Deckmantel Bürokratieabbau
Deckmantel Bürokratieabbau
Abbau von Bürokratie klingt erst mal positiv. Was auf bundesdeutscher und europäischer Ebene als Bürokratieabbau schmackhaft gemacht wird, ist eine besorgniserregende Entwicklung: Sie stellt die Kosten für einen Teil der Wirtschaft zunehmend über den gesamtwirtschaftlichen, umweltpolitischen und gesellschaftlichen Nutzen einer staatlichen Maßnahme.
Auf europäischer Ebene führte die EU-Kommission Anfang der 2000er Jahre – zunächst auf Druck von Verbänden der Tabakindustrie – sogenannte Folgenabschätzungen ein, die die wirtschaftlichen, aber auch die sozialen und ökologischen Auswirkungen einer neuen Gesetzgebung beziffern mussten. Zunehmend sollten damit aber nicht nur der Verwaltungsaufwand einer Maßnahme begrenzt, sondern die monetären Kosten einer Maßnahme für die betroffenen Unternehmen gesenkt werden. Diesen Fokus baute die jetzige Kommission unter Präsident Jean-Claude Junker mit der im Mai 2015 gestarteten Initiative für eine sogenannte „bessere Rechtsetzung“ weiter aus. Die EU-Kommission hat zum Beispiel die gesamte EU-Kreislaufwirtschaftsrahmensetzung unter dem Vorwand der „besseren Rechtsetzung“ abgeschwächt, indem sie die Reduktionsziele im Gesetzentwurf der letzten Kommission deutlich abgeschwächt hat. Der neue Entwurf setzt stark auf Prüfaufträge, die die Umsetzung verschleppen. Die Konsequenz: mehr Bürokratie im Gesetzgebungsverfahren, einige vielversprechende Maßnahmen drohen, letztlich als wirkungslose Ankündigung zu enden. Plötzlich heißt dann Bürokratieabbau auf das ursprüngliche Ziel eines nachhaltigen Managements unserer natürlichen Ressourcen in wichtigen Teilen zu verzichten. Zudem erwägte die Kommission letztes Jahr, das EU-Ökolabel – eine Orientierungshilfe für Kaufentscheidungen – ohne Befragung der involvierten Akteure für einige Produktgruppen abzuschaffen. Unternehmen könnten dann durch eigene Label, insbesondere in EU-Ländern wo es keine nationalen Siegel gibt, VerbraucherInnen in die Irre führen.
In Deutschland geht die Entwicklung in gewisser Hinsicht noch weiter. So müssen seit 2006 Bürokratiekosten neuer Gesetzesvorhaben angegeben werden und seit 2011 im Rahmen von Gesetzesfolgenabschätzungen auch der dadurch entstehende Aufwand für Unternehmen, BürgerInnen und Verwaltung. Gleichzeitig wird dem im Einzelfall nicht der Nutzen des Gesetzes für BürgerInnen und Umwelt gegenübergestellt. Im März 2015 führte die Bundesregierung zudem die besonders problematische „One in, one out”-Regel ein: Sie besagt, dass bei neuen finanziellen Belastungen für Unternehmen innerhalb eines Jahres Belastungen in gleicher Höhe abgebaut werden müssen. Diese Regel ist aus der Sicht des Gemeinwohls nicht nachzuvollziehen, da nicht abgewogen wird, welcher Nutzen für Gesundheit und Umwelt, für Haushalte und Verwaltung durch eine neue Regulierung entsteht. Gesetze und Instrumente zum Schutz von Gemeinwohl und Umwelt geraten durch diese Entwicklungen sowohl auf deutscher wie auch auf europäischer Ebene zunehmend unter Druck, etwa die Begrenzung des Schadstoffausstoßes durch die Automobilindustrie sowie die Regelungen zu krebserregenden Substanzen am Arbeitsplatz. Das birgt eine große Gefahr: Der Staat schützt nicht mehr in erster Linie das Gemeinwohl, sondern die Unternehmen. Natürlich muss auch der Wirtschaft Raum zum Atmen bleiben, aber eben nicht auf Kosten von sozialen und ökologischen Belangen.
Julia Otten & Johanna Sydow