Blogpost | 16.02.2023

Der Kipppunkt des westantarktischen Eisschilds: Millionen von Menschen in Küstenregionen in Gefahr

Blogreihe zu Klimakipppunkten #4
Foto von Mohamed Seenen / Climate Visuals

Foto von Mohamed Seenen / Climate Visuals

Kipppunkte sind bestimmte Schwellenwerte im Klimasystem der Erde. Ihr Überschreiten führt zu abrupten und in der Regel irreversiblen Veränderungen in diesem System. In den letzten zehn Jahren hat die Forschung auf diesem Gebiet wichtige Fortschritte erzielt: Mittlerweile wissen wir, dass einige Kipppunkte in den nächsten Jahrzehnten überschritten werden könnten, was die ohnehin schon gefährliche Klimasituation drastisch verschärfen würde.

Kleine, allmähliche Veränderungen – z. B. ein globaler Temperaturanstieg – können bei Kipppunkten zu rapiden und extremen Reaktionen im Erdsystem führen. Die Folgen reichen von einem Temperaturanstieg, veränderten Niederschlagsmustern, einer Zunahme der Sturmintensität bis hin zu Überschwemmungen und Dürren und gehen sogar noch weiter als die bereits im Zusammenhang mit dem Klimawandel vorhergesagten Szenarien.

Die daraus resultierenden Veränderungen werden das Leben von Millionen von Menschen gefährden, vor allem in den am stärksten benachteiligten Weltregionen: Lebensgrundlagen werden wegfallen, Häuser werden zerstört, ganze Gemeinschaften werden zerbrechen und Menschen werden ihr Leben verlieren. Aufgrund der wachsenden Bedrohung werden zunehmend Forderungen nach einem sofortigen politischen Handeln laut, um die globalen Treibhausgasemissionen zu reduzieren und den besonders schutzbedürftigen Menschen zu helfen, sich auf ein feindlicheres Klima vorzubereiten.

In dieser Blog-Reihe werfen wir einen Blick auf vier der gefährlichsten Kipppunkte: den Amazonas-Regenwald, die atlantische meridionale Umwälzbewegung, die Korallenriffe und den westantarktischen Eisschild.Außerdem geben wir einen Überblick über die konkreten Prozesse und ihre Folgen für die menschliche Sicherheit, einschließlich der so wichtigen Frage von Schäden und Verlusten – ein Thema, das auf der COP27 viel diskutiert wurde.


Laut einer im Jahr 2019 veröffentlichten Studie eines Forschungsteams unter der Leitung von Wissenschaftler:innen der University of New South Wales war das massive Abschmelzen des Westantarktischen Eisschilds (WAES) – getrieben durch die steigenden Wassertemperaturen – eine der Hauptursachen für den extremen Meeresspiegelanstieg vor 129.000 bis 116.000 Jahren. Die Studie kam zu dem Schluss, dass das Schmelzen des Westantarktischen Eisschilds einen Meeresspiegelanstieg um mehr als drei Meter zur Folge hatte und dass die zugrundeliegende Erwärmung der Ozeane weniger als 2°C betrug. Wahrscheinlich verlor der WAES damals einen Großteil seiner Masse, da das Eis schmolz und in das angrenzende Meer strömte.

Es gibt mehrere geologische Beweise dafür, dass ein solcher Zusammenbruch des WAES in der Vergangenheit wiederholt stattgefunden hat. Gegen Ende der letzten Eiszeit vor etwa 12.000 Jahren kam es zu einem abrupten Rückzug des Eises, was in den Daten des östlichen Rossmeer-Kontinentalschelfs gut dokumentiert ist. Grund für den rasanten Eisverlust war ein Schelfeisbruch.

