Blogpost | 26.11.2021

Die Chance für einen Aufbruch zur sozial-ökologischen Transformation

Erste umfassende Germanwatch-Analyse des Koalitionsvertrages
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Der Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP formuliert einen Anspruch, der Hoffnung macht: Den Stillstand vergangener Jahre überwinden, mit mutiger Politik den Umgang mit globalen Umbrüchen und Krisen gestalten und dabei, wie es an mehreren Stellen im Vertrag heißt, die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (SDG) zur Richtschnur der Politik machen. Insbesondere die Bekämpfung der Klimakrise rückt ins Zentrum der Politik. Die Messlatte formulieren die Ampelparteien selbst:

„Wir werden national, in Europa und international unsere Klima-, Energie- und Wirtschaftspolitik auf den 1,5-Grad-Pfad ausrichten.“

Aber auch die Eindämmung der Biodiversitätskrise und der Schutz der Menschenrechte werden deutlich stärker betont als bei den Vorgängerregierungen.

Damit macht der Koalitionsvertrag einen echten Aufbruch zur erforderlichen sozial-ökologischen Transformation möglich – aber er garantiert ihn nicht. An einigen Stellen ist konkret formuliert, wie die ambitionierten Ziele erreicht werden sollen, doch an vielen anderen bleibt der Koalitionsvertrag vage. Noch sind die notwendigen Instrumente nicht alle benannt, um Deutschland tatsächlich auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen und in zentralen Politikbereichen die sozial-ökologische Wende einzuleiten. Es wird in den nächsten vier Jahren darauf ankommen, die vielversprechenden Ansätze mit Leben zu füllen und einige Leerstellen zu schließen. 

Entscheidend ist, dass die neue Regierung Versprochenes tatsächlich rasch umsetzt. Das Sofortprogramm für den Klimaschutz, das Deutschland endlich auf den Pfad der Zielerreichung bringen soll, muss noch 2022 im Gesetzesblatt stehen. Das wird nur passieren, wenn der Koalitionsvertrag Beginn eines gemeinsamen sozial-ökologisch-digitalen Reformprojekts ist, anstatt, dass ideologische Kämpfe um jeden Reformschritt das Handeln der Regierung blockieren. Vieles, was im Koalitionsvertrag vage angedeutet wird, muss nun von mutigen Minister:innen ausgestaltet und umgesetzt werden. Die erforderlichen Mittel für öffentliche Zukunftsinvestitionen müssen tatsächlich bereitgestellt werden – nur wenn das gelingt, wird die Ampel Erfolg haben.

Klar ist: Es bedarf des Drucks großer, engagierter Teile der Gesellschaft, damit das Potential für einen echten Aufbruch, das im Koalitionsvertrag steckt, auch genutzt wird. Worauf es dabei besonders ankommt, beleuchten wir im Folgenden schlaglichtartig für Bereiche, zu denen Germanwatch intensiv arbeitet. Zu vielen dieser Themen stellen wir umfassendere Analysen auf unserer Themenseite zur Bundestagswahl 2021 zur Verfügung.


Weichenstellung für den 1,5-Grad-Pfad?


Weichenstellungen für die sozial-ökologische Transformation?



Weichenstellung für den 1,5-Grad-Pfad?
 

Der Weg auf den 1,5-Grad Pfad

Die Ampelkoalition hat gemeinsam das Ziel formuliert, Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen, das heißt, dass Deutschland seinen angemessenen Beitrag dazu leisten soll, dass die globalen Emissionen nicht das Budget übersteigen, das noch zur Verfügung steht, wenn der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur bei 1,5° C gestoppt werden soll. Nach allen Berechnungen zu einem angemessenen Beitrag Deutschlands ist klar: Die Maßnahmen in diesem Koalitionsvertrag alleine reichen noch nicht aus, um Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen. Aber: Der Vertrag macht es möglich, dass Deutschland auf diesen Pfad kommt.

