Pressemitteilung | 10.06.2024

Politische Mitte muss nun zusammenstehen für eine EU mit Zukunft

Germanwatch fordert nach der Europawahl eine EU-Kommission aus der proeuropäischen politischen Mitte und politische Leitlinien für die Stärkung eines sozial gerechten Green Deals
Pressemitteilung

Berlin/Brüssel (10. Juni 2024). Mit großer Sorge blickt die Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch auf den Ausgang der Europawahlen. Zwar zeigen die Ergebnisse immerhin, dass weiterhin eine klare Mehrheit der Menschen will, dass die EU demokratisch und gemeinsam Antworten auf die zentralen Krisen unserer Zeit findet. Dies wird nun aber angesichts der starken regionalen Unterschiede der Stimmenverteilung und des insgesamt starken Zuwachses bei rechtsradikalen und –extremen Parteien schwieriger. „Parteien, die die EU, demokratische Werte, Menschenwürde und ökologische Lebensgrundlagen zerstören wollen und zugleich mit Autokraten weltweit sympathisieren, sollten die Politik der EU nicht mitbestimmen. Alle Parteien, die nicht im populistischen oder gar extremistischen Spektrum zu verorten sind, müssen im neuen Europaparlament zusammenstehen. Wir brauchen ihre Entschlossenheit zu einer konstruktiven Zusammenarbeit für eine zukunftsfähige EU, die sich nicht lähmen lässt von destruktiven Kräften“, betont Silvie Kreibiehl, Vorstandsvorsitzende von Germanwatch.

Kreibiehl weiter: „Populistische Narrative entzaubert man am besten durch positive Zukunftsbilder und konstruktive politische Arbeit. Es ist jetzt Aufgabe der politischen Mitte, Mut zur nachhaltigen Erneuerung zu machen und zu zeigen, dass sie sozial gerecht machbar ist. Sie ist zudem bitter nötig, um den Wohlstand in Europa zu sichern und weltweit zu unterstützen. Nun kommt es vor allem auf die Zusammensetzung der neuen Kommission und ihre politischen Leitlinien an. Diese müssen eine zukunftsfähige Politik der EU sicherstellen, die einer in Teilen der Bevölkerungen herrschenden Sorge vor sozialen Verwerfungen durch den Wandel zur Klimaneutralität aktiv begegnet. Es geht um einen sozial gerecht und solidarisch gestalteten Wandel mit guten Perspektiven für alle. Dafür nötig ist auch konstruktives Streiten der demokratischen Parteien um die besten Lösungen statt einem Infragestellen der grundlegenden Ziele.“

Der Green Deal muss ambitioniert weiterentwickelt werden und dabei Zukunftschancen wie Energiesicherheit sowie den Umbau zu einer innovativen klimafreundlichen Industrie nutzen. Zentral wird sein, dass Mitgliedsstaaten und Parlament mit Blick auf die Kommission nur Kandidat:innen mit klarem Bekenntnis zur EU, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zum Zug kommen lassen.

Auf die Bundesregierung und die neuen Abgeordneten der proeuropäischen Parteien aus Deutschland kommt es besonders an. Silvie Kreibiehl: „Jüngste Umfragen zeigen, dass die gesellschaftliche Unterstützung für mehr Klimaschutzmaßnahmen in der gesamten politischen Mitte weiterhin groß ist. Die Bundesregierung sollte im Europäischen Rat Motor für eine innovative und sozial gerechte Umsetzung des Green Deal sein und andere Mitgliedsstaaten dabei mitnehmen.“


Blick in Themenfelder mit EU-Bezug, zu denen Germanwatch arbeitet:

Europäische Klimapolitik: Green Deal weiterentwickeln
Aus Sicht von Germanwatch muss der Green Deal, das wirtschafts- und sozialpolitische Paradigma der EU, so weiterentwickelt werden, dass er gezielt die Menschen mit geringem Einkommen an den Vorteilen des nachhaltigen Wandels teilhaben lässt - wie moderne Heizungen mit geringem Energieverbrauch und saubere Mobilität. Dabei muss die Klimazielerreichung besser abgesichert sein als bisher. Zentral dafür ist eine stärkere soziale Flankierung des neuen Emissionshandels für Verkehr und Gebäude. Eine der ersten Aufgaben der neuen Legislatur ist es, Klimaziele für 2035 und 2040 festzulegen, die mit dem Paris-Abkommen und den Beschlüssen der letzten Weltklimakonferenz in Dubai vereinbar sind. Ein Emissionsziel von minus 95 Prozent und der Ausstieg aus allen fossilen Energien bis 2040 sind vorrangig für die technologische Führungsrolle und Energiesouveränität der EU. Ein Ziel von minus 78 Prozent bis 2035 sollte einen Meilenstein dorthin markieren.

