50 bis 140 Zentimeter Meeresspiegelanstieg bis 2100 möglich
50 bis 140 Zentimeter Meeresspiegelanstieg bis 2100 möglich
In den letzten Monaten nehmen die Hinweise darauf zu, dass - anders als noch im jüngsten IPCC-Bericht angenommen - die in den bisherigen Klimamodellen kaum enthaltenen, sich beschleunigenden Schmelzprozesse in Grönland und der Westantarktis schon jetzt einen positiven Beitrag zum Meeresspiegelanstieg leisten könnten. Die Abschätzungen des IPCC müssten dann nach oben korrigiert werden. Zugleich zeigen die inzwischen ausgewerteten Beobachtungsdaten, dass der Meeresspiegel sowohl seit 1961 als auch seit 1990 um 50 Prozent schneller voranschreitet, als die gegenwärtig benutzten IPCC-Modelle erwarten lassen. Wenn man davon ausgeht, dass der Meeresspiegel in der bisherigen Korrelation mit der erwarteten Temperaturzunahme weiter steigt, dann wäre mit 50 bis 140 cm Meeresspiegelanstieg bis Ende des Jahrhunderts zu rechnen.
Es folgen Auszüge aus verschiedenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema. Originalzitate (übersetzt durch Germanwatch) stehen in Anführungszeichen, weitere Textpassagen geben wir in zusammengefasster Form wieder (fett gedruckt).
Wenn Meeresspiegel proportional zur Erwärmung steigt, dann um 0,5-1,4 m bis 2100
Vor 20.000 Jahren, als die Temperatur 4-7 Grad C tiefer als heute lag, war der Meeresspiegel 120 m niedriger als heute. Vor drei Millionen Jahren, also im Pliozän, war das Klima nur 2-3 Grad wärmer als heute und der Meeresspiegel lag 25-35 m höher. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass die gegenwärtig benutzten Modelle für den Anstieg wesentliche Faktoren noch nicht einbeziehen, präsentierte Stefan Rahmstorf im Januar im Fachblatt Science einen "semiempirischen Zusammenhang", der den weltweiten Meeresspiegelanstieg mit der Weltmitteltemperatur verknüpft. Er schlägt vor, davon auszugehen "dass für Zeiträume, die für die anthropogene Erwärmung relevant sind, die Rate des Meeresspiegelanstiegs ungefähr proportional zur Größenordnung der Erwärmung gegenüber vorindustriellem Niveau ist. Dies gilt in guter Näherung für Temperatur- und Meeresspiegelanstieg während des 20. Jahrhunderts mit einer Proportionalitätskonstante von 3,4 mm pro Jahr und Grad Celsius. Wenn das auf die zukünftigen Erwärmungsszenarien des IPCC angewandt wird, führt dieser Zusammenhang bis 2100 zu einem Meeresspiegelanstieg um 0,5 bis 1,4 m gegenüber 1990."
Quelle: Rahmstorf, S. (2007): A Semi-Empirical Approach to Projecting Future Sea-Level Rise. Science 315: 368-369, 19.1.2007
Grönland: Nettoabnahme des Eisschilds, die in Modellen nicht abgebildet ist
Mit Hilfe von Satellitenmessungen werden die Veränderungen der Schmelzfläche auf Grönland immer genauer quantifiziert. In Grönland hat sich die Fläche, auf der im Sommer Eis schmilzt, zwischen 1992 und 2005 mehr als verdoppelt (siehe Abb. 1).
Es gibt inzwischen deutliche Hinweise, dass die stärkeren Niederschläge (Schnee) in den höheren Gebieten den Massenverlust der Gletscher in den niedrigeren Gebieten nicht mehr kompensieren können. So zeigen verschiedenen Studien (u.a. Rignot & Kanagaratnam 2006) einen Nettoeismassenverlust des Grönlandeisschildes. Dieser trägt demnach im Moment mit einem Sechstel (0,5 mm/ Jahr) zum jährlichen Meeresspiegelanstieg von etwa 3 mm / Jahr bei. Nach Rignot & Kanagaratnam bilden die aktuellen Modelle den Eisverlust Grönlands nicht angemessen ab, weil sie die rapide Geschwindigkeit des Gletscherfließens nicht erfassen.
Quelle: Rignot, E., and P. Kanagaratnam (2006): Changes in the Velocity Structure of the Greenland Ice Sheet, Science 311, 986-990
Abb. 1: Ausdehnung der Schmelzfläche des Grönland-Eisschilds.
Auf der weißen Fläche schmilzt kein Eis; auf der roten schmilzt das Eis an mindestens einem Tag im Jahr (hellrot: Schmelzfläche im Jahr 1992; dunkelrot: im Jahr 2005 hinzugekommene Schmelzflächen).
Bildquelle: http://cires.colorado.edu/science/groups/steffen/greenland/melt2005/
Vermutlich auch in der Antarktis Nettoabnahme des Eisschilds
Selbst im wärmsten IPCC-Szenario A1F1 mit dem größten Meeresspiegelanstieg wird davon ausgegangen, dass die Eismasse der Antarktis im 21. Jahrhundert weiter zunimmt, und zwar stärker, als Grönland an Eis verlieren wird. Dadurch würde der Meeresspiegelanstieg zusammengenommen um 3 cm verringert. Nach einem gerade veröffentlichten Beitrag von Pritchard und Vaughan im Fachblatt "Journal Of Geophysical Research" verliert aber die Arktis vermutlich jetzt bereits an Eismasse.
