Handeln statt predigen
Handeln statt predigen
Es gibt sie, diese Momente, in denen Politik flüssig wird. In denen Kontinuität im Denken und Handeln durchbrochen und Neuanfänge möglich werden. Scheinbar unverrückbare Positionen verändern sich über Nacht. Jahrzehntelange Arbeit der Zivilgesellschaft bricht sich Bahn. In der deutschen Energiepolitik erleben wir derzeit einen solchen Moment. In wenigen Wochen werden wir wohl wissen, ob dieser Moment genutzt wurde – hin zum Ausstieg aus den Risikotechnologien Kernkraft und Kohle, hin zum massiven Ausbau von Energieeffizienz und Erneuerbaren Energien.
Seit Beginn der Industrialisierung, seit Einsatz der Dampfmaschine, baute sich der Wohlstand und die weltweite Dominanz der Industrieländer auf fossilen Energieträgern und später auch Kernkraft auf. Ob in China, Indien, Südafrika oder den USA: überall richten sich jetzt die Augen vieler Experten auf Deutschland. Ist ein Wohlstandsmodell denkbar, das nicht von den Risikoenergieträgern Kohle und Kernkraft angetrieben wird? Kann der Umbau des Energiesystems einer Industriegesellschaft relativ reibungslos gelingen? In den Schwellenländern wachsen derzeit Energieverbrauch und CO2-Emissionen enorm. Die Vorteile der Energiewende zu predigen, überzeugt dort nicht – solange Industrieländer nicht beherzt zeigen, dass dieser Weg tatsächlich möglich ist. Deutschland, immer noch eines der führenden Industrieländer weltweit, hat jetzt die Chance, diesen Nachweis anzutreten.
Zentral für die Menschen in Deutschland und die Regierungen weltweit ist nicht nur, dass der Umbau des Energiesystems gelingt, sondern auch wie er gelingt:
- Kosten: Repräsentative Umfragen zeigen erfreulicherweise, dass eine Mehrheit der Deutschen, sogar der Geringverdiener, vorübergehend höhere Strompreise für den Umbau hin zu Erneuerbaren Energien akzeptiert. Andererseits ist die Zahlungsbereitschaft begrenzt. Die doppelte Herausforderung liegt darin, dass wir höhere Energiepreise brauchen, um Anreize für verringerten Verbrauch zu setzen, und dies so gestalten müssen, dass sich daraus keine neue soziale Frage entzündet. Gerade bei der Energieeffizienz, wo sich Kosten für die Bürger besonders gut einsparen lassen, geht es in der EU und Deutschland am langsamsten voran.
- Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit: Bahnt der Umbau hin zu Energie- und Rohstoffeffizienz sowie zu Erneuerbaren Energien den Weg zu neuen, nachhaltigen Arbeitsplätzen? Bleibt die Industrie wettbewerbsfähig? An diesem Ergebnis wird die internationale Ausstrahlungskraft der deutschen Energiewende maßgeblich gemessen werden.
- Sichere Stromversorgung: Ist eine sichere Stromversorgung – ohne Angst vor Blackouts – durch die fluktuierenden Erneuerbaren Energien leistbar? Technisch ist das im Prinzip kein Problem. Hierzu bedarf es eines intelligenten Nachfragemanagements sowie des massiven Ausbaus von Speichern und Stromnetzen. Repräsentative Umfragen zeigen: Die Deutschen sind dazu bereit, aber sie wollen frühzeitig an den Planungen beteiligt werden.
- Energiesicherheit: Die Leitstudie 2010 des Bundesumweltministeriums rechnet vor, dass wir unsere Energieimporte durch den Ausbau von Energieeffizienz und Erneuerbaren Energien um 60 Prozent im Jahr 2050 reduzieren können. Damit verringern wir unsere (Energie-)Abhängigkeit von Staaten wie Russland oder Saudi-Arabien massiv und stärken unsere Energiesicherheit.