Zwar liegt die letzte Massenschmelze des WAES viele tausend Jahre zurück, die Welt hat überlebt und wir haben gesehen, dass sich der Eisschild mit der Zeit regenerieren kann. Allerdings lebten damals nicht Hunderte von Millionen von Menschen in Küstenmetropolen. Heute sind die Gefahren des Meeresspiegelanstiegs aufgrund der abschmelzenden Eisschilde ein viel diskutiertes Thema auf internationalen Klimakonferenzen wie der COP27, die zuletzt in Ägypten stattfand – und zwar genau aufgrund des Risikos für die Menschen in Küstenregionen auf der ganzen Welt. Dem Weltklimarat (IPCC) zufolge wird die globale Unsicherheit im Zusammenhang mit dem klimawandelbedingten Meeresspiegelanstieg nach 2050 aufgrund der Unwägbarkeiten in Bezug auf die möglichen Emissionsszenarien und die damit verbundenen Klimaänderungen sowie die Reaktion des antarktischen Eisschilds drastisch zunehmen.

Die geologischen Daten über die Veränderungen der Eisschilde sind fundiert und haben unter den sich vom Menschen verursachten ständig wandelnden Klimabedingungen eine offensichtliche Bedeutung für unsere nahe Zukunft.

Was ist der WAES und wie wichtig ist er?

Abb. 1. Karte der Antarktis: die Westantarktis und ihre verschiedenen Eisschilde und Schelfe (Quantarctica/Norwegian Polar Institute / Carbon Brief).

Der WAES ist ein Teil des kontinentalen Eisschilds der Antarktis. Da sein Fundament unter dem Meeresspiegel liegt, wird er auch als mariner Eisschild bezeichnet. Genau wie andere Eisschilde – der größte auf der Erde ist der Ostantarktische Eisschild – ist der WAES ein gigantischer Wasserspeicher, der den Meeresspiegel konstant und die Küsten intakt hält. Mit seinem östlichen und westlichen Eisschild und seiner Halbinsel birgt die Antarktis genug Eis, um den globalen Meeresspiegel um fast 60 Meter anzuheben. Der WAES macht davon nur einen relativ kleinen Teil aus – etwas mehr als 3 Meter –, gilt aber aufgrund seiner prekären Lage als besonders gefährdet. Über einen Zeitraum von Jahrhunderten bis Jahrtausenden könnte ein Zusammenbruch des gesamten WAES zu einem mittleren globalen Meeresspiegelanstieg von etwa 3,3 Metern führen. Die Folge wäre eine Überflutung von Küstengebieten und Städten, in denen Hunderte von Millionen Menschen leben.

Aufgrund der gewaltigen Masse des Eisschildes sinkt das darunterliegende Gestein ab, das Eis verformt sich und treibt anschließend angetrieben von seinem eigenen Gewicht weiter. Erreicht das Eis die Küste, kalbt es entweder – d. h. riesige Brocken brechen als Eisberge ab – oder es fließt weiter aufs Wasser hinaus, in der Regel in die Amundsensee. So entsteht ein großes, schwimmendes Schelfeis, das im Grunde genommen einen Teil des Kontinents darstellt. Wie bereits weiter oben erwähnt, liegen große Teile des WAES auf Gestein auf, das unter dem Meeresspiegel liegt. Aus diesem Grund ist er extrem anfällig für steigende Meerestemperaturen, sodass ein kleiner Rückzug des Eises theoretisch den gesamten Eisschild destabilisieren und zu einem rasanten Zusammenbruch führen könnte.

Inzwischen wissen wir, dass der WAES vermehrt Eis verliert und dass seine Stabilität nachlässt. Über die drei großen Gletscher der Region gelangt das Eis in die angrenzende Amundsensee: den Pine-Island-Gletscher, den Thwaites-Gletscher und den Smith-Gletscher. Messungen zeigen, dass diese drei Gletscher mehr Eis verlieren als durch Schneefall regeneriert wird. Die Hauptsorge ist daher der potenzielle Verlust des Schelfeises, denn dieses stützt die Gletscher.

