Neue Welt. Schöne Welt?

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Neue Welt. Schöne Welt?

Der Erdgipfel in Rio als Chance für einen Paradigmenwechsel

Karikatur zu Rio+20; Copyright: Michael Hüter

Wir erleben derzeit den größten geopolitischen Umbruch seit 1990. Die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer G20 sticht die Gruppe der acht wichtigsten Industrienationen G8 an Bedeutung aus. Neue Weltmächte wie China, Indien und Brasilien sind die Motoren der Weltwirtschaft. Die Industrieländer sind inzwischen weit stärker verschuldet als diese Schwellenländer. In China, das gewaltige Devisenreserven angehäuft hat, wird darüber diskutiert, wie sich der „Niedergang des Westens” bremsen lässt. Auch die CO2- Emissionen der bisherigen Gruppe der Entwicklungsländer haben die der Industrieländer überholt. Dabei sind die Emissionen pro Kopf in Deutschland immer noch etwa doppelt so hoch wie in China und sechsmal so hoch wie in Indien. Die Entwicklung der Schwellenländer führt uns deutlich vor Augen, wie wenig zukunftsfähig unsere eigene Wirtschafts- und Lebensform ist. Zugleich öffnet sich die Kluft zwischen Arm und Reich in fast allen Gesellschaften immer weiter. Laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) befinden sich 80 Prozent des gesamten Weltvermögens im Besitz von nur einem Viertel der globalen Bevölkerung. Dies und die Finanzkrise zeigen, wie sehr das derzeitige Finanzsystem mit Steueroasen und dem Großteil des Geldes in spekulativen Kreisläufen und Blasen, eine sozial und ökologisch zukunftsfähige Entwicklung behindert.

Die explodierende Nachfrage nach Rohstoffen – pro Kopf sind die Industrieländer immer noch deutlich führend – hat Konsequenzen: Der hohe Ölpreis hat im letzten Jahrzehnt nicht nur Erneuerbare Energien begünstigt, sondern weitaus stärker weltweit zum Neubau von Kohlekraftwerken geführt, da der Preis der Kohle weniger stark anstieg. Zwischen Investoren aus Industrie- und Schwellenländern setzte zudem ein Wettlauf um Land in den ärmsten Ländern ein. Sie kaufen oder pachten für Jahrzehnte große Flächen zur Agrarproduktion.

China verwandelt sich – und indirekt die Welt – in einem atemberaubenden Tempo. Es wird erwartet, dass dort in den kommenden Jahren weitere 300 Millionen Menschen – das entspricht der Einwohnerzahl der USA – vom Land in die Städte wandern. Japan, neben Frankreich der Hort der Atomenergie, hat Anfang Mai 2012, zumindest vorübergehend, das letzte Atomkraftwerk vom Netz genommen. In Deutschland wurde eine weitreichende Energiewende beschlossen. Die Welt befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Wandel. Doch wohin führt dieser? In den nächsten Jahren entscheidet sich, ob Ressourcenverbrauch und Emissionen mit „Volldampf voraus” über die ökologischen Grenzen unseres Erdsystems hinaus schießen, oder ob sich Leitplanken für den Weg zu einem langfristig tragfähigen Wohlstandsmodell etablieren lassen. Kann es gelingen, im Wettkampf um die verbleibenden Ressourcen die Stärke des Rechts statt das Recht des Stärkeren durchzusetzen?

Rio als Wegmarke

Der anstehende Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in Rio ist eine Wegmarke bei dieser Richtungsentscheidung. Es wäre ein Missverständnis, ihn Klimagipfel zu nennen. Themen wie Ernährungs- und Wassersicherheit stehen genauso auf der Agenda wie die UN-Initiative „Nachhaltige Energie für Alle”. Nicht zuletzt wird diskutiert, ob das Umweltprogramm der UN zu einer schlagkräftigeren Organisation umgebaut werden kann, die zukunftsfähigen Entwicklungspfaden den notwendigen Schub gibt.

Die deutsche Bundeskanzlerin fährt zwar zum G20-Gipfel – aber nicht zum Erdgipfel nach Rio. Sie will in einem Gespräch mit ihrer brasilianischen Kollegin beim G20-Gipfel ihre Unterstützung für den Erfolg des Rio-Gipfels zusichern. Ihre Absage aber ist eine kalte Dusche für die Erfolgsaussichten von Rio20+.

Dabei gibt es durchaus Anzeichen, dass immer mehr Regierungen die Chancen erkennen, die in einer klimafreundlichen und zukunftsfähigen Entwicklung liegen; dass Energie- und Rohstoffeffizienz sowie Erneuerbare Energien für Zukunftspotenziale und nicht für Armut stehen. Kann Rio ein wichtiger Meilenstein bei diesem Paradigmenwechsel sein? Kann der Gipfel gesellschaftliche Suchprozesse auf dem Weg zu einer „Green and Fair Economy” anstoßen? Was muss schrumpfen, was wachsen? Es wäre fatal, wenn wir mit der Green Economy einem „Weiter so” nur ein grünes Mäntelchen umhängen.

Von Durban nach Rio?

Der Klimagipfel von Durban im Dezember 2011 zeigte, dass die ärmsten Länder mit relativ progressiven Industrieländern Allianzen aufbauen können, die Industrie- und Schwellenländer dazu zwingen, ihre Interessen nicht einfach zu ignorieren. Im Jahr 2015 soll es ein neues globales Klimaabkommen geben, 2020 soll es weltweit in Kraft treten. Dieser Verhandlungsprozess muss die neuen Realitäten, von der Bedeutung und Finanzkraft der Staaten bis hin zu den Emissionen, zur Kenntnis nehmen, ohne die historische Verantwortung auszublenden. Gelingt es, diesen Druck auch in Rio aufzubauen?

Ausreichende Dynamik gibt es jedenfalls nur, wenn das Verhandeln durch Handeln ergänzt wird. Genau hier liegt die weltweite Bedeutung der deutschen Energiewende. Gelingt dieses Großexperiment in einem bisher von Kohle und Kernkraft abhängigen Industrieland, stärkt sie das Vertrauen in die Vereinbarkeit von Wohlstand und Zukunftsfähigkeit und gibt damit wichtige Impulse für viele andere Länder.

 

Christoph Bals und Sven Harmeling

(Karikatur: Michael Hüter; Quelle: Evangelischer Entwicklungsdienst e.V./Brot für die Welt (2011): Rio+20. Ein kleines Begriffslexikon.)