Korallenriffe könnten noch in diesem Jahrzehnt ihren Kipppunkt überschreiten
Abb. 1: Korallenbleiche bei Magnetic Island im Great Barrier Reef (Victor Huertas / Greenpeace).
Kipppunkte sind bestimmte Schwellenwerte im Klimasystem der Erde. Ihr Überschreiten führt zu abrupten und in der Regel irreversiblen Veränderungen in diesem System. In den letzten zehn Jahren hat die Forschung auf diesem Gebiet wichtige Fortschritte erzielt: Mittlerweile wissen wir, dass einige Kipppunkte in den nächsten Jahrzehnten überschritten werden könnten, was die ohnehin schon gefährliche Klimasituation drastisch verschärfen würde.
Kleine, allmähliche Veränderungen – z. B. ein globaler Temperaturanstieg – können bei Kipppunkten zu rapiden und extremen Reaktionen im Erdsystem führen. Die Folgen reichen von einem Temperaturanstieg, veränderten Niederschlagsmustern, einer Zunahme der Sturmintensität bis hin zu Überschwemmungen und Dürren und gehen sogar noch weiter als die bereits im Zusammenhang mit dem Klimawandel vorhergesagten Szenarien.
Die daraus resultierenden Veränderungen werden das Leben von Millionen von Menschen gefährden, vor allem in den am stärksten benachteiligten Weltregionen: Lebensgrundlagen werden wegfallen, Häuser werden zerstört, ganze Gemeinschaften werden zerbrechen und Menschen werden ihr Leben verlieren. Aufgrund der wachsenden Bedrohung werden zunehmend Forderungen nach einem sofortigen politischen Handeln laut, um die globalen Treibhausgasemissionen zu reduzieren und den besonders schutzbedürftigen Menschen zu helfen, sich auf ein feindlicheres Klima vorzubereiten.
In dieser Blog-Reihe werfen wir einen Blick auf vier der gefährlichsten Kipppunkte: den Amazonas-Regenwald, die atlantische meridionale Umwälzbewegung, die Korallenriffe und den westantarktischen Eisschild. Außerdem geben wir einen Überblick über die konkreten Prozesse und ihre Folgen für die menschliche Sicherheit, einschließlich der so wichtigen Frage von Schäden und Verlusten – ein Thema, das auf der COP27 viel diskutiert wurde.
Im März 2022 meldete die Great Barrier Reef Marine Park Authority erneut eine auf die steigenden Meerestemperaturen zurückzuführende Massenbleiche des Great Barrier Reef. Das war bereits das vierte Mal innerhalb von sechs Jahren, dass Schäden eines solchen Ausmaßes beobachtet wurden. Die erste Massenbleiche trat 1998 auf, weitere folgten in den Jahren 2002, 2016, 2017 und 2020. Nach der letzten Bleiche im März 2022 sprach die UNESCO in einem Bericht die Empfehlung aus, das Great Barrier Reef in die Liste der gefährdeten Welterbestätten aufzunehmen.
Das Great Barrier Reef ist nur ein Beispiel für die weltweite Zerstörung von Korallenriffen. Das rasante Sterben zahlreicher Riffe in den vergangenen zehn Jahren ist eines der deutlichsten Anzeichen dafür, dass die Dinge gewaltig schieflaufen. In diesem Blog-Beitrag werfen wir einen Blick auf die Eigenschaften der Korallenriffe und erörtern, warum sie als Klimakipppunkt gelten. Außerdem schauen wir uns einige menschliche und sozioökonomische Folgen an, die in den kommenden Jahrzehnten zu erwarten sind.
Was sind Korallenriffe und warum sind sie so wichtig?
Korallenriffe werden oft als Regenwälder des Meeres bezeichnet und gehören zu den vielfältigsten Ökosystemen der Erde. Entstanden sind sie vor fast einer halben Milliarde Jahren. Sie beherbergen eine außergewöhnliche Artenvielfalt und schaffen ökologische Nischen für zahlreiche Lebewesen – unter anderem für zwischen 1 und 9 Millionen Fischarten. Das Great Barrier Reef, das sich über 2.300 Kilometer vor der Nordostküste Australiens erstreckt, ist in der Tat eines der artenreichsten Ökosysteme der Welt. Durch den Menschen verursachte Phänomene wie Überfischung, die zunehmende Versauerung der Meere und die Erderwärmung stellen jedoch eine Bedrohung für die tropischen und subtropischen Korallenriffe dar. Wenn die Wassertemperatur einen bestimmten Schwellenwert überschreitet, kommt es zu einer unumkehrbaren Korallenbleiche, die wiederum das Korallensterben begünstigt. Dabei verstärkt die Versauerung der Meere – eine chemische Reaktion auf die Erderwärmung – die durch den Temperaturanstieg verursachten Schäden zusätzlich.
