„Fit for 55“
Mit dem Fit-for-55-Klimapaket macht die EU Schluss mit dem Schneckentempo beim Klimaschutz. Mitte Juli hat die Europäische Kommission einen umfassenden Gesetzesentwurf vorgelegt, der eine Überarbeitung sämtlicher einschlägigen Politikinstrumente sowie die Einführung neuer Regelungen vorsieht, damit bis 2030 mindestens 55% Netto-Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 eingespart werden (55%-Ziel). Aber gehen die Pläne für die bevorstehende Transformation weit genug und sind sie sozial ausreichend abgefedert? Der Fit-for-55-Vorschlag steht nun zur Debatte. Es wird noch Kraft kosten, bis in den kommenden Monaten eine Einigung zwischen den nationalen Regierungen im Europäischen Rat und zwischen den politischen Gruppierungen im Europäischen Parlament steht. Germanwatch sieht drei große Herausforderungen.
I. Die Klimaziele mit einem cleveren Instrumentenmix sicher erreichen oder besser übertreffen
Das 55%-Ziel entspricht einer Emissionsminderung von knapp 53% ohne CO2-Senken (z.B. Wälder oder Böden, die Treibhausgas aus der Atmosphäre aufnehmen). Im Vergleich zu den bisherigen Ambitionen der EU verdoppelt sich damit das Klimaschutztempo. Aber gemessen an der 60%-Forderung des EU-Parlaments und mit Blick auf das, was laut Wissenschaft erforderlich ist, um das 1,5-Grad-Limit nicht zu überschreiten, ist dieses Zwischenziel noch nicht ausreichend.
Was die „sichere“ Umsetzung des 55%-Ziels betrifft, ist der Start leider holprig. Es muss zumindest garantiert werden, dass die Ziele auch dann erreicht werden, wenn die einkalkulierten CO2-Senken nicht den erhofften Effekt bringen. Für diesen Fall hat die Kommission bis jetzt kein Konzept vorgelegt. Es fehlt ein Garantiemechanismus, mit dem eine eventuelle Lücke (von knapp 53% auf mind. 55%) sicher geschlossen werden könnte.
Ein intelligenter Mix politischer Instrumente, der den Ausstieg aus allen fossilen Energien bis spätestens 2040 ermöglicht und zugleich soziale Gerechtigkeit und den Zusammenhalt der EU sichert, ist die beste Basis für eine demokratische, zukunftsfeste EU. Drei wichtige Instrumente legt die Kommission auf den Tisch. Diese sollten nun wirksam und klug miteinander kombiniert werden.
1. Mit ambitionierten nationalen Klima- und Energiezielen die Verantwortung der EU-Staaten stärken:
- Für die Bereiche Straßenverkehr, Gebäudeheizung, Landwirtschaft, kleine Industrieanlagen und Abfallwirtschaft soll die Klimaschutzverordnung – Effort Sharing Regulation (ESR) – erhalten bleiben. Die Ziele für diese Bereiche sollen an das 55%-Ziel angepasst werden. Laut vorgeschlagener Schlüsselverteilung soll etwa Deutschland nun für die ESR-Bereiche bis 2030 die Emissionen um 50% statt 38% senken (im Vergleich zu 2005). Die Erhaltung und Anpassung der EU-Klimaschutzverordnung ist grundsätzlich zu begrüßen. National Ownership bzw. Gestaltungsverantwortung auf Mitgliedstaatsebene schützt vor einer verringerten Priorisierung der Klimapolitik seitens der nationalen Regierungen, vor einer Abnahme der Expertise auf Mitgliedstaatsebene und vor einer EU-Verdrossenheit seitens der EU-Bürger:innen.
- Zudem gehört der schnelle Ausbau der erneuerbaren Energien auf EU-Ebene zu den Eckpfeilern des Fit-for-55-Pakets. Der Kommissionsvorschlag sieht aber keine verbindlichen nationalen Ziele vor, sondern weiterhin ein gemeinsames für die ganze EU. Bis 2030 sollen erneuerbare Energien statt derzeit 32% einen Anteil am EU-Bruttoendverbrauch (Energiemix) von 40% erreichen. Es ist jedoch eine Tempoerhöhung erforderlich, um einen fairen Beitrag zur Einhaltung des 1,5°-Limits einerseits zu leisten und andererseits den EU-weiten Kohleausstieg, der bis 2030 weitestgehend abgeschlossen sein soll, zielgerecht zu begleiten. Auch das Potenzial der Energieeffizienz wird nicht ausgeschöpft. Die Kommission schlägt lediglich vor, das gemeinsame Energieeinsparziel von bislang 32,5% auf 39% Prozent zu erhöhen. Mit national verbindlichen Zielen für Erneuerbare Energien und für Energieeffizienz gäbe es eine reale Chance, über ein möglicherweise noch nicht ausreichendes EU-Ziel hinauszugehen. Es ist daher entscheidend, dass der europäische Anspruch durch national verbindliche Ziele untermauert wird.
2. Ein stärkeres EU-weites Ordnungsrecht:
- Die Kommission sieht einen Verbrennerausstieg bis 2035 vor. Die Grundlage dafür bilden CO2-Standards bzw. die CO2-Flottengrenzwerte, die den durchschnittlichen CO2-Ausstoß aller in der EU zugelassenen Fahrzeuge begrenzen. Die Wirksamkeit dieser wichtigen Instrumente wird allerdings zurzeit durch einige Schlupflöcher unterminiert. So sind z.B. sognannte Plug-in-Hybride nicht so klimafreundlich, wie sie auf den ersten Blick erscheinen.