Drei Schritte müssen hierzu ineinandergreifen – an ihnen wird die klimapolitische Glaubwürdigkeit der Regierung gemessen werden: Erstens muss das vereinbarte Klimaschutz-Sofortprogramm tatsächlich bis Ende 2022 im Gesetzblatt stehen und insbesondere der Schnellstart beim Ausbau der Erneuerbaren Energien gelingen. Zweitens muss Deutschland sich international mehr engagieren, um gemeinsam mit Partnerländern dort die Emissionen zu senken. Die im Koalitionsvertrag verankerten Klima-Partnerschaften sind dafür ein wichtiger Ansatz – ihre Ausgestaltung und vor allem ihre Finanzierung müssen aber noch geklärt werden. Drittens muss, wenn entsprechende Dynamik für die Erreichung der jetzigen Klimaziele entstanden ist, zwischen 2023 und 2025 eine weitere Erhöhung der Ziele geprüft werden. Dazu findet sich nichts im Koalitionsvertrag, es ist aber bereits im Rahmen der Europäischen Union und der Vereinten Nationen vereinbart. Bereits zur nächsten Weltklimagipfel in Ägypten Ende 2022 sollte Deutschland eine schlüssige Strategie zum Erreichen des deutschen Beitrags zum 1,5 Grad-Limit vorlegen. 
 

Klima-Governance und sektorübergreifender Klimaschutz

Die Pflicht zum Klimaschutz wird im Vertrag klar als Querschnittsaufgabe aller Ressorts herausgestellt. Dazu muss das Instrument des Klimachecks scharf gestellt und klar definiert werden, wie jedes Gesetz im Vorfeld auf seine Emissionswirkung geprüft wird. Wir begrüßen, dass die Ampel das Klimaschutzgesetz mit seinem jetzigen Monitoring von jährlichen Sektorzielen erhalten und darüber hinaus weiterentwickeln will. Das macht es möglich, dem Expert:innenrat mit weiteren Frühwarninstrumenten zur Klimazielerreichung und strukturellen Reformvorschlägen eine stärkere Rolle einzuräumen. 

Die Koalition hat sich vorgenommen, den Klimaschutz über eine Neuaufstellung der zuständigen Ministerien voranzubringen. Die Bündelung der Zuständigkeit für nationale und europäische Klimapolitik zusammen mit der Energie- und Wirtschaftspolitik im Wirtschaftsressort sowie die Neuaufstellung eines Ministeriums für Wohnen sind erst mal gute Nachrichten. Es muss jedoch gewährleistet werden, dass die Neuformierung der Ministerien mit höchster Priorität verfolgt und innerhalb weniger Monate abgeschlossen wird. Sonst steht deren Arbeitsfähigkeit und damit das zentrale Vorhaben eines Klimasofortprogramms bis Ende 2022 auf dem Spiel.

Bei der nationalen CO2-Bepreisung für Verkehr, Wärme und kleine Industrieanlagen (BEHG) fehlte der Koalition der Mut, in einer Phase hoher Energiepreise nun schnell auf den aktuellen Preispfad obendrauf zu satteln. Für die Klimazielerreichung – gerade in diesen beim Klimaschutz hinterherhinkenden Sektoren – wäre ein schnellerer Anstieg – einhergehen mit einem Klimageld an die Bürger:innen – allerdings hilfreich. Ohne ihn muss mehr übers Ordnungsrecht passieren. Die Koalitionär:innen haben allerdings den Spielraum gelassen, die CO2-Preise nach dem Ende der Energiehochpreisphase anzuheben. Für soziale Gerechtigkeit und Akzeptanz von Klimaschutz ist die vorgesehene Einführung des Klimageldes wichtig. Sie sollte nun zügig angegangen werden.
 