"Während des letzten halben Jahrhunderts gehörte die Antarktische Halbinsel zu den sich am schnellsten erwärmenden Regionen der Erde. Dies hat zu einer Zunahme der Sommerschneeschmelze, zum Verlust von Eisschilden und zum Rückzug von 87 % der Meeres- und Tidewassergletscherfronten geführt. (...) Wir präsentieren wiederholte Messungen der Flussrate von über 300 Gletschern an der Westküste der Antarktischen Halbinsel zwischen 1992 und 2005. Wir zeigen, dass die Flussrate um durchschnittlich 12 % zugenommen hat und dass dieser Trend größer ist als die Variabilität in der Flussrate. (...)".
Dieser Beitrag und die Ergebnisse früherer Studien, die den beschleunigten Abfluss aus dem Gebiet und die Beschleunigung der Gletscherbewegung als Ergebnis von Eisschelfrückzug abschätzen, impliziert einen kombinierten Beitrag der Antarktischen Halbinsel von 0,16 ± 0,06 mm pro Jahr. "Das ist vergleichbar mit dem Beitrag der Alaska-Gletscher. Verknüpft mit dem geschätzten Massenverlust der West-Antarktis ist dieser kombinierte Beitrag vermutlich groß genug, um den Massenzuwachs in der Ost-Antarktis zu überkompensieren und insgesamt zu einem positiven Beitrag der Antarktis zum Meeresspiegelanstieg zu führen."
Quelle: Pritchard, H. D., and D. G. Vaughan (2007): Widespread acceleration of tidewater glaciers on the Antarctic Peninsula, J. Geophys. Res. 112, F03S29, doi:10.1029/2006JF000597.
Beobachteter Meeresspiegelanstieg seit 1990 deutlich schneller als in Modellen
Im Haupttext spricht der Bericht der IPCC-Arbeitsgruppe 1 ein weiteres Problem an, welches darauf hindeutet, dass die von ihm benutzten Modelle den potenziellen Meerespiegelanstieg unterschätzen. Demnach lassen die Modelle für 1961 bis 2003 nur einen Anstieg von 1,2 mm pro Jahr erwarten, die Daten aber zeigen einen Anstieg von 1,8 mm pro Jahr. Hintergrund ist, dass die Modelle "im wesentlichen unabhängig von den beobachteten Klimadaten" erstellt worden sind - so ein im Mai 2007 im Fachblatt Science veröffentlichter Artikel. Beobachtungsdaten über den Meeresspiegelanstieg waren zur Zeit der Modellierung noch nicht ausgewertet.
"Die jetzt verfügbaren Daten lassen Bedenken aufkommen, dass das Klimasystem, insbesondere der Meeresspiegel, schneller reagieren könnte, als es die Klimamodelle anzeigen. (...)
Der seit 1990 beobachtete Meeresspiegel ist schneller gestiegen als in den Modellen projiziert [vgl. Abb. 2, Anm.d.Red.] (...)
Der Meeresspiegelanstieg folgt eng der oberen grauen Linie, dem oberen Limit [des dritten IPCC-Sachstandsberichtes in Richtung 88 cm Meerespiegelanstieg in diesem Jahrhundert; Anm.d.Red.]. (...) Die Rate des Anstiegs für die letzten 20 Jahre des rekonstruierten Meeresspiegels ist 25 Prozent schneller als die Anstiegsrate in jeder 20-Jahresperiode in den letzten 115 Jahren."
Abb. 2: Daten zum Meeresspiegel-, primär basierend auf Gezeitenmessungen (jährlich, rot) sowie aus Satelliten-Höhenmessungen (dreimonatliche Datenabstände, blau, bis Mitte 2006), und ihre Trends. Für Temperatur und Meeresspiegel werden die Daten als Abweichungen vom 1990er-Wert der Trendlinie dargestellt. 1990 ist auch das Basisjahr der IPCC-Szenarien. Weitere Erläuterungen im Text oben.
Der größte Anteil des bisher gemessenen Meeresspiegelanstiegs komme zwar bislang aus der wärmebedingten Ausdehnung des Wassers und dem Schmelzen von nichtpolaren Gletschern, jedoch weisen die Autoren auf die zunehmende Rolle der schrumpfenden Eisschilde hin.
"Obwohl der Beitrag der Eisschilde gering war, weisen die Beobachtungen darauf hin, dass dieser rasant zunimmt, mit Beiträgen sowohl aus Grönland als auch aus der Antarktis. (...) Bisherige Projektionen, wie sie im IPCC zusammengefasst werden, haben nicht übertrieben, sondern könnten in mancher Hinsicht den Wandel, insbesondere was den Meeresspiegel angeht, unterschätzt haben."
Die Autoren weisen darauf hin, dass die Zeitreihe seit 1990 noch nicht lange genug ist, um daraus eine definitive Zukunftsprognose abzuleiten.
Quelle: Rahmstorf, S. et al. (2007): Recent Climate Observations Compared to Projections, Science 316, S. 709, 4. Mai 2007.