Die Stärken einer wachen Zivilgesellschaft ausspielen
Die Stärken einer wachen Zivilgesellschaft ausspielen
Illustration: Michael Hüter; zur Großansicht: siehe Link unter dem Artikel
Nach dem Ende der letzten Eiszeit pendelte sich vor 11.000 Jahren erstmals in der Geschichte des Menschen ein paradiesisch stabiles Klima ein, das Holozän. So stabil, dass innerhalb kurzer Zeit auf verschiedenen Kontinenten die Landwirtschaft entstand. Alle menschliche Hochkultur entwickelte sich seitdem. Alle Ökosysteme auf dem Planeten sind entweder an diese – relativ warmen – 11.000 Jahre angepasst, oder an die kälteren Eiszeiten zuvor. Jetzt ist die globale Überhitzung so weit fortgeschritten, dass wir außerhalb der Schwankungsbreite des Holozäns sind. Alles, was jetzt an Temperaturanstieg kommt, ist ein unkontrolliertes Großexperiment mit Mensch und ökologischer Mitwelt.
Wissenschaftler_innen werden nervös, weil wir bei ungebremstem Klimawandel in absehbarer Zeit auf Kipp-Punkte zusteuern, durch die sich der Temperaturanstieg selbst verstärkt: Wenn das Eis in der Arktis und Antarktis zunehmend schmilzt und dunkle Flächen weniger Sonnenenergie reflektieren, wenn der Amazonas Regenwald durch das Zusammenspiel von Abholzung und Klimawandel zur Steppe wird, wenn der auftauende Permafrostboden in Sibirien oder Kanada große Mengen des starken Treibhausgases Methan freisetzt.
Jugendliche sind beunruhigt, weil sie sehen, wie ihre Zukunft aufs Spiel gesetzt wird; Küstenbewohner_innen, wenn sie hören, dass der Meeresspiegel bis 2100 um einen Meter oder sogar deutlich mehr steigen könnte; Finanzmarktakteur_innen, weil sie wegen ihres systemisch kurzfristigen Horizontes nicht in der Lage sind, die Klimarisiken einzupreisen und dies – ganz nebenbei – einen nächsten großen Finanzcrash verursachen könnte; Sicherheitsexpert_innen, weil neue humanitäre Großrisiken auftauchen.
Panik oder zumindest Nervosität sind gut, um wach zu werden, aber nicht als Grundlage zum Handeln. In Panik reagieren wir nur mit den drei im Rückenmark verankerten Grundreflexen: Flucht, Totstellen, Angriff. Panikreaktionen helfen uns bei der Lösung komplexer Aufgaben meist nicht weiter. Doch wir haben die Chance, einen Schritt zurückzutreten und die ganze rationale und emotionale Kapazität unseres Großhirns zu nutzen, um die Chancen einer angemessenen, überlegten Reaktion zu erhöhen.
Zentral ist hierbei die Rolle der Zivilgesellschaft. Sie ist – Fridays for Future zeigt das einmal mehr – die große, sich selbst erneuernde Energiequelle für Veränderungen. Wenn alle, die bislang gemütlich auf ihrer Couch die Welt kritisiert haben, jetzt in verschiedenen Rollen handeln, kann dieser Aufbruch weit tragen. Es gibt drei zentrale Aufgaben der Zivilgesellschaft:
- Den Druck zu erhöhen und die Parlamente und Regierungen in Berlin und Brüssel protestierend zu „belagern“. Die Politik beginnt bereits auf den derzeitigen Protest durch Fridays for Future und Andere zu reagieren – aber noch gemäß der lange eingeübten Kunst, das möglich Erscheinende anzupeilen, statt in der hohen Kunst der Politik, das Notwendige möglich zu machen. Am 29. November gibt es die nächsten Großdemonstrationen und für uns alle die Gelegenheit, den Druck sichtbar zu machen.