Energie

Der Kohleausstieg kommt deutlich früher und höchstwahrscheinlich 2030. Das ist ein großer Schritt vorwärts. Der CO2-Mindestpreis von 60 Euro, notfalls auch auf nationaler Ebene, ist dafür konsequent und richtig, wird aber in der Größenordnung je nach Gaspreisentwicklung nicht ausreichen, um das neue Zieljahr 2030 sicher zu erreichen. Dafür muss zusätzlich die starke und frühe Beschleunigung des Erneuerbaren-Ausbaus gelingen. Gut ist, dass die Koalition den betroffenen Regionen dahingehend hilft, dass u.a. die Strukturwandelhilfen früher kommen und die Anpassungsgelder modifiziert werden.

Wir begrüßen die Erhöhung der Ziele zum Ausbau Erneuerbarer Energien, die geplante Förderung der Bürger:innenenergie sowie die überfällige Umsetzung der EU-Richtlinie zu Energysharing. Jedoch muss der Ausbau der Offshore-Windenergie dem Meeresschutz gerecht werden. Auch die wichtige Beschleunigung bei Planungsverfahren darf nicht auf Kosten des Naturschutzes und der Beteiligung von Bürger:innen ausgestaltet werden. Wir bewerten es als echten Durchbruch, dass nun bei der Regulierung von Stromnetzen und damit der Festlegung von Netzentgelten neben der Kosteneffizienz die Ziele der Klimaneutralität, der Transparenz und der sozialen Gerechtigkeit berücksichtigt werden müssen. Das ist ein Grundstein für eine längst überfällige transformative Regulierung. Stromnetze sollten dabei weiterhin das Rückgrat eines klimaneutralen Energiesystems sein, da grüner Wasserstoff knapp und energieintensiv bleiben wird.

Bei Erdgas und Wasserstoff wird deutlich, dass die Ampel noch kein wirkliches nachhaltiges Konzept hat. Ein Erdgasausstieg ist zwar implizit dadurch gegeben, dass keine Betriebsgenehmigungen über 2045 hinaus für fossile Kraftwerke und Netze ausgestellt werden sollen. Die Nutzung von Gas müsste allerdings schon in den 2030ern auslaufen. Auch wenn übergangsweise klimaneutraler, also Erdgas-basierter mit CO2-Abscheidung hergestellter, Wasserstoff eingesetzt wird, darf das nicht zu einer Aufweichung der klaren regulatorischen Priorisierung von grünem Wasserstoff führen. Insbesondere für die heutigen und künftigen Partner in internationalen Partnerschaften ist ein klares Signal für grünen Wasserstoff, der unter hohen Nachhaltigkeits- und Sozialstandards hergestellt wird, wichtig. Hier ist ein deutlicheres Signal nötig, um Investitionsentscheidungen zu ermöglichen und die internationale Dynamik für grüne Investition zu unterstützen. 

Eine ausführliche Analyse zum Thema "Energie" finden sie hier >>
 

Mobilität

Im Mobilitätssektor ist eine neue Schwerpunktsetzung spürbar: Wir begrüßen, dass die Bahn in ganz Deutschland zum Rückgrat der Mobilität werden soll, dafür erheblich mehr Investitionen in die Schienen als in die Straßen fließen, die Personenleistung verdoppelt und der grenzüberschreitende Bahnverkehr gestärkt werden sollen. Der neue Verkehrsminister wird daran gemessen werden, ob er die für die Umsetzung nötigen Maßnahmen, wie die Senkung der Trassenpreise für insbesondere internationale Züge, die überfällige Europäisierung des Bahnverkehrs und die Umschichtung der Straßenneubaumittel in den Ausbau und die Modernisierung der Schiene aktiv vorantreibt. Auch ein Aufgabenträger für den Fernverkehr ist in Deutschland überfällig.

