Midlife Crisis mit Zwanzig - Die WTO sucht vor der 10. Ministerkonferenz nach ihrer Rolle
Vom 14.-18. Dezember treffen sich die Mitglieder der Welthandelsorganisation WTO in der kenianischen Hauptstadt Nairobi zur zehnten Ministerkonferenz, die auch den zwanzigsten Geburtstag der 1995 gegründeten Organisation markiert. Zum Feiern wird den anreisenden Ministern allerdings kaum zumute sein. Das wichtigste Projekt der WTO, die Doha Runde (auch Doha Development Agenda) schleppt sich nun seit vierzehn Jahren dahin und vor der 10. Konferenz ist der Streit unter den Mitgliedsstaaten darüber wie, und vor allem ob die Verhandlungen fortgesetzt werden sollen so heftig wie selten zuvor.
Die Geschichte der Doha Runde ist reich an Konflikten, Krisen, Kollaps und langen Phasen des Stillstands. Gleichwohl hat kein WTO-Mitglied in dieser Zeit gefordert, das Scheitern der Verhandlungen offiziell festzustellen, und die Doha Runde praktisch ergebnislos abzubrechen. Im Vorfeld von Nairobi geschieht nun genau dies - und die Forderung kommt nicht von den wenigen linken globalisierungskritischen Regierungen wie Venezuela, Bolivien oder Kuba, die dem Liberalisierungsparadigma der WTO traditionell kritisch gegenüberstehen. Im Gegenteil. Die immer noch einflussreichsten WTO-Mitglieder, die das Projekt der Doha-Runde durchgesetzt und vorangebracht haben, fordern nun ihren Abbruch - allen voran die USA, unterstützt von der EU und Japan. In den vorbereitenden Treffen zur Ministerkonferenz vertraten sie alle die Position, dass die Verhandlungen nicht erfolgreich abgeschlossen werden könnten und der Verhandlungsansatz gescheitert sei. Damit wäre das schon bei der Ministerkonferenz 2013 in Bali vereinbarte neue Abkommen zu administrativen Handelserleichterungen (Trade Facilitation Agreement), das aber noch nicht in Kraft ist, zusammen mit möglichen neuen Beschlüssen was in Nairobi beschlossen wird das einzige Ergebnis der Doha-Runde. Danach würden keine weiteren Verhandlungen auf Grundlage des Doha-Mandats und der bislang erzielten Zwischenergebnisse geführt. Dagegen spricht sich die große Mehrheit der Entwicklungsländer aus. Sie wollen die Doha Runde fortzusetzen und dabei vor allem ihren entwicklungspolitischen Anspruch einlösen.
Umkehrung alter Konfliktlinien
Diese Konfliktlinien sind zumindest mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Doha Runde überraschend. Die Doha Runde war selbst der zweite Anlauf für eine ursprünglich als "Millennium-Runde" geplante umfassende Liberalisierungsagenda. Der Versuch der führenden Industriestaaten (USA, EU, Japan und Kanada), die Millennium Runde 1999 bei der dritten Ministerkonferenz in Seattle zu starten scheiterten an einer Mischung aus schlechter Vorbereitung, öffentlichen Protesten und vor allem dem Widerstand der Entwicklungsländer. Um diesen zu überwinden, wurde das Projekt in "Entwicklungsrunde" umbenannt, und mit einer Präambel versehen, die verspricht, die Bedürfnisse und Interessen der Entwicklungsländer ins Zentrum zu stellen. Das eigentliche Verhandlungsmandat, in dem die Themen und Ziele der Verhandlungen definiert werden, wurde aber weitgehend vom Millenniumsrundenvorschlag übernommen. Insbesondere sollten die Kompetenzen der WTO auf die neuen Bereiche Investitionen, Wettbewerbsrecht, öffentliche Beschaffung und Trade Facilitation erweitert werden. Die Mehrheit der Entwicklungsländer lehnte das bereits in Doha ab, konnte aber durch politischen Druck, den Appell an den internationalen Zusammenhalt nach den damals gerade erst zwei Monate zurückliegenden Anschlägen auf das World Trade Center in New York und einigen Formelkompromisse dazu bewegt werden, zuzustimmen.
Dies war allerdings das letzte Mal, dass die großen Industriestaaten sich so umfassend durchsetzen konnten. Schon zwei Jahre später bei der Ministerkonferenz im mexikanischen Cancun, wandten sich die nun besser organisierten und durch den Beitritt Chinas entscheidend gestärkten Entwicklungsländer erneut gegen Verhandlungen zu den neuen Themen, was zunächst zum Scheitern der Konferenz führte. Im Anschluss wurde das Verhandlungsmandat allerdings angepasst, und nur Trade Facilitation als neues Thema beibehalten. In den folgenden Verhandlungen koordinierten sich Schwellen- und Entwicklungsländervertraten gemeinsame Positionen. Seitdem haben sie sehr viel mehr Einfluss auf den Verhandlungsverlauf, ohne das grundsätzlich auf Liberalisierung abzielende übrige Doha-Mandat grundlegend zu verändern zu können oder - in den meisten Fällen - zu wollen. So bieten sie an, die Obergrenzen der Zölle für Landwirtschafts- und Industriegüter deutlich zu senken, wollen aber im Gegenzug für einige für Ernährungssicherheit und den Lebensunterhalt von Kleinbauern wichtige Produkte bessere Schutz- und Unterstützungsmöglichkeiten schaffen. So sollen einige "spezielle" Produkte ganz von der Zollsenkung ausgenommen werden und ein Spezieller Schutzmechanismus soll es ermöglichen, Zölle zeitweise anzuheben, wenn die Importpreise stark sinken. Von den Industriestaaten fordern sie dagegen ihre Märkte sehr weitgehend zu öffnen und den als "handelsverzerrend" definierten Teil der Agrarsubventionen drastisch zu reduzieren.
