Bonn/Berlin (9. April 2025). Licht und Schatten sieht die Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch im heute vorgelegten Koalitionsvertrag. Christoph Bals, Politik-Vorstand von Germanwatch, kommentiert: “Es ist gut, dass der Vertrag zügig erarbeitet worden ist. Angesichts der Angriffe der US-Regierung brauchen wir eine voll handlungsfähige Bundesregierung in Bezug auf die Verteidigung von Völkerrecht und Menschenrechten sowie den Erhalt von Sicherheit und ökologischen Lebensgrundlagen. Es ist zudem ein wichtiges Signal, dass sich bei den künftigen Koalitionspartnern die Einsicht durchgesetzt hat: Sicherheit wird nicht allein militärisch und mit Blick auf die Ukraine gewährleistet, sondern auch durch internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen Hunger, Pandemien und die Klimakrise.”
Ausreichend Mittel für Entwicklungsfinanzierung entscheidend
Besonders begrüßenswert ist nach Ansicht von Germanwatch das Festhalten an einem eigenständigen Entwicklungsministerium, das sich für die Rechte und Bedürfnisse besonders verletzlicher Gruppen einsetzt. Bals: “Die angekündigte Bereitschaft, Deutschlands fairen Beitrag zur internationalen Klimafinanzierung zu leisten, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Klimakrise zählt zu den größten sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit. Eine gezielte Unterstützung von Partnerländern im Globalen Süden ist Ausdruck notwendiger globaler Verantwortung – und zugleich im direkten sicherheits- und wirtschaftspolitischen Interesse Deutschlands. Kritisch sehen wir hingegen die geplante Absenkung der ODA-Quote. Zwar bleibt der Koalitionsvertrag eine konkrete Zielmarke schuldig, doch die angekündigte Reduktion widerspricht dem Anspruch, internationale Kooperation und Krisenbewältigung zu stärken. Jedenfalls ist jede Absenkung unter 0,7 Prozent des BIP nicht angemessen und führt zu Kürzungen im Vergleich zum Status-quo. Das wäre vor dem Hintergrund der geopolitischen Herausforderungen und dem Wegfall der USA in der internationalen Entwicklungsfinanzierung eine Kapitulation vor Trump.”
Unsachliche Kommunikation zum Lieferkettengesetz
Als hoch problematisch stuft Germanwatch die angekündigte teilweise Aussetzung von Sanktionen bei Verstößen gegen das Lieferkettengesetz ein. Cornelia Heydenreich, Leiterin des Bereichs Unternehmensverantwortung bei Germanwatch: “Eine Aussetzung von Sanktionen wäre ein rechtlich fragwürdiger Schritt, der die Achtung der Menschenrechte in den Partnerländern der Handelsnation Deutschland gefährden würde. Wer allerdings jetzt den Eindruck erweckt, das Lieferkettengesetz würde komplett abgeschafft, argumentiert unsachlich. So sorgt man nur für zusätzliche Verunsicherung bei deutschen Unternehmen. Schließlich bekennt sich die neue Koalition zu ihrer Verpflichtung, die europäische Lieferkettenrichtlinie in nationales Recht zu überführen.”
Beim Klimaschutz droht Abschwächung durch Hintertür
Beim Klimaschutz in Deutschland und der EU werden die Klimaziele weiterhin unterstützt, aber es droht eine Abschwächung durch die Hintertür, nämlich über die Möglichkeit, nun bis zu 3 Prozent des EU-2040-Klimaziels durch internationale Zertifikate zu erfüllen. Durch die komplette Abschaffung der jüngsten Novelle des sogenannten Heizungsgesetzes und der angedeuteten Neuformulierung drohen nach Ansicht von Germanwatch erhebliche Abschwächungen und Preissteigerungen im neuen Emissionshandel für Verkehr und Gebäude. Zentral ist, dass die unterschiedlich besetzten Ministerien der neuen Regierung zur sozial verträglichen und kosteneffizienten Erreichung der Klimaziele besser zusammenarbeiten als in der letzten Legislatur. Zudem sollten sie den Klimaschutz angemessen kommunizieren und zur Gemeinschaftsaufgabe und -chance machen.