- Als Lots_innen den zusätzlichen Handlungsspielraum zu nutzen, um die notwendigen Veränderungen in Logik und Programme wichtiger Teilsysteme der Gesellschaft einzuführen. Hier liegt die zentrale Rolle von Germanwatch. Dazu gehört unter anderem, die Programmentwicklung der demokratischen Parteien zu unterstützen. Das heißt etwa: Die sozialen Fragen so anzugehen, dass sie neue geo-soziale Fragen der eskalierenden Klimakrise integrieren; die Heimat gerade auch durch Eindämmung der Klimakrise zu schützen; den Handlungsspielraum der künftigen Generationen und damit einer freiheitlichen Gesellschaft nicht massiv einzuschränken; daran zu arbeiten, den Kompass der gesellschaftlichen Entwicklung – bislang das
Bruttoinlandsprodukt – neu zu justieren; die Debatte um einen neuen Sicherheitsbegriff voranzubringen, in dessen Zentrum die Abwendung absehbarer humanitärer Katastrophen steht; die Umsetzung des Pariser Abkommens als handlungsleitendes Prinzip in allen Handelsverträgen zu verankern; mit Unternehmen ihre neuen Geschäftsmodelle und dafür notwendige Rahmenbedingungen voranzubringen; Rahmensetzungen anzuschieben, um die „Tragödie des kurzfristigen Horizonts” des Finanzmarktes zu überwinden (siehe Artikel auf Seite IV). - Als Vernetzer_innen in allen Strukturen der Gesellschaft, den Umwelt- und Entwicklungsverbänden, Religionsgemeinschaften und Gewerkschaften, kulturellen Institutionen bis hin zu Sport- und Kulturvereinen die Unterstützung der notwendigen Transformation mit zu verankern.
Eine aktive Zivilgesellschaft wird sich auf die nationale und internationale Klimapolitik auswirken. Deutschland hat durch weltweite Zusammenarbeit und bilaterale Kooperation die Chance, in den nächsten Jahren die letzte Schlacht der fossilen Lobby, die derzeit etwa von den Regierungen in den USA, Brasilien, Mexiko und Australien vorangetrieben wird, abzuwehren und Pfadabhängigkeiten für die notwendige Transformation ins klimaneutrale Zeitalter zu schaffen:
Über eine Million Menschen waren allein in Deutschland
im September auf den Straßen, um für Klimaschutz
und effektive Klimapolitik zu demonstrieren.
- Noch decken Erneuerbare Energien weltweit nur 2,8 Prozent der gesamten Energienachfrage (beim Strom ist es deutlich mehr). Doch alle 5,5 Jahre verdoppelt sich der Anteil der Erneuerbaren Energien. Sollte sich diese Kurve so fortsetzen, könnte im Jahr 2045 die gesamte Energienachfrage weltweit erneuerbar gestillt sein.
- Indien hat in den letzten fünf Jahren die Hälfte des globalen Emissionswachstums produziert. Aber der Subkontinent bietet mit seinem extrem niedrigen Pro-Kopf-Ausstoß, boomenden Erneuerbaren Energien und Kohle unter ökonomischem Druck viele Chancen für die Energie- und Verkehrswende. Germanwatch begleitet intensiv die entsprechenden Gespräche über eine Transformationskooperation zwischen Deutschland und Indien (siehe Artikel auf Seite II).
- Die neue EU-Kommission prüft, die Klimaklauseln in den Handelsverträgen mit Zähnen auszustatten. Die Debatte mit Brasilien um Regenwald und Menschenrechte müsste hier der erste Testfall werden.
Die Beispiele zeigen, dass wir in „unnormalen“ politischen Zeiten leben, in denen politisch nicht nur kleine Schritte möglich sind. Unsere Schritte können eine ganz neue Reichweite erzielen. Das Engagement Einzelner kann dabei einen Unterschied machen wie sonst selten. Der Klimastreik einer schwedischen Teenagerin kann eine weltweite Bewegung lostreten. Es ist Zeit, die Stärken einer wachen Zivilgesellschaft auszuspielen.
Christoph Bals