- EU-weites Konzept: Nur wenn Deutschland sich in der EU dafür stark macht, kann es gelingen, dass die EU – wie international erwartet – ihr CO2-Reduktionsziel von 20 auf 30 Prozent bis 2020 gegenüber 1990 anhebt. Dies wäre das richtige Signal für den Ausbau der Erneuerbaren Energien, der Energieeffizienz und den internationalen Klimaschutz. Doch der deutsche Wirtschaftsminister Brüderle verhindert, dass Deutschland hier mit einer Stimme spricht – ebenso wie er notwendige Schritte für ein verbindliches 20-Prozent-Ziel bei der EU-Energieeffizienz bis 2020 blockiert.
Unerlässlich ist, dass die Bürgerinnen und Bürger nun gegenüber Politik und Wirtschaft zeigen, dass sie bereit sind zur Energiewende. Jetzt ist die Zeit, dies bei Demonstrationen oder Internetaktionen zu zeigen. Beim Kauf von Produkten – und natürlich bei der Wahl des Stromversorgers.
Christoph Bals, Jan Burck
Höchste Zeit für den Ausstieg
Die großen Krisen um Umbrüche des letzten Jahrzehnts waren auf die eine oder andere Weise über Engpässe mit der Krise des durch fossile Energieträger und Kernkraft befeuerten Energiesystems verwoben.
Das Zeitalter des billigen Öls geht zu Ende
- Die bisher höchsten Ölpreise – Mitte 2008 – waren einer der Auslöser der weltweiten Nahrungsmittelkrise der Jahre 2008/2009. Unter anderem durch die größere Rolle von Agrosprit folgen die Nahrungsmittelpreise den Schwankungen des Ölpreises. Die Ernährungskrise trieb etwa 200 Millionen Menschen zusätzlich in den Hunger.
- Die schnell steigenden Ölpreise haben 2008 auch dazu beigetragen, dass viele Hausbesitzer in den USA ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten und die Finanzkrise begann.
- Je teurer das Öl, desto riskanter die Abbaumethoden. Dies war zentrale Ursache der Ölkatastrophe der „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko (2010).
- Die Umbrüche in den Ländern des Mittelmeerraums und Arabiens zeigen: Das für die Industrieländer so bequeme Tauschgeschäft – günstiges Öl und Gas gegen Stützung korrupter Diktaturen – ist vorbei. Heute werden Menschen in arabischen Ländern mit Waffen niedergeschossen, die mit Ölmillliarden gekauft wurden. Die Aktivitäten von Al-Kaida – auch der 11.9.2001 – wären ohne das Geld aus Saudi-Arabien nicht möglich gewesen.
Kohle treibt die Risiken des Klimawandels
- Der Einsatz der Kohle steigt weltweit, allen voran in den Schwellenländern China und Indien. Dabei setzt kein anderer Energieträger pro Kilowattstunde so viel CO2 frei. Ohne Klimawandel hätten Wetterkatastrophen wie die extrem ungewöhnliche Hitzewelle mit Wald- und Torfbränden in Russland sowie die gigantische Überflutung in Pakistan sehr wahrscheinlich nicht stattgefunden. Die ungewöhnliche Vielzahl der Wetterkatastrophen im vergangenen Jahr ist zugleich eine treibende Kraft hinter Finanzmarktspekulationen und dem neuen Anstieg der Nahrungsmittelpreise im Jahr 2011.
Das Experiment Kernenergie ist gescheitert
- Fukushima hat den Eindruck zerstört, in hoch industrialisierten Industrieländern könne es keine schweren Atomkraftunfälle geben.
- Die internationalen Krisen um Nord-Korea, Iran oder Pakistan zeigen, wie leicht die vermeintlich friedliche Technologie zu Waffenzwecken genutzt werden kann.
- Weltweit ist die Endlagerungsfrage von Material mit 24.000 Jahren Halbwertzeit ungeklärt.