Veränderung trotz Stillstand
Veränderung trotz Stillstand
Seit der Totalblockade der Verhandlungen der Doha-Runde 2008 ist es um die Welthandelsorganisation WTO ruhig geworden. Trotzdem gingen im Frühjahr dieses Jahres insgesamt neun KandidatInnen ins Rennen um die Nachfolge des nach zwei Amtszeiten ausscheidenden Franzosen Pascal Lamy. Die Generaldirektoren des GATT-Sekretariats, der Vorläuferorganisation der WTO, waren alle Europäer. Und auch die 1995 gegründete WTO wurde fast immer von Männern aus Industriestaaten geführt. Diesmal kamen die meisten KandidatInnen aus Schwellen- und Entwicklungsländern. Schließlich setzte sich der brasilianische WTO-Botschafter Roberto Azevêdo durch. Seine Nominierung symbolisiert die veränderten politischen Gewichte im Welthandelssystem und möglicherweise eine leichte ideologische Verschiebung.
Azevêdo und sein Heimatland Brasilien vertreten bislang einen handelspolitischen Ansatz, der im Rahmen einer durchaus angestrebten Liberalisierungsagenda stärker auf die Interessen armer Bevölkerungsgruppen und den Aufbau neuer Wirtschaftszweige achten will. Das schließt durchaus ein, einzelne Sektoren zeitweise von der Liberalisierung auszunehmen und in Ausnahmefällen den Schutz sogar anzuheben. Deshalb kann Brasilien in der WTO gemeinsame Positionen mit Ländern wie Indien und Indonesien entwickeln, die ihre überwiegend kleinbäuerliche Landwirtschaft schützen und unterstützen wollen. Damit wurden Brasilien und Indien zu den führenden Kräften der Gruppe der 20 in der WTO, die in den Agrarverhandlungen den stärksten Gegenpol vor allem zu den USA bildete. In der WTO-G20 sind, anders als bei der G20-Gruppe der größten Volkswirtschaften, nur Schwellen- und Entwicklungsländer vertreten.
USA, EU und Japan hatten zusammen mit den meisten anderen Industriestaaten zuletzt für den verbleibenden Gegenkandidaten, den ehemaligen mexikanischen Handelsminister Blanco votiert, der eine klassischere Freihandelsposition vertritt. Noch vor zehn Jahren wäre er so auf den Posten des Generaldirektors gekommen. Doch inzwischen können sich die Industrieländer – von vielen als „newly decreasing countries“ wahrgenommen – nicht mehr einfach gegen die Schwellen- und Entwicklungsländer durchsetzen. Der schwache Widerstand der Industriestaaten lag sicher auch daran, dass niemand mit einer baldigen Bewegung in den Doha-Verhandlungen rechnet. Lamy wird bis zum Ende seiner Amtszeit im September noch versuchen, eine Einigung bei wenigen Themen für die Ministerkonferenz in Bali im September vorzubereiten. Die USA signalisierten jedoch, dass sie Forderungen der Entwicklungsländer für mehr Fördermöglichkeiten kleinbäuerlicher Landwirtschaft ablehnen. Auch beim Abbau administrativer Handelshemmnisse zeigen sich noch viele praktische Hürden. Lamy, der in den letzten Jahren immer wieder unbegründeten Optimismus bezüglich einer Einigung verbreitet hatte, äußerte jüngst, dass es bei der Vorbereitung der Bali-Konferenz bis jetzt zwar viel Aktivität, aber wenig Fortschritte gegeben hat.
Die Wahl Azevêdos unterstreicht das wachsende Gewicht der Schwellenländer in der internationalen Wirtschaftspolitik. Dass deshalb die Industriestaaten zu neuen Kompromisslinien bereit sind, ist dennoch nicht bald zu erwarten. Die Wahl Azevêdos war aber ein kleiner Schritt in diese Richtung.
Tobias Reichert