Der geplante Bundesmobilitätsplan 2040 ist zentral für oder gegen das Erreichen der Klimaziele und eine zeitgemäße Mobilität. Bis die Straßenbauprojekte seines fehlgeleiteten Vorgängermodells Bundesverkehrswegeplan 2030 anhand der Klimaziele neu bewertet sind, braucht es jetzt jedoch einen temporären Ausbaustopp für Bundesfernstraßen. Außerdem ist positiv, dass Klima, Gesundheit und Stadtentwicklung höhere Priorität in der Verkehrsplanung bekommen.

Beim Flug- und Automobilverkehr bleibt die Ampel auf Gelb hängen. Die Nicht-CO2-bedingten Klimaeffekte von Flügen werden gar nicht berücksichtigt. Dabei machen diese bis zu zwei Drittel des Klimaschadens aus. Auch die Aufhebung der marktverzerrenden Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flüge fehlt. Dagegen begrüßen wir sehr die aktive Unterstützung für Quoten für grünes Kerosin. Positiv ist auch der Einsatz für eine Luftverkehrsabgabe auf EU-Ebene – als Behelf bis zur Einführung einer Kerosinsteuer. Wichtig wäre, dass die Bundesregierung bis zur Einführung auf EU-Ebene Luftverkehrsabgaben- oder Kerosinsteuerabkommen bilateral mit anderen Staaten abschließt. 

Die Elektrifizierungsziele der Koalition für PKWs reichen nach Studien gerade so für die Einhaltung der Klimaziele. Die notwendige Verabschiedung vom fossilen Motor wird mit weichen Formulierungen zur EU-Vorgabe 2035 und EURO-7-Norm mehr begleitet als gestaltet. 
 

Industrie

Die Koalition will die überfällige Transformation der Industrie zur Treibhausgasneutralität beschleunigen. Für den Klimaschutz ist das zentral. Gut ist z.B., dass Industrievergünstigungen in Zukunft an Energieeffizienzmaßnahmen in Unternehmen geknüpft werden sollen und die Koalition Produktstandards weiterentwickeln will. Auch sollen für den Markthochlauf von klimafreundlichen Produkten wichtige Mindestquoten in der öffentlichen Beschaffung eingeführt werden. Außerdem muss im Klimasofortprogramm dringend bei konkreten Instrumenten für die Umstellung der Industrie auf klimaneutrale Prozesse nachgelegt werden, z.B. für die Förderung für den raschen Aufbau von Pilot- und Demonstratoranlagen. 
 

Digitalisierung und Klima

Die Digitalisierung als Ermöglicherin von Klimaschutz sehen wir durch gute Ansätze in den Bereichen Open Data, Datenschutz und IT-Sicherheit gestärkt. Gegen negative Auswirkungen der Digitalisierung auf das Klima werden erste positive Schritte unternommen. Wir bewerten das Jahr 2027 jedoch als zu spät, ab dem neue Rechenzentren klimaneutral betrieben werden sollen. Auch fehlt eine staatliche Handhabe bezüglich privater Rechenzentren, zum Beispiel in Form eines verpflichtenden Energieausweises. Eine Regulierung von Streaming-Diensten als wesentliche Stromfresser auf der Verbraucher:innenseite lässt der Koalitionsvertrag leider vermissen.
 

EU-Klimapolitik

Die Koalition stellt sich klar hinter den gesamten Fit-for-55-Vorschlag der Europäischen Kommission mit seinem sehr umfassenden Maßnahmenpaket für die Erreichung des 2030-Klimaziels von mindestens minus 55 Prozent. Das ist richtig und problematisch zugleich. Denn das FF55-Paket bedarf in den anstehenden Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten an einigen Punkten der Nachbesserung. Von der neuen Koalition kommt dazu als Vorschlag nur die Einführung eines Mindestpreises von 60 Euro im Emissionshandel. Die Ampel will die sinnvolle Ausweitung der CO2-Bepreisung EU-weit für Verkehr und Gebäude, schweigt aber dazu, wie der Klimaschutz in der EU sozialgerecht und auf Ebene der nationalen Regierungen weiterentwickelt werden soll. Insgesamt kann man nur hoffen, dass die Stärkung des Europäischen Green Deals mit allen seinen Dossiers tatsächlich Priorität bekommt.
 

