Mehr als eine mathematische Formel
Mehr als eine mathematische Formel
Kleinteilige Verhandlungen über Klimafinanzierung, Technologiemechanismen, wissenschaftliche Überprüfungen – die Klimaverhandlungen der Vereinten Nationen wurden im Laufe der Jahre immer technischer. Aus Sicht der internationalen NGOs ist und bleibt der Klimawandel jedoch vor allem eine moralische Frage. Die Industrieländer tragen bislang die Hauptverantwortung für die heute spürbaren Auswirkungen des Klimawandels. Allerdings trifft die klassische Aufteilung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern nicht länger zu. So findet der diesjährige Klimagipfel in Katar in einem „Entwicklungsland“ statt, das pro Kopf die höchsten Emissionen der Welt hat. Drei Fünftel der Emissionen stammen heute aus Schwellen- und Entwicklungsländern. Was aber nach wie vor stimmt: Die Armen – vor allem in Entwicklungsländern – sind die Hauptbetroffenen, obwohl sie zum Klimawandel kaum beigetragen haben. Den alten und neuen Ungerechtigkeiten im Klimasystem muss die internationale Klimapolitik entgegentreten.
Industrieländer dürfen sich aufgrund ihrer historischen und heutigen Verantwortung und größeren Handlungsfähigkeit nicht davor drücken, ihre Emissionen drastisch zu reduzieren und Entwicklungsländer finanziell, mit Technologie und Capacity Building (Weiterbildung und Kompetenzentwicklung) bei Klima- sowie Regenwaldschutz und Anpassung zu unterstützen.
Ein zukunftsfähiges Gerechtigkeitsverständnis muss aber auch berücksichtigen, dass die Verantwortung insbesondere der Schwellenländer stetig wächst. Ohne mehr Klimaschutz dort ist die Überlebensperspektive der verletzlichsten Menschen und Länder düster. Dynamik wird aber vor allem daraus erwachsen, wenn viele der ärmeren Staaten an den Chancen einer globalen Transformation in Richtung emissionsarmer Entwicklungspfade ernsthaft teilhaben.
Für Indien, seit Anbeginn der Verhandlungen ein Verfechter der Gerechtigkeit, stand die Gerechtigkeitsfrage – oder genauer: gerechter Zugang zu nachhaltiger Entwicklung – beim Klimagipfel letztes Jahr in Durban wieder im Vordergrund. Zunächst forderte Indien einen Workshop zur Gerechtigkeitsfrage ein, der im Mai dieses Jahres als Startpunkt der neuen Diskussion sicherlich einen Beitrag zum Verständnis der verhandelnden Länder untereinander leisten konnte. Wichtiger jedoch: In der letzten Verhandlungsnacht von Durban standen sich Indien mit der Gerechtigkeitsfrage und die EU mit dem Wunsch nach rechtlicher Verbindlichkeit eines neuen Abkommens gegenüber. Ein Kompromiss konnte früh morgens gefunden werden und so verhandeln wir nun bis 2015 ein neues rechtsverbindliches Abkommen.
Die Gerechtigkeitsfrage lebt bei den Klimaverhandlungen somit wieder auf – nicht nur bei den Reduktionszielen sondern auch bei Anpassung, Klimafinanzierung, Technologieaustausch und Capacity Building. Klar ist: Ohne Gerechtigkeit wird es kein neues Klimaabkommen geben – allerdings auch keine globale Gerechtigkeit ohne Klimaabkommen.
Die große Frage für Doha und darüber hinaus ist daher: Wie lässt sich Gerechtigkeit operationalisieren? Über eine einzige mathematische Formel zur Verteilung von Emissionsminderungen oder Klimafinanzierungspflichten, wie von manchen diskutiert, sicher nicht.
Rixa Schwarz