Satellitenaufnahmen des CryoSat-2 der Europäischen Weltraumorganisation zeigen, dass der WAES jährlich mehr als 150 Milliarden Tonnen Eis verliert (genug, um den weltweiten Meeresspiegel jedes Jahr um bis zu 0,45 mm anzuheben). Der Verlust ist besonders ausgeprägt dort, wo das schwimmende Schelfeis auf den Teil trifft, der auf Grundgestein aufliegt. Das wiederum hat Auswirkungen auf die gesamte Eisstabilität und die Eisflussraten.

Abb. 2. Eisberg in der Antarktis, der vom Ross-Schelfeis in der Antarktis gekalbt ist (LouieLea / Shutterstock).

Kipppunkt: Wissenschaftliche Grundlagen und Gefahren

Höhere Temperaturen lassen das Eis unter der Oberfläche schmelzen und machen die marinen Eisschilde instabil. Zahlreiche Forschungsarbeiten deuten darauf hin, dass der Kipppunkt bereits erreicht ist. Eine neuere Studie kommt zu dem Schluss, dass der Schwellenwert für den unwiederbringlichen Verlust des WAES wahrscheinlich bei oder über 1,5°C über der vorindustriellen Mitteltemperatur liegt, möglicherweise jedoch sogar bei nur 1°C – und diesen Punkt haben wir bereits erreicht.

Prof. Timothy Lenton erklärt in einem Interview mit Germanwatch, dass „eine ziemlich große Unsicherheit darüber besteht, wie schnell der WAES verschwinden kann. Während der Kipppunkt bei 1,5°C-2°C zu liegen scheint, ist unklar, ob ein vollständiger Zusammenbruch Jahrhunderte oder Jahrtausende dauern würde“. Eine andere Studie vermutet einen weiteren Schwellenwert zwischen 2°C und 2,7°C. Wird dieser Schwellenwert erreicht, so die Studie, könnten mehrere größere Systeme aktiviert werden, wie z. B. das Ross- und das Ronne-Filchner-Einzugsgebiet. Das wiederum könnte das Abschmelzen weiter verstärken, woraufhin der Meeresspiegel weiter steigen würde.

Hinzu kommt, dass der so genannte eustatische Meeresspiegelanstieg aufgrund von Änderungen der Schwerkraftmasse des Eisschildes selbst nicht gleichmäßig über die weltweiten Küstenregionen verteilt ist. Mit Blick auf die Folgen für die Menschen ist daher zu berücksichtigen, dass der durch das Abschmelzen des WAES verursachte Anstieg des Meeresspiegels in einigen Regionen gravierendere Auswirkungen haben wird als in anderen.

Sozioökonomische Auswirkungen, Schäden und Verluste und menschliche Sicherheit

Vulnerabilität

Die Bedeutung des Meeresspiegelanstiegs für die Küstenbevölkerung erschließt sich leichter, wenn wir zunächst ihre Vulnerabilität bewerten. Weltweit sind 410 Millionen Menschen und 4.107 Tausend Quadratkilometer Land durch einen Anstieg des Meeresspiegels um 5 m gefährdet – wobei die Bevölkerungszahlen an den Küsten ständig steigen. Wie bereits erwähnt, ist die geografische Gefährdung sehr unterschiedlich: Einige kleine Inselentwicklungsländer (SIDS) liegen tiefer als andere. Ebenso gibt es große Unterschiede, was die Wirtschaftskraft angeht, beispielsweise zwischen den Küsten der Niederlande und denen von Bangladesch, und damit auch im Grad der Anfälligkeit. Die Vulnerabilität der betroffenen Regionen ist also sehr ungleichmäßig.