Wie Professor Timothy Lenton in einem Interview mit Germanwatch erklärt, hängt der Lebensunterhalt von Hunderten Millionen Menschen von den Korallenriffen ab. Gemessen an ihrem wirtschaftlichen Wert pro Fläche sind sie das wertvollste Ökosystem der Erde. „Sie beherbergen eine riesige Artenvielfalt, was an sich schon einen besonderen Wert hat“, so Professor Lenton. Wenn dieser Klimakipppunkt überschritten wird, sind darüber hinaus zahlreiche Menschen, die auf Korallenriff-Atollen leben, in Gefahr.
Laut Lenton sind Korallenriffe wichtige Ökosysteme für die Fischerei und den Tourismus und dienen als Zufluchtsort und Oase für eine riesige Vielfalt an Meereslebewesen. Im Grund sind sie wie ein tropischer Regenwald im Meer und bieten einen Nährboden, den die Menschen im Globalen Süden entlang der Küstenregionen für sich und die Wirtschaft nutzen. Insbesondere in Korallenriffregionen in den niedrigen Breitengraden ist das wichtig, da es sich dabei in der Regel um Entwicklungsländer handelt. Die Riffe schützen die Bevölkerung darüber hinaus vor Sturmfluten. Bei Überschreiten ihres Kipppunktes wäre ihre Küstenschutzfunktion jedoch nicht mehr gewährleistet.
Der Kipppunkt: Wissenschaftliche Grundlagen und Gefahren
Wenn wir von Korallenriffen im Kontext von Klimakipppunkten sprechen, meinen wir vor allem die tropischen Korallenriffe, die überwiegend auf der Südhalbkugel zu finden sind. Diese sind besonders gefährdet, weil sie nur an ein geringes Spektrum von Wassertemperaturen und Säuregraden angepasst sind. Die Riffe gelten als Klimakipppunkt, da ihr Ausbleichen und ihr Absterben unwiderrufliche Ökosystemveränderungen nach sich ziehen könnten. Das kann, wie bereits erwähnt, eine Reaktion auf den Anstieg der Meerestemperaturen und die zunehmende Versauerung sein, die durch die vom Menschen verursachte Erderwärmung und den CO2-Eintrag in die Meere verursacht werden.
Wie Prof. Timothy Lenton in unserem Interview erklärt, wird aktuell davon ausgegangen, dass auch eine Begrenzung der Erderwärmung auf 2°C über der vorindustriellen globalen Durchschnittstemperatur die meisten Riffe nicht retten wird. Aufgrund ihrer geringen Temperaturtoleranz leben einige Korallenarten derzeit an oder nahe ihrer Belastungsgrenze. Der prognostizierte Anstieg der Meeresoberflächentemperatur lässt daher vermuten, dass die Wärmetoleranz der riffbildenden Korallen in den nächsten Jahrzehnten überschritten wird. Der Weltklimarat (IPCC) schätzt, dass zwischen 70 und 90 % der tropischen und subtropischen Korallenriffe bei einem Temperaturanstieg von 1,5°C über den vorindustriellen Durchschnittstemperaturen absterben, wobei bei 2°C nahezu alle Korallenriffe verschwinden würden – was ungefähr dem im Pariser Abkommen vereinbarten globalen maximalen Temperaturanstieg entspricht. Wann wird dieser Kipppunkt überschritten? Mit hoher Wahrscheinlichkeit in den kommenden zehn Jahren.
Laut Professor Lenton herrscht „allgemeine Übereinstimmung in Bezug auf den Status von Korallenriffen als Kipppunkt sowie darüber, dass das Great Barrier Reef und andere tropische Barriereriffe in den vergangenen Jahren regelmäßig eine Massenbleiche erleben“. Lenton zufolge haben einige große Korallenriffe ihren Kipppunkt bereits überschritten.
Wie bei allen Kipppunkten gibt es jedoch offene Fragen bezüglich der globalen Temperaturspanne, die voraussichtlich zu seinem Überschreiten führen wird. Da es sich bei Korallenriffen jedoch um in Bezug auf ihre Lebensbedingungen sehr eingeschränkte Ökosysteme handelt, besteht weniger Unsicherheit darüber, wann der Schwellenwert überschritten wird als bei anderen Kipppunkten, wie Prof. Lenton in unserem Interview erklärt. Grundsätzlich herrscht allgemeiner Konsens dahingehend, dass der Kipppunkt in den nächsten zehn Jahren erreicht wird und dass die Korallenriffe in den niedrigen Breitengraden dann nicht mehr zu retten sein werden.