Landwirtschaft

Positiv ist zu bewerten, dass die Verordnungen zur Umsetzung der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU in Deutschland unverzüglich angepasst werden sollen, um Umwelt- und Klimaschutz sowie Einkommenssicherung zu verbessern. (Dies scheint allerdings von der amtierenden Regierung noch zum guten Teil torpediert zu werden.) Hier muss eine neue Öko-Regelung wirksame Anreize zur Flächenbindung der Tierhaltung und besonders der Weidehaltung schaffen. 

Ein weiteres wichtiges Instrument sind tierschutzrechtliche Verbesserungen, wie die an Haltungskriterien ausgerichteten Investitionsförderungen. Ansätze wie eine verbindliche Haltungs- und umfassende Herkunftskennzeichnung helfen zudem den Verbraucher:innen, ihre Auswahl tierischer Produkte noch stärker am Tierschutz auszurichten. Auch diese Instrumente müssen die Bindung der Tierbestände an die Fläche und Bestandsreduktionen fördern und sowohl dem Klima- als auch weiterem Tierschutz dienen.

Die Tiergesundheitsstrategie kann über eine verbesserte Zucht und Haltung von Tieren den “Kampf gegen Antibiotikaresistenz” voranbringen und den Einsatz von Antibiotika deutlich senken. Der Einsatz von sog. Reserveantibiotika, d.h. für Menschen oft als letzte Mittel zur Verfügung stehende wichtigste Antibiotika, sollte konsequent vom Einsatz in der industriellen Tierhaltung ausgeschlossen werden. Dies kann sowohl über den kommenden neuen nationalen Resistenzstrategieplan (DART 2030) angegangen werden als auch über die neue EU-Tierarzneimittelverordnung. Ebenfalls auf EU-Ebene sind nicht zuletzt auch im Rahmen der Revision der europäischen Tierschutzgesetzgebung deutliche Signale zur signifikanten Verbesserung des Tierschutzes aus Deutschland zu senden.
 

Finanzen

Sustainable Finance wird mit einem eigenen Kapitel im Koalitionsvertrag zurecht aufgewertet. Die Vereinbarungen bleiben inhaltlich insgesamt aber oberflächlich. Die neue Bundesregierung muss deutlich ambitionierter agieren, wenn sie ihr eigenes Ziel erreichen will, Deutschland zu einem führenden Standort nachhaltiger Finanzierung mit internationaler Reichweite zu machen. Die angekündigte, an den Empfehlungen des Sustainable Finance-Beirats ausgerichtete, Strategie ist ein wichtiger Fortschritt gegenüber der unkonkreten und zu wenig ambitionierten Strategie der scheidenden Bundesregierung. Mit der Fortführung des Beirats als beratendes und unabhängiges Gremium wird die Grundlage für die ambitionierte Weiterentwicklung der deutschen Sustainable Finance-Agenda gelegt. 

Die neue Koalition vergibt allerdings bereits die erste internationale klimapolitische Chance. In der aktuell international stark beachteten Debatte um die EU-Taxonomie positioniert sich die Ampelkoalition nicht. Stattdessen duckt sie sich im Schatten der europäischen Kommission weg und weicht der expliziten Positionierung zur Erdgas-Frage aus. So wird ein mögliches Umstimmen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zur ersten Bewährungsprobe für Neukanzler Olaf Scholz. Die Niederlande haben mit der heutigen Absage an Erdgas dem Bundeskanzler das Feld bereitet.

Germanwatch erwartet, dass die neue Bundesregierung ihrem Anspruch entsprechend zügig die Sustainable Finance-Agenda vorantreibt. Dies beinhaltet u.a. Rahmensetzungen für die Offenlegung relevanter Klimarisiken, die Frage, ob der Bundeshaushalt dem Klima einen Schub geben kann und die Ausrichtung der Entwicklungs- und Exportfinanzierung (KFW, IPEX und Euler Hermes) am 1,5°C-Limit. 