Weitere Zitate von Germanwatch-Expert:innen zum Koalitionsvertrag:
Rohstoffpolitik und Kreislaufwirtschaft
Luisa Denter, Referentin für Ressourcenpolitik und zirkuläres Wirtschaften:
„Das Ziel der neuen Koalition, den Verbrauch von Primärrohstoffen so weit wie möglich zu reduzieren, ist nicht nur für den Klima- und Umweltschutz eine gute Nachricht, sondern auch für die Resilienz der deutschen Wirtschaft. Um dieses Ziel glaubwürdig zu verfolgen, muss die Bundesregierung allerdings die erforderlichen finanziellen Mittel für die Umsetzung der Nationalen Kreislaufwirtschaftsstrategie bereitstellen, zum Beispiel aus dem Infrastrukturfonds oder dem Klima- und Transformationsfonds.“
Svenja Schöneich, Referentin Ressourcenpolitik, Rohstofflieferketten und Unternehmensverantwortung:
„Auch das Ziel der neuen Koalition, Handels- als auch Rohstoffpartnerschaften auf Augenhöhe abzuschließen, begrüßen wir, da die derzeit existierenden Rohstoffpartnerschaften diesem Anspruch nicht gerecht werden. Daher müssen die bestehenden Rohstoffabkommen überarbeitet und dabei konkrete Zusagen für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards gemacht werden.“
EU-Lieferkettengesetz
Finn Schufft, Referent für Unternehmensverantwortung:
“Es ist bedrückend zu sehen, wie Union und SPD unter dem Druck einiger großer Industrieverbände den Eindruck erwecken, ein von ihnen selbst beschlossenes Gesetz zur Absicherung grundlegender Menschenrechte sei vor allem lästige Bürokratie. Kommt es tatsächlich zu der angekündigten Aussetzung von Sanktionen, könnte das handfeste Auswirkungen haben auf die Menschen, die aktuell mithilfe des Gesetzes dafür kämpfen, z.B. eine faire Bezahlung für ihre Arbeit zu erhalten. Umso wichtiger ist es, dass die künftige Bundesregierung sich dafür einsetzt, das Schutzniveau der EU-Lieferkettenrichtlinie zu erhalten und sich klar gegen die entsprechenden Vorschläge der EU-Kommission positioniert. Der Koalitionsvertrag bietet dafür eine Grundlage. Denn Vereinfachungen der EU-Regeln und praxisnahe Unterstützung für kleine und mittelständische Unternehmen lassen sich auch ohne den Rückbau von Menschenrechtsregeln erreichen.”'
Verkehr/ Mobilität
Jacob Rohm, Referent für klimaneutrale Mobilität:
„Man kann nicht Sparsamkeit predigen und dann bei den Verkehrswegen mit der Gießkanne in der Hand auch unsinnige Strukturen finanzieren. Deutschland braucht jetzt endlich eine moderne und realistische Infrastrukturpolitik, die weiß, wo sie hin will und entsprechende Prioritäten setzt. Bei Straßen und Brücken geht es um notwendige Sanierungen. Aber auf dem Weg zur Klimaneutralität muss eine funktionierende, sanierte und ausgebaute Bahn mit Deutschlandtakt im Zentrum stehen. Wir brauchen kein Milliardengrab für noch mehr Straßen.“
Anja Köhne, Referentin für klimaneutralen Flugverkehr:
„Der Koalitionsvertrag strebt lediglich eine ‚Dekarbonisierung‘ des Luftverkehrs an, anstatt sich explizit zur Klimaneutralität zu verpflichten, zu der auch die erheblichen nicht-CO2-Effekte des Fliegens gehören. Die Bundesregierung sollte die für dieses Jahr angekündigte Strategie für den Luftverkehrsstandort Deutschland auf einen klimaneutralen Flugverkehr 2045 und den Hochlauf von erneuerbaren-basiertem Kerosin (eSAF/PtL) ausrichten. Um Zukunftsmärkte und Technologieführerschaft zu sichern, muss die Erreichung von PtL-Quoten unterstützt werden, statt diese planlos zu streichen. Und statt einer Senkung der Luftverkehrssteuer sollte deren Deckelung aufgehoben werden. Der Flugverkehr muss wie andere Sektoren seinen Beitrag leisten – zum Klimaschutz wie zur Haushaltskonsolidierung.“
EU-Klimapolitik
Oldag Caspar, Bereichsleiter Deutsche und Europäische Klimapolitik:
“Deutschland gibt grünes Licht für ein 90-Prozent-Klimaziel der EU bis 2040 und stellt sich dabei hinter den Europäischen Green Deal. Das ist die wichtigste beste Nachricht für den Klimaschutz aus Berlin gen Brüssel. Zum erheblichen Problem für Emissionshandel, weltweiten Klimaschutz und Menschenrechte kann dagegen das Vorhaben werden, einen immerhin mit 3 Prozent vom Gesamtziel eingegrenzten Teil der europäischen Klimaschutzleistung außerhalb der EU einzukaufen. Dafür sollen zudem nur hochqualifizierte, glaubwürdige und permanente internationale Projekte genutzt werden. Den neuen Emissionshandel für Verkehr und Gebäude will die zukünftige Regierung dadurch stärken, dass Preissprünge verhindert werden sollen. Dieser Koalitionsvertrag bietet immerhin einige Ansätze, um die Umsetzung des Europäischen Green Deal weiter voranzutreiben.”
Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)
Stefan Rostock, Bereichsleiter Bildung für nachhaltige Entwicklung:
„BNE ist die Zukunftsbildung, die als „Zukunftskompetenzen“ gestärkt werden soll. Die neue Regierung plant, massiv in Bildung zu investieren. Gut sind auch die Verankerungen von mentaler Gesundheit, Demokratiebildung und von Schüler:innenfirmen. Bundesweite Bildungsprogramme wie das Startchancenprogramm und der Digitalpakt Schule werden weiter gefördert, sie brauchen aber starke BNE-Bestandteile. Dies und die Neuauflage der „Qualitätsoffensive Lehrkräfte“ sind dann gute Schritte in die richtige Richtung, wenn sie mit BNE stärker als modernstes Bildungskonzept inhaltlich gefüllt werden und wenn die Investitionen Bildungsgerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit fördern. Breit verankerte BNE fördert nicht nur Wissen, sondern auch Handlungs- und Gestaltungskompetenzen, die notwendig sind, um die großen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu meistern – dies braucht Eingang in die schulische und außerschulische Bildung. Finanzierungsvorbehalte und dass Bildung für nachhaltige Entwicklung immer noch als ein add-on verstanden wird, schmälern die guten Ansätze im Koalitionsvertrag.Wir begrüßen die geplanten Investitionen in Jugendarbeit, Jugendfreizeit und außerschulische Jugendbildungseinrichtungen, dies kommt auch der Zusammenarbeit von Schule mit außerschulischen Partnern zugute. Der Koalitionsvertrag will zivilgesellschaftliche Akteure im Globalen Süden stärken und das bürgerschaftliche Engagement in Deutschland in Kirchen, NGOs u.a weiter fördern. Die wichtige Rolle der Zivilgesellschaft wird betont vor allem bei der Umsetzung der Menschenrechte, der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, der Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie der freien Meinungsbildung in Europa und bei der Gestaltung der Digitalisierung. Der Bezug zur Agenda-2030 kommt im Koalitionsvertrag in Form eines Versprechens, sich für ein ambitioniertes Post-Agenda-2030-Rahmenwerk einzusetzen. Wir begrüßen auch die Ziele, die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie und den Parlamentarischen Beirat für Nachhaltige Entwicklung zu stärken und weiterzuentwickeln. Der Erhalt der ökologischen Lebensgrundlagen und die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts sollten das Grundgewebe von Bildung sein - das Potential dafür ist erkennbar.“
Landwirtschaft und Ernährung
Konstantinos Tsilimekis, Bereichsleiter Welternährung, Landnutzung und Handel:
„Der Koalitionsvertrag enthält für die Bereiche Landwirtschaft und Ernährung zumindest einige begrüßenswerte Grundansinnen wie die Umsetzung von Umwelt- und Klimaschutzstandards. Erfreulich ist auch das Bekenntnis zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie und zu einer zukunftsfähigen Landwirtschaft, die auf bereichsbezogenen Dialogprozessen aufbaut (gemeint vermutlich u.a.: die Zukunftskommission Landwirtschaft, ZKL). Auch die versprochene finanzielle (Weiter-)Förderung des Aktionsprogramms Natürlicher Klimaschutz (ANK) und des Umbaus der Tierhaltung kann positiv hervorgehoben werden. Ebenso das Voranbringen einer umfassenden EU-Eiweißstrategie sowie nachhaltiger alternativer Proteine und die Erhöhung des Selbstversorgungsgrads mit Obst und Gemüse. Der Vertrag wird insgesamt aber in vielen Punkten seinen Selbstansprüchen nicht gerecht, sieht keine Einordnung der Vorhaben in eine integrierte, insbesondere auch die landwirtschaftlichen Erzeuger:innen berücksichtigende Gesamtstrategie vor und weist zudem ein übergroßes Versäumnis auf: Der notwendige ambitionierte Klimaschutz im Bereich Landwirtschaft und Ernährung wird nicht mitgedacht. Die Förderung des Umbaus der Tierhaltung etwa scheint ohne Einordnung ihrer Klimawirkung zu erfolgen – einige Passagen des Vertrags (v.a. Exportorientierung) lassen sogar einen zukünftigen größeren Ausbau der Tierhaltung befürchten, was die Klimaziele unterminieren würde.“