Sozioökonomische Auswirkungen, Schäden und Verluste
Vulnerabilität
Korallenriffe sind für das Leben von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt unerlässlich. Allein die Korallenriffe in der Karibik stehen für Güter und Dienstleistungen im Wert von 5,47 bis 8,12 Milliarden US-Dollar in den Sektoren Fischerei, Tauchtourismus und Küstenschutz. Abgesehen von ihrem wirtschaftlichen Nutzen bieten Küstenökosysteme eine Reihe weiterer Vorteile, von denen einige quantifizierbar sind, wie die Bioprospektion, andere wiederum nicht, wie ihre kulturelle Bedeutung.
Die kleinen Inselentwicklungsländer (Small Island Developing Countries, kurz SIDS) sind dabei besonders von ihren Küstenökosystemen abhängig. Die SIDS sind eine Gruppe von 57 kleinen Inselstaaten mit einer Gesamtbevölkerung von mehr als 62 Millionen Menschen. Trotz kultureller und geografischer Unterschiede stehen diese Inseln, vor denen ein Großteil der weltweiten Korallenriffe liegt, vor ähnlichen Herausforderungen, was ihre nachhaltige Entwicklung angeht. Die Riffe schützen Küsten vor extremen Wetterereignissen und bilden die Grundlage für den Lebensunterhalt der Bevölkerung unzähliger kleiner Inselstaaten.
Tourismus
Im Globalen Norden sind die Korallenriffe vor allem als touristische Attraktion bekannt. Der Tourismus macht etwa 30 % der Einnahmen aus den Riffen aus und wächst jährlich. Andererseits stellen die Einnahmen aus dem Tauchtourismus 17 % der Gesamteinnahmen aus der Tourismusbranche dar. Dieser ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Karibik: In zehn Staaten macht er 30 % des BIP aus. Einer von sechs Beschäftigten in der Karibik arbeitet direkt für die Tourismusbranche. Viele weitere sind indirekt in dem Sektor beschäftigt oder profitieren von den staatlichen Ausgaben zur Unterstützung dieses Wirtschaftszweigs.
Fischerei
Darüber hinaus bietet die Korallenriff-Fischerei weltweit eine Lebensgrundlage für schätzungsweise 6 Millionen Fischer:innen und ihre Familien. Die Riffe bieten allerdings nicht nur eine wirtschaftliche Lebensgrundlage, sondern sind auch ein wichtiger Teil der Kultur der indigenen Küstenbevölkerung: Zum Beispiel nehmen sie 15-mal so viele Meeresfrüchte zu sich wie nicht-indigene Gemeinschaften.
Diese kulturelle Beziehung zu den Riffen hat auch eine gesundheitliche Bedeutung. Für die Küstenbevölkerung, insbesondere in den SIDS, ist Fisch eine lebenswichtige Nahrungsquelle. Auf den Pazifischen Inseln beispielsweise stammen 50-90 % der tierischen Proteine in der Nahrung sowie wichtige Mikronährstoffe aus Fisch. Aus geografischen Gründen gibt es für SIDS nur wenige alternative Nahrungsquellen.
Sicherheit
Neben ihrer Bedeutung für Arbeitsplätze und Gesundheit sind Korallenriffe auch für die Sicherheit der Küstenbevölkerung enorm wichtig. Weltweit profitieren zwischen 63 und 197 Millionen Menschen von dem Schutz, den die Korallenriffe vor extremen Wetterereignissen bieten. Allein in der Karibik sind 8 Millionen Menschen auf den Schutz vor Sturmfluten oder gefährlichen Wellen durch die Riffe angewiesen.
Für Hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Welt, vor allem für die Bevölkerung der SIDS, sind Korallenriffe also unabdingbar für ihre wirtschaftliche, gesundheitliche und kulturelle Sicherheit sowie für die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Außerdem schützen sie die Menschen und ihre Häuser vor Naturkatastrophen.
Die Bedeutung von Korallenriffen für die Bahamas
Um die Bedeutung der Korallenriffe für die Bevölkerung der kleinen Inselstaaten besser verstehen zu können, schauen wir uns nun einmal das Beispiel der Bahamas an. Die Wirtschaft der Bahamas hängt stark vom Tourismus ab. Es kursieren unterschiedliche Zahlen, doch können wir davon ausgehen, dass die Riffe für zwischen 50 und 80 % des BIP der Inseln verantwortlich sind. Auch die kommerzielle Fischerei ist eine wichtige Einnahmequelle. Auf einigen Inseln des bahamaischen Archipels, wie der Andros-Inselgruppe, bringt die Fischerei mehr Einnahmen als jeder andere Wirtschaftszweig.