Eine ausführliche Analyse zum Thema "Finanzen" finden sie hier >>
 

Klimaaußenpolitik

Erstmals wird Deutschland eine explizite Klimaaußenpolitik haben. Damit wird ein Vakuum geschlossen. Es hat in der Vergangenheit verhindert, dass das Klimathema im Zentrum bi- und multilateraler Beziehungen steht. Voraussetzung für eine neue Wirksamkeit diplomatischer Initiativen - oft im EU-Kontext - ist die Ausstattung der Klimaaußenpolitik mit einem starken Mandat, ausreichender personeller und finanzieller Ausstattung und dem Auflösen methodischer Schranken, wie das Konsensprinzip der Abteilungen bei Vorlagen für die Außenministerin.

Die deutsche G7-Präsidentschaft wird der erste Lackmustest dieser neuen Klimaaußenpolitik. Mit dem Klimaclub und den Klimapartnerschaften stellt die Ampel dabei zwei kooperative Instrumente ins Zentrum. Es wird entscheidend sein, dass die neue Regierung den Klimaclub wirkungsvoll mit dem CO2-Grenzausgleich verknüpft und ernsthaft offen und zugänglich gestaltet. Er darf sich nicht auf das Kriterium eines globalen einheitlichen CO2-Preises versteifen. Nur mit umfänglichen Unterstützungsangeboten an Länder des Globalen Südens kann der Klimaclub Legitimität erhalten. Mit den Klima- und Energiepartnerschaften stellt die Ampel ein potentiell transformatives Instrument ins Zentrum ihrer globalen Zusammenarbeit. Diese könnten denjenigen Staaten die Tür zum Klimaclub öffnen, die eine ausreichende Ambition haben. Weitere Partnerschaften, wie jüngst mit Südafrika, sollten noch dieses Jahr folgen. 

Die Finanzierung der Klimapartnerschaften bleibt allerdings bislang unklar. Mit dem Verweis darauf, lediglich bestehende Verpflichtungen zu erfüllen und perspektivisch die Klimafinanzierung zu erhöhen, verpasst die Ampelkoalition die Chance, einen notwendigen Paradigmenwechsel bei der internationalen Klimafinanzierung einzuläuten. Ein Lichtblick ist, dass die Koalition erstmals Bezug auf klimabedingte Schäden und Verluste im Form vom Meeresspiegelanstieg und Auswirkungen auf kulturelle Güter nimmt. Unterstützungsangebote zum Umgang mit diesen Schäden und Verlusten sollten von der neuen Bundesregierung auf die Agenda der kommenden G7-Präsidentschaft gesetzt werden.

Eine ausführliche Analyse zum Thema "Klimaaußenpolitik" finden sie hier >>
 

Europäische Klimaaußenpolitik 

Die Ampelkoalition legt Wert auf eine starke Zusammenarbeit mit europäischen Nachbarn, scheut sich aber leider davor, den Klimaschutz als zentralen Baustein der Zusammenarbeit, insbesondere mit Frankreich und Polen, hervorzuheben. Hier sollte in Zukunft der Schwerpunkt liegen. Gut ist, dass das Weimarer Dreieck als Zusammenarbeitsformat der drei Staaten explizit erwähnt wird. Das Dreieck sollte nun aber auch genutzt werden, die Konsensbildung für eine ambitionierte Ausverhandlung und Umsetzung des Europäischen Green Deals voranzubringen. 

Wir freuen uns, wie klar die Ampel den Ausbau der für die Stabilität in Europa so wichtigen Energiewendepartnerschaft mit der Ukraine ankündigt. Leider fehlt ein ähnlich starkes Bekenntnis für den Westbalkan. Die neue Bundesregierung sollte nun den Berlin-Prozess intensiver nutzen, um die Länder des Westbalkans in grenzüberschreitenden Klimapartnerschaften bei ihrem Kohleausstieg zu unterstützen.
 