Aufgrund gemeinsamer geografischer Merkmale sind die SIDS besonders gefährdet. Die SIDS sind eine Gruppe von 57 kleinen Inselstaaten, in denen über 62 Millionen Menschen leben. Sie zeichnen sich in der Regel durch hohe Bevölkerungsdichten und -wachstumsraten aus. Viele dieser Länder leiden unter nicht-nachhaltigen menschlichen Aktivitäten, einschließlich der Zerstörung von natürlichen Küstenschutzmechanismen wie Korallenriffe und Mangrovenwäldern. Die Bevölkerung und die Wirtschaftstätigkeit in diesen Regionen konzentrieren sich vor allem an den Küsten. Folglich sind nicht nur Menschen, sondern auch Straßen, Schulen, Häuser und Fabriken von Überschwemmungen bedroht.

Etwa 80 % der Infrastruktur und der Bevölkerung auf den Seychellen befinden sich an der Küste. Auf Dominica sind es sogar 90 %. Die Küstengebiete sind ein attraktiver Ort zum Leben und Arbeiten. Außerdem sind höher gelegene Gebiete anfälliger für Stürme und Hurrikans. Ein Großteil des besiedelten Landes liegt unterhalb des Meeresspiegels und wurde im Zuge des Bevölkerungswachstums bewohnbar gemacht. Insgesamt leben etwa 22 Millionen Menschen in der Karibik in überflutungsgefährdeten Regionen.

Ein Anstieg des Meeresspiegels um 0,5 m würde für die 136 Hafen-Megastädte der Welt einen Vermögensverlust von bis zu 28 Milliarden US-Dollar bedeuten. Jegliche Beschädigung von Hafenanlagen schwächt die wirtschaftliche Sicherheit, insbesondere in kleinen Inselstaaten. Barbados zum Beispiel ist in den Sektoren Lebensmittel, Treibstoff und Baumaterialien abhängig von Importen.

Folglich spielt die Subsistenzlandwirtschaft eine wichtige Rolle, vor allem in niedrig gelegenen Atoll-Staaten, in denen die Ernährungssicherheit aufgrund der Wasserknappheit beeinträchtigt ist. Süßwasser reagiert sehr empfindlich auf Veränderungen des Meeresspiegels. Auch andere wichtige Wirtschaftszweige sind durch den Klimawandel gefährdet: Fischerei und Tourismus. Speziell der Tourismus bringt die Investitionen und Steuereinnahmen, die für das Wirtschaftswachstum unerlässlich sind. Ohne sie fällt das soziale Sicherheitsnetz weg.

Die Mittel für einseitige Eindämmungs- oder Anpassungsbemühungen sind knapp. Das gleiche gilt für die Kapazitäten. Aufgrund des Bildungsmangels fehlt es an qualifiziertem Personal für die Planung und Umsetzung von Anpassungsmaßnahmen. Kurzum: Zahlreiche Menschen in den SIDS laufen Gefahr, ihr Zuhause oder sogar ihr Leben zu verlieren und viele von ihnen leben in wirtschaftlicher Unsicherheit, weil sie Berufe ausüben, die durch den Anstieg des Meeresspiegels ernsthaft bedroht sind. Außerdem leben die meisten von ihnen in Gemeinschaften, die nicht über die nötigen Mittel verfügen, um der Unsicherheit entgegenzuwirken. Zwar sind alle Küstenbevölkerungen durch den Anstieg des Meeresspiegels gefährdet, die Menschen auf den SIDS sind jedoch besonders betroffen. Daher wollen wir uns nun den negativen Folgen zuwenden, die vermutlich auf sie zukommen werden.

Abb. 3: Der maledivische Minister für Fischerei und Landwirtschaft, Dr. Ibrahim Didi, unterzeichnet ein Dekret unter Wasser, um auf die durch den Anstieg des Meeresspiegels verursachte Bedrohung für die Malediven aufmerksam zu machen (Mohamed Seeneen / Climate Visuals).