Die Korallenriffe spielen eine wichtige Rolle für die Erhaltung der Tourismus- und Fischereibranche. Viele Menschen kommen auf die Inseln, um tauchen und schnorcheln zu gehen. Die Riffe sind darüber hinaus wichtig für die Erhaltung des Umfangs und der Vielfalt der Fischbestände. Nicht zuletzt schützen die Korallenriffe in einer durch schwere tropische Stürme bedrohte Region Menschenleben und Häuser.
Es ist äußerst schwierig, den finanziellen Wert der Korallen für die Bahamas exakt zu beziffern. Es gibt verschiedene Ansätze, deren Ergebnisse sehr stark variieren – je nach den zugrundeliegenden Annahmen. Die niedrigste Schätzung beziffert den Wert der Korallenriffe auf etwa 2,7 % des bahamaischen BIP. Der höchste Schätzwert liegt bei 30 %. Wenn die Riffe absterben, kann es daher sein, dass zahlreiche Menschen auf den Bahamas nicht mehr in der Lage sein werden, sich zu ernähren oder zu kleiden oder für ein Dach über dem Kopf zu sorgen. Bereits heute leben 12,5 % der Menschen auf den Bahamas unterhalb der Armutsgrenze.
Folgen einer Überschreitung des Kipppunkts
Allgemeine Kosten
Vor dem Hintergrund der oben genannten Erkenntnisse über die Bedeutung der Korallenriffe für den Lebensunterhalt, die Gesundheit und die Sicherheit der Küstengemeinden sollte es nicht überraschen, dass ihre Zerstörung Menschen, die sich den Verlust kaum leisten können, um Milliarden von Dollar bringen würde. Millionen von Menschen weltweit würden dadurch in eine deutlich unsicherere Lebenssituation geraten.
Die Folgen des Klimawandels für die Korallenriffe bedeuten für die betroffenen Bevölkerungsgruppen Verluste in Höhe von 3,95 bis 23,78 Mrd. US-Dollar. Selbst die niedrigere Schätzung entspricht in etwa den gesamten jährlichen Bildungshaushalt aller kleinen Karibikstaaten zusammen. Das Überschreiten des Kipppunkts würde jedoch die unwiderrufliche Zerstörung der Korallenriffe bedeuten, so dass Zahlen am oberen Ende des Spektrums wahrscheinlicher sind. Eddy et al. kommen zu dem Ergebnis, dass die Kapazitäten der Ökosystemleistungen der Riffe seit den späten 1950er Jahren weltweit um etwa die Hälfte zurückgegangen sind. In der Karibik lag der jährliche direkte wirtschaftliche Schaden 2015 bereits zwischen 350 und 870 Millionen US-Dollar – bedingt durch Verluste in der Fischerei, im Tauchtourismus und durch den Bedarf an zusätzlichen Küstenschutzmaßnahmen. Es ist davon auszugehen, dass diese Zahlen inzwischen höher sind und weiter steigen werden.
Folgen für die Fischerei
Die potenzielle wirtschaftliche Unsicherheit ist enorm. Hoegh-Guldberg, Pendleton und Kaup gehen davon aus, dass bei einem Rückgang der Produktivität der Fischerei um 80 % aufgrund des Korallensterbens 222.000 karibische Fischereibetriebe ihr Geschäft aufgeben müssen. Laut IPCC ist das weit mehr als ein Problem der wirtschaftlichen Sicherheit: Die Einbußen werden die ohnehin schon wachsende Diskrepanz zwischen der für die Ernährungssicherheit benötigten Menge und dem verfügbaren Bestand an Fischen noch weiter verschärfen. Wie wir im Zusammenhang mit dem Anstieg des Meeresspiegels noch sehen werden, stellen Kipppunkte ein großes Problem für die Ernährungssicherheit in der Karibik und anderen Regionen dar, zu dem die Zerstörung von Korallenriffen erheblich beiträgt.