Weichenstellungen für die sozial-ökologische Transformation?

Kreislaufwirtschaft und Rohstoffpolitik

Die Koalition bekennt sich klar zu dem Ziel „der Senkung des primären Rohstoffverbrauchs und geschlossener Stoffkreisläufe“ und will hierzu den bestehenden rechtlichen Rahmen anpassen und klare Ziele definieren. Das ist hoch erfreulich und eine Richtungsänderung in der Rohstoffpolitik, die folglich zur Reduktion des Rohstoffverbrauchs, langer Nutzung von Produkten und einer Stärkung des Sekundärrohstoffmarktes in verschiedenen Sektoren führen muss.
 
Die Koalition erkennt und benennt erfreulicherweise die Kreislaufwirtschaft als eine zentrale Maßnahme zum Klima- und Ressourcenschutz, dem nachhaltigen Wirtschaften wie auch zur Arbeitsplatzbeschaffung. Hervorzuheben ist dabei, dass die Bundesregierung sich mit den darauffolgenden Maßnahmen endlich dem europäischen ganzheitlicheren Verständnis der Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) annähert und sich für die Stärkung der Abfallvermeidung einsetzt will. Dementsprechend erwarten wir von der Bundesregierung, dass sie sich für starke Maßnahmen auf EU-Ebene im Rahmen des EU-Circular Economy-Maßnahmenplans einsetzt. Wichtig bleibt aber auch, dass auch auf nationaler Ebene die Potentiale und Kompetenzen ausgeschöpft werden, wie zum Beispiel Maßnahmen zum Erhalt eines reparierenden Gewerbes, um das geplante Recht auf Reparatur überhaupt umsetzten zu können.

Erfreulich ist, dass die Bundesregierung bereits konkrete Maßnahmen zur Stärkung des Sekundärrohstoffmarktes nennt – u.a. mit Mindestquoten für den Einsatz von Rezyklaten und Sekundärrohstoffen auf dem europäischen Markt. Andererseits bietet die Koalition leider Möglichkeiten für Tiefseebergbau, den wir u.a. auf Grund der noch nicht erforschten ökologischen und sozialen Folgen ablehnen.

Eine ausführliche Analyse zum Thema "Kreislaufwirtschaft und Rohstoffpolitik" finden sie hier >>
 

Wirtschaft und Menschenrechte

Wir begrüßen, dass sich die Ampelkoalition für ein wirksames EU-Lieferkettengesetz ausspricht, das auf den UN-Leitprinzipien basiert. Das ist ein konkreter Arbeitsauftrag an die neue Bundesregierung, sich jetzt in Brüssel für ein wirksames EU-Lieferkettengesetz einzusetzen, das über das deutsche Lieferkettengesetz hinausgeht. Dazu gehört, dass Sorgfaltspflichten ohne Abstufungen für die gesamte Wertschöpfungskette festgeschrieben werden – so wie in den UN-Leitprinzipien vorgesehen. Ebenso muss der Schutz der Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen gestärkt werden, um Schadensersatz von Unternehmen einklagen zu können.

Wir begrüßen, dass die neue Bundesregierung das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz im Sinne der UN-Leitprinzipien gegebenenfalls verbessern will. Dazu sollte sie zur Mitte der Legislaturperiode eine Evaluierung des Gesetzes vorsehen und vor allem die Wirksamkeit für die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen als Kriterium berücksichtigen und gegebenenfalls entsprechende Änderungen noch in dieser Legislaturperiode vornehmen.