- Die Besteuerung von Energieprodukten, etwa Kraftstoffen und Strom, soll mit der Revision der Energiesteuerrichtlinie an das 55%-Ziel angepasst werden. Das geht in die richtige Richtung und muss ‒ genau wie die CO2-Standards ‒ vor allem ohne langes Ringen schnellstmöglich in Kraft treten.
3. Wirksame CO2-Bepreisung:
- Für die Sektoren Strom und Industrie schlägt die Kommission eine Anpassung des bestehenden Emissionshandelssystems (EHS) vor. Die Vorschläge der Kommission sind ein Schritt in die richtige Richtung und setzen ein starkes Signal für ambitionierten Klimaschutz. Doch Germanwatch vermisst einen klaren Fahrplan für ein schnelles Ende der kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten an die Industrie. Nach den bisherigen Plänen wird die Industrie noch immer völlig unzureichend an den Kosten der klimafreundlichen Transformation beteiligt und nicht auf den Weg Richtung Klimaneutralität gebracht. Die in dieser Hinsicht nachgebesserte Reform sollte zudem möglichst schnell umgesetzt werden.
- Die Kommission ebnet den Weg für ein CO2-Bepreisungssystem in den Bereichen Verkehr und Gebäude. Das neue Emissionshandelssystem soll 2026 starten. Bei diesem Vorschlag ist eine bessere soziale Ausgestaltung notwendig (siehe Punkt II).
II. Die soziale Gerechtigkeit innerhalb der EU im Blick haben
Um den Sozialausgleich innerhalb der EU bei der Einführung eines neuen Emissionshandels für die Bereiche Gebäude und Straßenverkehr zu sichern, ist die vorgeschlagene Einführung eines Sozialklimafonds (Social Climate Fund) begrüßenswert. 25% der Einnahmen aus dem neuen Emissionshandel sollen laut Kommission diesem Sozialklimafonds zugutekommen. Dadurch sollen einkommensschwache Verbraucher:innen unterstützt werden. Um diese Mittel (geschätzte 72,2 Milliarden Euro) abrufen zu können, müssen die Mitgliedsstaaten die Summe aus Eigenmitteln verdoppeln.
Dieser Vorschlag bleibt in der aktuellen Form leider noch unzureichend. Es ist nicht davon auszugehen, dass die von der Kommission vorgeschlagenen 25% der Einnahmen ausreichen, um soziale Härten zu vermeiden. Die geringe Ausfinanzierung des neuen Sozialfonds droht zu einem Problem zu werden, zumal nicht sichergestellt ist, dass das Geld wirklich bei den Menschen ankommt, die es am dringendsten benötigen. Der tatsächliche Bedarf an Finanzmitteln sollte ermittelt und der Fonds entsprechend aufgestockt werden. Außerdem bleibt ohne einen Mindest- und Höchstpreis in diesem neuen Emissionshandel für EU-Bürger:innen unklar, wie sich die Preise von Heizöl oder Benzin entwickeln, was Fehlentscheidungen beim Kauf von Heizungen oder Autos zur Folge haben kann.
III. Klimapartnerschaften auf- und ausbauen
Die Kommission schlägt die Einführung eines CO2-Grenzausgleichsystems (Carbon Border Adjustment Mechanism ‒ CBAM) vor. Dieses soll als flankierendes Instrument zum EHS wichtig für die Vermeidung von Emissionsverlagerung (sog. Carbon Leakage) in Länder werden, in denen es weniger ambitionierte Klimapolitik für den Industriesektor gibt. In Ergänzung zu einer Emissionshandelsreform kann CBAM prinzipiell eine wichtige Rolle spielen, um den Klimaschutz sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU voranzubringen. Dabei kommt es jedoch auf ein kluges CBAM-Design an – und darauf, auf die betroffenen Handelspartnerländer umgehend mit überzeugenden Kooperationsangeboten und Gesprächen zuzugehen.
Der Vorschlag zum CO2-Grenzausgleich ist derzeit zu konfrontativ gegenüber den Handelspartnerländern angelegt und gefährdet damit die internationale Zusammenarbeit zur Erreichung der Pariser Klimaziele. Es ist hochproblematisch, dass die Einnahmen aus diesem Instrument in der EU verbleiben sollen, anstatt Klimaschutz in betroffenen weniger wohlhabenden Handelspartnerländern zu finanzieren. Hier sollten die Mitgliedstaaten dringend nachbessern. Ohne weitere Nachbesserungen und deutlich mehr Kooperationen mit ärmeren Ländern, die einen zügigen Umstieg auf 100 Prozent Erneuerbare Energien und Klimaneutralität zum Ziel haben, leistet die EU noch keinen ausreichenden und fairen Beitrag, um die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu begrenzen.
Ausblick
Es kommt nun auf alle Mitgliedsstaaten an, damit das Fit-for-55-Paket zügig umgesetzt werden kann. Die Bundesregierung spielt in den anstehenden Verhandlungen eine zentrale Rolle: Zusammen mit ihren europäischen Partnern ‒ darunter Frankreich, das die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union im für die Beratungen des Pakets wichtigen ersten Halbjahr 2022 innehat ‒, sollte sie die Umsetzung des European Green Deal beschleunigen. Sie muss sich entschieden für ein ambitioniertes Legislativpaket einsetzen. Es geht darum, keine Zeit zu verlieren und die internationale Dynamik positiv zu beeinflussen. Die Führungsrolle der EU beim Klimaschutz darf nicht durch monatelanges Ringen gefährdet werden.