Folgen für den Tourismus
Vergleichbare Zahlen für den Verlust von Arbeitsplätzen im Tourismussektor sind weniger leicht zu finden. Nach Schätzungen von The Nature Conservancy hatte der Rifftourismus im Jahr 2022 einen Wert von mehr als 9,4 Milliarden US-Dollar für die Wirtschaft der Karibik. Die kleinen Karibikstaaten haben zusammen ein BIP von rund 70 Milliarden US-Dollar. Der Rifftourismus macht daher mehr als 13 % der gesamten Wirtschaftsleistung aus. Bei einem Verschwinden der Riffe wären die damit verbundenen Arbeitsplatzverluste und der Rückgang der Sozialausgaben wahrscheinlich ähnlich hoch.
Folgen für die Sicherheit
Neben den genannten Auswirkungen bedeutet der Verlust des Schutzes durch die Korallenriffe auch eine zunehmende Gefährdung des Lebens und des Eigentums der Menschen in den SIDS. Die von den karibischen Riffen erbrachten Küstenschutzleistungen könnten 2022 einen jährlichen Wert von bis zu 3,8 Milliarden US-Dollar erreichen. Um ein besseres Gefühl für die konkreten Auswirkungen zu bekommen, kann es hilfreich sein, diese Zahl in Relation zu dem regionalen BIP von rund 70 Milliarden US-Dollar zu setzen. Hinter dieser einen Zahl verbergen sich zerstörte Häuser, durch Schäden an Hotels und anderen Einrichtungen verloren gegangene Arbeitsplätze, Preissteigerungen bei Lebensmitteln aufgrund überschwemmter Straßen und eine unkalkulierbare Zahl zerstörter Leben und Familien. Daher überrascht es nicht, dass der IPCC davon ausgeht, dass die SIDS wahrscheinlich nicht in der Lage sein werden, mit den Verlusten fertigzuwerden.
Um noch einmal auf das Beispiel der Bahamas zurückkommen, so würde ein Leben ohne Korallenriffe einen schweren Einschnitt für die betroffene Bevölkerung bedeuten. Tausende von Arbeitsplätzen in der Fischerei würden verloren gehen, was insbesondere die ärmeren Menschen treffen würde. Laut Pathak et al. würden außerdem mehr als 500 Millionen US-Dollar an Tourismuseinnahmen und damit unzählige Arbeitsplätze auch in diesem Sektor wegfallen. Der Zusammenbruch der beiden Wirtschaftszweige würde einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung in wirtschaftliche Unsicherheit stürzen, da der Staat aufgrund der sinkenden Steuereinnahmen immer weniger in der Lage wäre, den Bedarf an Nahrungsmitteln, Bildung und Gesundheitsversorgung zu decken. Darüber hinaus würden viele Menschen ihre Identität und das Selbstwertgefühl verlieren, das sie durch ihre Arbeit und ihre Beziehung zu den Korallen aufgebaut haben. Zusammen mit der zunehmenden Angst vor extremen Wetterereignissen hätte das zweifellos ebenfalls Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Inselbevölkerung (vgl. 1, 2, 3, 4). Ohne den Schutz, den die Riffe bieten, würde darüber hinaus auch die Gefahr durch extreme Wetterereignisse steigen. Die Menschen auf den Bahamas wären dann viel weniger vor einem Unfalltod oder Verletzungen geschützt und wären einem deutlich höheren Risiko ausgesetzt, ihre Häuser und ihr Eigentum zu verlieren.
Offene Forschungsfragen
Trotz umfangreicher Forschungsarbeiten zum Korallenriff-Kipppunkt brauchen wir für zahlreiche Aspekte noch bessere Daten. Die derzeitigen Schätzungen der wirtschaftlichen Auswirkungen sind veraltet, geografisch unvollständig und ignorieren wichtige Faktoren. Zum Beispiel wissen wir nicht genug über den Rückgang des Fischfangs oder das Ausmaß der Küstenerosion. Ferner braucht es genauere Daten über die Folgen für die Menschen, insbesondere über den Verlust von Arbeitsplätzen, die Zerstörung von Häusern und den Sozialhaushalt. Auch wissen wir nicht genug darüber, ob es wirksame Anpassungsmaßnahmen gibt. Nicht zuletzt wäre es wünschenswert, die Beziehung zwischen Korallenriffen und der kulturellen Identität weiter zu erforschen, um die Auswirkungen dieses Kipppunkts auf Gesellschaften in der ganzen Welt besser zu verstehen.
Dr. Conor Purcell ist Klimaforscher und preisgekrönter wissenschaftlicher Autor. Dr. Michael Keary ist Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Umweltpolitik und politische Theorie. Die Autoren sind Mitbegründer von NovaAura Research, das NGOs und staatlichen Einrichtungen bei der Einschätzung zukünftiger Klimaprognosen und Umweltpolitik hilft.
Autor:innenDr. Conor Purcell, Dr. Michael Keary |