Internationale Klimapolitik: Partnerschaften strategisch gestalten
Die europäische Klimaaußenpolitik muss in den kommenden fünf Jahren gestärkt und strategischer gestaltet werden. Denn nur mit einer starken internationalen Dimension kann der Green Deal erfolgreich sein. Eine erfolgreiche Klimaaußenpolitik braucht eine klare Vision, ambitionierte Ziele und konkrete Maßnahmen für Klimaschutz und Bewältigung der Folgen der Klimakrise weltweit. Dafür müssen die notwendigen finanziellen Ressourcen bereitgestellt werden. Partnerschaften sollten als Kern der Klimaaußenpolitik verstanden werden. Nur durch eine enge Zusammenarbeit mit strategischen Partnern auf allen Ebenen der Politik, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft kann die EU ihre Sicherheit und wirtschaftliche Stabilität gewährleisten und gleichzeitig ihre Klimaziele und internationalen Verpflichtungen erfüllen.

Landwirtschaft/Ernährung: Gemeinsame Agrarpolitik neu ausrichten
In der Landwirtschaftspolitik muss die EU eine klare neue Vision und einen entsprechenden Handlungsrahmen zur Bewältigung der Klima- und Biodiversitätskrise sowie von Umwelt- und Gesundheitsrisiken schaffen. Zur langfristigen Sicherung unserer Ernährung muss sie zudem rasch für eine Anpassung der Nahrungsmittelproduktion an den fortschreitenden Klimawandel sorgen. Auch auf die besondere Förderung strukturell schwächerer Betriebe sollte die neue gemeinsame Agrarpolitik, die ab 2027 in Kraft treten wird, frühzeitig ausgerichtet werden. Gefördert werden sollten insbesondere der Umbau zu einer nachhaltigen und artgerechten Tierhaltung, die Wiedervernässung von Mooren und die Reduktion der regionalen Stickstoffüberdüngung mit mineralischen und organischen Düngern. Zudem sind Anreize zur Stärkung der Artenvielfalt und der Kohlenstoffsenken nötig. Parallel sollten dazu im Rahmen der Gesundheitspolitik neue Initiativen für eine gesunde, pflanzlichere und vielfältige Ernährung der Verbraucher:innen aufgelegt werden, insbesondere aus regionalem Anbau.

Wirtschaft und Menschenrechte: Verantwortliche Rohstoffpolitik
In den kommenden Jahren muss die EU eine Rohstoffpolitik verfolgen, die die grüne Transformation ermöglicht und dabei höchste soziale und ökologische Standards im Rohstoffabbau einhält. Dazu muss die EU Weichen stellen, um den Rohstoffbedarf mittelfristig auf ein Maß zu reduzieren, das die Grenzen des Planeten nicht überdehnt. Dafür ist eine ganzheitliche Kreislaufwirtschaft zentral. Zudem muss bei geplanten Partnerschaften mit rohstoffreichen Ländern die Einhaltung internationaler Menschenrechts- und Umweltstandards sichergestellt werden. Dafür müssen zivilgesellschaftliche Organisationen und Betroffene aus Bergbauregionen einbezogen und das kürzlich verabschiedete EU-Lieferkettengesetz wirksam umgesetzt werden. Außerdem müssen die Partnerschaften dazu beitragen, dass mehr Wertschöpfung in den Abbauländern möglich wird.

Zukunftsfähige Finanzflüsse: Enorme Investitionen in Transformation
Eine sozial gerechte Transformation zu einer nachhaltigen Wirtschaft erfordert enorme Investitionen. Zudem werden immer mehr Gelder benötigt, um Anpassungsmaßnahmen an Umweltveränderungen zu stemmen sowie für die Schäden und Verluste infolge der Klimakrise aufzukommen. Laut Schätzungen der KfW müssen rund 90 Prozent der benötigten Investitionen für Klimaneutralität in Deutschland vom Privatsektor realisiert werden. Der Privatsektor braucht regulative Klarheit. Dies unterstreicht die Bedeutung der europäischen Sustainable Finance Regulierung. In der neuen Legislatur muss die Sustainable Finance Agenda ambitioniert weiterverfolgt werden. Entsprechend ihrer historischen Verantwortung muss die EU die internationale Klimafinanzierung für die Ärmsten ausbauen, denn der Bedarf steigt rapide. Gleichzeitig muss der in der kommenden Legislatur neu zu verhandelnde EU-Finanzrahmen wegweisend gestaltet werden, um die Modernisierung des europäischen Energie- und Industriesektors voranzutreiben. Dafür ist eine deutliche Erhöhung der EU-Haushaltsmittel nötig, zum Beispiel durch innovative Instrumente wie Abgaben auf internationale Flug- und Schifffahrtsemissionen bei gleichzeitiger Abschaffung fossiler Subventionen.