Allgemeine Kosten

Die Kosten des Anstiegs des Meeresspiegels fallen in die Kategorie „Schäden und Verluste“, die sowohl die Ausgaben für die Minderung bestimmter Folgen des Klimawandels als auch die Kosten für die Auswirkungen berücksichtigt, die nicht verhindert werden können. Die weltweiten Gesamtkosten liegen je nach Studie zwischen weniger als 1 % des globalen jährlichen BIP und bis zu 5 % bis zum Jahr 2100. Die Höhe der Kosten hängt davon ab, wie stark die Erderwärmung ausfällt und wie erfolgreich wir uns anpassen können, aber auch von den für die jeweiligen Studien verwendete Methodik. Die kostspieligsten Folgen sind eine permanente Überflutung, Überschwemmungen und insbesondere die Umsiedlung ganzer Bevölkerungen.

Um die konkreten Kosten zu ermitteln, müssen wir einen Blick in die Vergangenheit werfen. Die durch Hurrikan Dorian verursachten Schäden und Verluste, die auch durch den Anstieg des Meeresspiegels verursacht wurden, kosteten die Bahamas 1 % des BIP, 2,5 Mrd. USD an Schäden und 717 Mio. USD an Verlusten. 30.000 Menschen waren von dem Sturm betroffen, 282 Personen gelten seitdem als vermisst und 67 Menschen verloren ihr Leben. Von 1990 bis 2013 beliefen sich die durch tropische Wirbelstürme verursachten Gesamtschäden auf über 10 % des aggregierten BIP von neun SIDS. Mit dem Anstieg des Meeresspiegels werden extreme Wetterereignisse wie diese noch häufiger. Insgesamt haben die pazifischen SIDS das höchste Pro-Kopf-Katastrophenrisiko weltweit. Und dieses Risiko wird bekanntlich noch erheblich steigen. Versuchen wir nun zu verstehen, was das konkret bedeutet.

Rückzug und Umsiedlung

Zwar sind derzeit 85 % der gefährdeten und besiedelten Küsten der Welt noch geschützt, doch mit dem Anstieg des Meeresspiegels wird dieser Anteil bis 2030 auf 50 % sinken, was die Unsicherheit von Millionen von Menschen an den Küsten noch weiter verschärfen wird. Der Schutz zahlreicher Küsten wird sich als zu teuer erweisen. Unzählige Menschen müssen dann ihre Häuser und Gemeinden gegen ihren Willen verlassen.

Weltweit werden bis zum Jahr 2100 bis zu 5,7 % der SIDS-Bevölkerung von Hochwasser bedroht sein, wobei einige SIDS stärker betroffen sein werden als andere. Wenn der Meeresspiegel um 1 Meter ansteigt, werden die Malediven ganz verschwinden. Grenada würde 60 % seiner Strände verlieren. Tuvalu prüft die Möglichkeit, von einem anderen Staat Land zu kaufen, um der drohenden Gefahr entgegenzuwirken, doch gibt es nur wenige Beispiele für erfolgreiche Umsiedlungen dieser Art. Bei der Umsiedlung der Bevölkerung der Gilbert-Inseln auf den Salomonen kam es zu zahlreichen Spannungen. Für Frauen ist eine Umsiedlung aufgrund verschiedener geschlechtsspezifischer Normen und Strukturen zudem weitaus schwieriger als für Männer. Maledivische Frauen werden beispielsweise durch die soziale Stigmatisierung davon abgehalten, verschiedene Berufe auszuüben, wodurch sie weniger beschäftigungsfähig sind. Allerdings haben sie kaum eine andere Wahl. Mit der Umsiedlung werden die Menschen aufs den SIDS mit Problemen wie Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und dem Auseinanderbrechen von Familien und Gemeinschaften rechnen müssen.

Jedoch sind die SIDS nicht allein betroffen. Auch an vielen anderen Orten wird es zu massenhaften Umsiedlungen kommen. Selbst dort, wo die Küsten geschützt werden können, wird die Angst vor gefährlichen Wetterereignissen Menschen dazu bringen, ihr Land zu verlassen. Viele werden den unternommenen Anpassungsmaßnahmen nicht trauen und häufig werden sie damit Recht haben. Ein schlecht umgesetzter Hochwasserschutz verstärkt die Unsicherheit für die Küstenbevölkerung. Abgesehen von den zahllosen Herausforderungen für die menschliche Sicherheit, die durch solche Umsiedlungen verschärft werden, gehen die damit verbundenen Kosten zwangsläufig zu Lasten der Sozialausgaben an anderer Stelle.