Diese Verhandlungslinien spiegeln sich in den Beschlüssen der WTO-Konferenz in Hongkong 2005 wider, und bilden die Grundlage aller folgenden Textentwürfe für ein Abkommen zum Abschluss der Doha-Runde. 2008 wäre der Abschluss fast gelungen, scheiterte dann aber daran, dass die USA sich weigerten ihre Agrarsubventionen so stark wie gefordert zu senken, und gleichzeitig zu akzeptieren, dass Entwicklungsländer bestimmte Agrarprodukte besser schützen können. Damit waren die USA vom wichtigsten Initiator der Doha-Runde zum größten Bremser mutiert.
Aufwind aus Bali verpufft rasch
Nach diesem Scheitern waren die Verhandlungen jahrelang vollkommen blockiert, und erst die neunte Ministerkonferenz 2013 in Bali brachte wieder etwas Bewegung. Dort wurde nicht versucht, eine umfassende Einigung zu erreichen, sondern nur der Abschluss des Abkommens zu Trade Facilitation und eine Übergangslösung für die Regelung von internen Nahrungsmittelhilfeprogrammen in Entwicklungsländern, die es vor allem Indien erlaubt bestehende Ausgabengrenzen zu überschreiten, um ein neues Programm umsetzen zu können.
Zugleich wurde beschlossen, nach der Bali-Konferenz einen Fahrplan für die weiteren Verhandlungen und letztlich den Abschluss der Doha-Runde zu entwickeln, der dann in Nairobi beschlossen werden sollte. Bis dahin sollten auch die Regeln für inländische Nahrungsmittelhilfeprogramme für alle Entwicklungsländer angepasst werden.
An beidem sind die WTO-Mitglieder gescheitert. Wichtigster Konfliktpunkt war die Frage, ob die Verhandlungen auf Basis des 2008 erreichten Stands fortgesetzt werden sollen. Immerhin hatte es damals eine Einigung fast aller Länder insbesondere auch der Entwicklungsländer gegeben, deren Anliegen und Interessen laut Doha-Mandat im Zentrum der Verhandlungen stehen sollen. Die USA forderten dagegen zunächst die Verhandlungen zu "rekalibrieren." Agrarsubventionen und Zölle sollten weniger stark und nicht mehr nach der 2008 vorgeschlagenen Formel, sondern aufgrund von Forderungen und Angebote der einzelnen Mitgliedsstaaten reduziert werden. Hintergrund ist das erst 2014 beschlossene US-Landwirtschaftsgesetz, mit dem die in der WTO geltende Obergrenze für handelsverzerrende Subventionen voll ausgeschöpft wird. Ein Abschluss der Doha Runde auf Grundlage des Verhandlungsstands von 2008 würde diese Obergrenze deutlich senken, und die USA folglich zwingen, ihr Landwirtschaftsgesetz wieder zu ändern. Der neue Ansatz sollte dies vermeiden. Nachdem klar geworden ist, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer die "Rekalibrierung" nicht akzeptieren, fordern die USA mit Unterstützung der EU und Japans nun die Doha-Runde insgesamt zu beenden.
Die EU versucht dies mit Unterstützung Brasiliens und anderer noch durch ein gesichtswahrendes Mini-Paket aufzuhübschen, das neben wohlklingenden, aber letztlich unverbindlichen Zusagen für die ärmsten Entwicklungsländer (LDC), auch das endgültige Verbot von Exportsubventionen für Agrargüter enthalten würde. Das fällt ihr relativ leicht, da sie seit einigen Jahren keine Exportsubventionen mehr gewährt und ihr wichtigstes Instrument zur Unterstützung der Landwirte - die flächengebundenen Direktzahlungen unberührt blieben. Ein Fortschritt wäre ein solcher Beschluss gleichwohl, da er einen Politikwechsel von EU und anderen Ländern auch in Zukunft verhindern würde. Auch hier gibt es allerdings Problem mit den USA, die nicht bereit sind, parallel auch staatlich unterstützte Exportkredite zu beschränken.
Damit ist vor der Ministerkonferenz in Nairobi ist offen, ob es wenigstens ein kleiner sinnvoller Schritt gemacht wird, ob die Konferenz offen scheitert, oder ob dies in einem Formelkompromiss zum Schicksal der Doha Runde vermieden werden kann. In jedem Fall ist die Frage, welche Rolle die WTO dabei spielen kann, globale Handelsregeln weiter zu entwickeln i so unklar wie selten zuvor, und wird es wohl auch nach Nairobi bleiben.
Tobias Reichert ist für Germanwatch vor Ort und berichtet regelmäßig über den Stand der Verhandlungen in Nairobi.
Dieser Beitrag ist zuerst bei Brot für die Welt erschienen.