Nationale und europäische Aktionspläne für Wirtschaft und Menschenrechte sind wichtige Schritte, um die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte umzusetzen. Wir begrüßen den geplanten Einsatz für einen EU-Aktionsplan. Er kann größere Politikkohärenz anstoßen, etwa für eine Handelspolitik, die nachhaltige Lieferketten unterstützt. Zusätzlich sehen wir insbesondere den Bedarf, bei staatlichen Instrumenten – wie der öffentlichen Beschaffung oder der Subventionspolitik – menschenrechtliche Standards verbindlich zu verankern. Auf nationaler Ebene ist der Aktionsplan inzwischen ausgelaufen und eine Überarbeitung ist – wie auch im Koalitionsvertrag vorgesehen – überfällig. Dabei sollten die Vorschläge der Zivilgesellschaft, wie wir sie im Rahmen unseres Schattenberichtes im August dargestellt haben, Berücksichtigung finden. Vor dem Hintergrund begrüßen wir, dass die neue Bundesregierung die öffentliche Beschaffung sozial und ökologisch verbindlicher ausrichten will.
 

Bildung für Nachhaltige Entwicklung

Wir begrüßen die Stärkung von Bildung für nachhaltige Entwicklung in allen Bildungsbereichen und die Stärkung des Nationalen Aktionsplans BNE. Die Integration von BNE in alle Aus- und Weiterbildungen von Lehrer:innen sollten im Rahmen der geplanten Qualitätsoffensive Lehrerbildung noch ambitionierter ausgestaltet werden.

Die vereinbarte Stärkung der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit durch die Zivilgesellschaft im Inland ist sehr zu begrüßen. Auch hier ist Digitalisierung hilfreich – nicht nur für den Kontakt mit Partner:innen im Globalen Süden. Es gilt eine soziale und ökologisch nachhaltige Digitalisierung in allen Bildungsbereichen zu fördern.

Die angekündigte Förderung des Engagements, kombiniert mit einem massiven Ausbau der politischen Bildung, gilt es mit den Erfordernissen und Inhalten der Transformation zu kombinieren: Strukturverändernde Gestaltungskompetenzen müssen vermittelt und echte Beteiligungsmöglichkeiten für eine sozial und ökologisch gerechte Gesellschaft geschaffen werden. Lernorte, die Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen, sollten gestärkt und mit den Chancen eines ambitionierten ganzheitlichen Lehr- und Lernansatzes in allen Bildungsprozessen verbunden werden. 

Eine ausführliche Analyse zum Thema "Bildung für Nachhaltige Entwicklung" finden sie hier >>
 

Handelspolitik

Die Aussagen zum Welthandel sind ermutigend: Die Welthandelsorganisation WTO soll weiterentwickelt und an den UN-Nachhaltigkeitszielen und dem Klimaabkommen von Paris ausgerichtet werden. Das Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten soll (erst) dann ratifiziert werden, wenn “durchsetzbare Zusatzvereinbarungen” zum Erhalt der Wälder abgeschlossen worden sind und die Mercosur-Länder darüber hinaus verbindliche Verpflichtungen zu Umwelt-, Sozial- und Menschenrechtsschutz eingehen. In zukünftigen Freihandelsabkommen sollen Nachhaltigkeitsbestimmungen integriert und durch einen Streitbeilegungsmechanismus durchgesetzt werden. Wichtig ist hier, dass die Bundesregierung diese Position auf EU-Ebene konsequent einbringt und den Handelspartner:innen vor allem aus dem Globalen Süden eine Zusammenarbeit dabei anbietet, die Nachhaltigkeitsziele zu verwirklichen.


- Zu vielen dieser Themen haben wir umfassendere Analysen auf unserer Themenseite zur Bundestagswahl 2021 veröffentlicht. -

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Referent für deutsche Klimapolitik
Referentin für EU-Klimapolitik und polnisch-deutsche Klimazusammenarbeit

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Referentin für Klima und Entwicklung – Indien
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Bereichsleiter Bildung für nachhaltige Entwicklung, NRW-Fachpromotor für Klima & Entwicklung