Abb. 4. Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs in den USA: Verlassene, überflutete und zerstörte Häuser entlang der einzigen Straße, die durch die Isle de Jean Charles in Terrebonne (Louisiana) führt (Juan Diego Reyes / Climate Visuals).
Wasser und Ernährungssicherheit

Für diejenigen, die das Glück haben, in ihrem Zuhause bleiben zu können, wird das Leben deutlich schwieriger werden. Grund dafür ist vor allem die Wasserversorgung. In den Küstengebieten ist das Süßwasser weniger gut vom Salzwasser abgeschottet. Außerdem sind viele SIDS auf eine einzige Wasserquelle angewiesen. Mit dem Anstieg des Meeresspiegels steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Salzwasser in das Trinkwasser gelangt. Dadurch könnte für viele Gemeinden die Trinkwasserversorgung knapp und unsicher werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass in weiten Teilen des Pazifiks vor allem an den Küsten Ackerbau betrieben wird. Nur wenige essbare Pflanzenarten vertragen Salz. Da sich die Bodenqualität durch die Versalzung verschlechtert, wird selbst die relativ anpassungsfähige Kokospalme irgendwann absterben. Darüber hinaus wird die Landwirtschaft unter den Auswirkungen leiden, die der Verlust der biologischen Vielfalt auf die Ökosysteme haben wird. In Verbindung mit dem Verlust von Land durch Überschwemmungen und Überflutungen ist daher ein drastischer Anstieg der Ernährungsunsicherheit zu erwarten. Das Ausmaß hängt von den Anpassungsmaßnahmen ab, allerdings ist davon auszugehen, dass die Lebensmittelpreise steigen und die Abhängigkeit von Importen zunehmen wird. Sogar die Fischbestände – ein wichtiges Grundnahrungsmittel der Region – können sich nur schwer regenerieren, da der Anstieg des Meeresspiegels und die Erwärmung ihre Mangroven- und Seegrasbestände zerstören.

Nicht-wirtschaftliche Schäden und Verluste

Um das Ausmaß der Unsicherheit zu erfassen, die die Kipppunkte auslösen, müssen wir auch die Risiken für die kulturelle Identität berücksichtigen: Bei einem Temperaturanstieg von 3 °C wird der Anstieg des Meeresspiegels fast 20 % der UNESCO-Welterbestätten gefährden.

Abb. 5. Hochwasser in einem Kanal in Venedig: Die 1.600 Jahre alte Stadt ist in Folge des Klimawandels sowohl von einer Bodensenkung als auch vom weltweiten Anstieg des Meeresspiegels betroffen (Adam Sébire / Climate Visuals).

Die Zerstörung von religiösen Stätten, Schutzgebieten und Kulturerbestätten gefährdet die kulturelle Identität und beeinträchtigt den sozialen Zusammenhalt. Im Fall von Monkey River Village in Belize ist der Gemeindefriedhof durch Küstenerosion bedroht, die durch den Anstieg des Meeresspiegels noch verschärft wird. Der Friedhof hat für die lokale Bevölkerung einen hohen spirituellen und emotionalen Wert und erfüllt darüber hinaus wichtige gesellschaftliche Funktionen.

Die Forschung hat gezeigt, dass die Solidarität und der Zusammenhalt von Gemeinschaften, verbunden mit einer ortsbezogenen Identität, durch Umsiedlungen infolge des Meeresspiegelanstiegs geschwächt werden. Dadurch wird bekanntermaßen auch die Anpassungsfähigkeit eingeschränkt. Mit anderen Worten: Die Sicherheit der kulturellen Identität ist untrennbar mit anderen Formen der Sicherheit verbunden. Kein Wunder also, dass sich die psychische Gesundheit der Menschen in Tuvalu dramatisch verschlechtert.

