickeln sie gerade. Hier ist die neue Bundesregierung ebenso gefragt wie dabei, die deutsche Blockade gegenüber der EU-Initiative für mehr soziale und ökologische Transparenz aufzugeben.
  • Beispiel EU-Landwirtschaftspolitik:
    Die im Sommer vereinbarte Reform bindet jetzt zwar die Direktzahlungen für Landwirte – mehr als drei Viertel der Subventionen – an ökologische Kriterien. Doch diese sind so weichgespült, dass sich für die meisten Betriebe kaum etwas ändert. Vor allem aber spielte die EU den Ball den Mitgliedstaaten zu. Diese – also auch Deutschland – können nun entscheiden, ob sie die deutlichen Kürzungen des Topfes, aus dem auch Öko-Betriebe und Umweltmaßnahmen gefördert werden, ausgleichen. Die deutsche Regierung hat es nun in der Hand, ob die Direktzahlungen verstärkt an kleinere Betriebe fließen. Und ob sie die Förderung für Stallneubauten so regelt, dass sie ein Signal gegen die industrielle „Tierproduktion“ setzt.
  • Beispiel Entwicklungsfinanzierung:
    Entwicklungsminister Dirk Niebel hat kürzlich offen angekündigt, das 0,7 %-Ziel für Gelder der Entwicklungszusammenarbeit müsse hinterfragt werden. Er benutzt dabei das Scheinargument, Qualität sei wichtiger als Quantität – als bräuchte Entwicklungspolitik nicht beides. Die neue Bundesregierung sollte das Ziel, dessen Umsetzung und deren Qualität im Blick haben.

Durch die Perspektivlosigkeit, auf diese Probleme zu reagieren, verlieren viele Institutionen in Deutschland und der EU an Legitimität und Handlungsfähigkeit. Viele Akteure sind schwer zu sensibilisieren für die Welt jenseits der Talkshows. Umso mehr ist es die Aufgabe der Zivilgesellschaft, die brennenden Themen auf die Agenda des Wahlkampfes zu setzen.

Legitimität entsteht einerseits durch Wahlen. Andererseits entsteht sie durch öffentliche Debatten, in denen die Argumente aufeinanderprallen. So lassen sich im besten Fall Lernprozesse auf allen Seiten anstoßen, auf dass sich schließlich die besten Argumente durchsetzen.

Viele Medien kommen immer weniger ihrer Aufgabe nach, solche Debatten zu organisieren, Argumente herauszuarbeiten, zu kritisieren. Stattdessen treiben sie eine neue Sau nach der anderen durch das Dorf. Jedes komplexe Argument wird auf Sekundenhäppchen zurechtgestutzt – Bonmots statt politische Substanz. Schaukämpfe statt ernsthafte Debatten. Und wo diese doch mal vorkommen, werden sie als Streit denunziert.

Mut macht hingegen, wie viele Menschen nach intelligenten Antworten auf diese Herausforderungen suchen. Die einen nehmen die Energiewende in Energiegenossenschaften selbst in die Hand. Andere bilden innovative Allianzen von NGOs, Gewerkschaften, Kirchen und Unternehmen, um politische oder gesellschaftliche Blockaden zu brechen. Wieder andere entwickeln Initiativen mit jungen Menschen in Südeuropa, die um ihre Perspektive betrogen werden.

Mut machen auch ParlamentarierInnen, die sich dafür einsetzen, dass die Verursacher der Finanzkrise bzw. des Klimawandels endlich ihren Beitrag zur Lösung der Probleme leisten müssen. PolitikerInnen, die darum ringen, dass die Finanztransaktionssteuer nicht durch Schlupflöcher schrumpft und Erträge für Armutsbekämpfung und Klimaschutz genutzt werden. Oder Abgeordnete, die sich für einen EU-Emissionshandel einsetzen, der durch Verknappung von CO2-Zertifikaten echten Klimaschutz garantiert, gleichzeitig endlich wieder Investitionen antreibt und nach dem Verursacherprinzip auch Geld für Klimaschutz und -anpassung generiert. PolitikerInnen, die sich – trotz aller widrigen Umstände – für eine nachhaltige und handlungsfähige EU, für ein zukunftsfähiges Deutschland einsetzen. Genau diese wählen wir!

Christoph Bals