Anpassung

Welche Auswirkungen das Überschreiten des WAES-Kipppunktes hat, hängt davon ab, wie gut sich die Welt an die neuen Gegebenheiten anzupassen vermag. Die globale Ungleichheit ist dabei ein wesentlicher Faktor. In den Niederlanden werden die Anpassungskosten auf 3-4 % des BIP geschätzt. In Jamaika hingegen kann ein Anstieg des Meeresspiegels um 1 Meter 19 % des BIP ausmachen. Das ist offensichtlich nicht finanzierbar. Um Malé, die Hauptstadt der Malediven, vor Überschwemmungen zu schützen, wurde für 4.000 US-Dollar pro Meter ein Schutzwallsystem errichtet. Dieses wurde größtenteils von der japanischen Regierung finanziert. Um die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu schützen, sind ähnliche Bemühungen in weit größerem Umfang erforderlich.

Angesichts ihrer extremen Vulnerabilität und der daraus resultierenden verheerenden Kosten sind die meisten SIDS nicht in der Lage, umfangreiche Anpassungsmaßnahmen durchzuführen. Nach Angaben der UNO ist es den meisten nicht einmal möglich, die für eine erfolgreiche Anpassung erforderlichen Folgenabschätzungen vorzunehmen. Selbst wenn es Hilfe gibt, wird diese wahrscheinlich zu Lasten anderer wichtiger sozioökonomischer Schwerpunkte gehen und die Unsicherheit auf andere Bereiche verlagern.

Obwohl die Zahlen je nach Studie variieren (z. B. 1, 2), besteht Einigkeit darüber, dass durch umfassende Anpassungsmaßnahmen die Schäden und Verluste, die der Anstieg des Meeresspiegels für die Küstenbevölkerungen mit sich bringt, drastisch reduziert werden können. Wie sich gezeigt hat, verbessert die Nutzung bestehender kultureller Verbindungen und Praktiken die Erfolgsaussichten erheblich. Das ist immerhin eine positive Voraussetzung für den Beginn der Anpassung.

Offene Forschungsfragen

Obwohl der WAES zu den besser erforschten Kipppunkten gehört, müssen noch eine Menge Daten erhoben werden. Wir wissen nicht genug darüber, wie erfolgreich die verschiedenen Anpassungsmaßnahmen sein werden, und auch nicht, welche Grenzen der Anpassung möglicherweise gesetzt sind. Zudem verfügen wir nicht über genügend Daten aus den SIDS, um die möglichen Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs in der Region präzise einschätzen zu können. Zu oft müssen wir uns auf sehr abstrakte globale Schätzungen verlassen, die zum Teil völlig falsch liegen, da sie nicht ausreichend auf länderbezogenen Daten beruhen. Das heißt auch, dass die unterschiedliche Vulnerabilität nicht ausreichend erforscht ist.

Obgleich in jüngster Zeit gewisse Anstrengungen unternommen wurden, nicht-ökonomische Schäden und Verluste zu berücksichtigen, muss noch wesentlich mehr in dieser Hinsicht getan werden. Wenn wir die nicht-ökonomischen Verluste nicht in unsere Berechnungen der sozialen Kosten von Kohlenstoff einbeziehen, dann unterschätzen wir mit großer Wahrscheinlichkeit die Schäden, die das Überschreiten von Kipppunkten für die Küstenbevölkerungen mit sich bringen wird.


Dr. Conor Purcell ist Klimaforscher und preisgekrönter wissenschaftlicher Autor. Dr. Michael Keary ist Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Umweltpolitik und politische Theorie. Die Autoren sind Mitbegründer von NovaAura Research, das NGOs und staatlichen Einrichtungen bei der Einschätzung zukünftiger Klimaprognosen und Umweltpolitik hilft.

Autor:innen

Dr. Conor Purcell, Dr. Michael Keary