Amazonas-Regenwald: Welche Auswirkungen hat das Überschreiten des Kipppunkts auf die menschliche Sicherheit?
Abb. 1: Waldbrände und Abholzung in Porto Velho im brasilianischen Amazonasgebiet (Nilmar Lage / Greenpeace).
Kipppunkte sind bestimmte Schwellenwerte im Klimasystem der Erde. Ihr Überschreiten führt zu abrupten und in der Regel irreversiblen Veränderungen in diesem System. In den letzten zehn Jahren hat die Forschung auf diesem Gebiet wichtige Fortschritte erzielt: Mittlerweile wissen wir, dass einige Kipppunkte in den nächsten Jahrzehnten überschritten werden könnten, was die ohnehin schon gefährliche Klimasituation drastisch verschärfen würde.
Kleine, allmähliche Veränderungen – z. B. ein globaler Temperaturanstieg – können bei Kipppunkten zu rapiden und extremen Reaktionen im Erdsystem führen. Die Folgen reichen von einem Temperaturanstieg, veränderten Niederschlagsmustern, einer Zunahme der Sturmintensität bis hin zu Überschwemmungen und Dürren und gehen sogar noch weiter als die bereits im Zusammenhang mit dem Klimawandel vorhergesagten Szenarien.
Die daraus resultierenden Veränderungen werden das Leben von Millionen von Menschen gefährden, vor allem in den am stärksten benachteiligten Weltregionen: Lebensgrundlagen werden wegfallen, Häuser werden zerstört, ganze Gemeinschaften werden zerbrechen und Menschen werden ihr Leben verlieren. Aufgrund der wachsenden Bedrohung werden zunehmend Forderungen nach einem sofortigen politischen Handeln laut, um die globalen Treibhausgasemissionen zu reduzieren und den besonders schutzbedürftigen Menschen zu helfen, sich auf ein feindlicheres Klima vorzubereiten.
In dieser Blog-Reihe werfen wir einen Blick auf vier der gefährlichsten Kipppunkte: den Amazonas-Regenwald, die atlantische meridionale Umwälzbewegung, die Korallenriffe und den westantarktischen Eisschild. Außerdem geben wir einen Überblick über die konkreten Prozesse und ihre Folgen für die menschliche Sicherheit, einschließlich der so wichtigen Frage von Schäden und Verlusten – ein Thema, das auf der COP27 viel diskutiert wurde.
Fast zwei Millionen Hektar des Amazonas-Regenwaldes standen im November 2022 in Flammen – mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres und trotz der Regenzeit. Die Daten stammen von MapBiomas, einem Zusammenschluss gemeinnütziger Organisationen und brasilianischer Universitäten, die mit Hilfe von Satellitenbildern die Umweltzerstörung überwachen. MapBiomas geht davon aus, dass der überraschende Anstieg der Waldrodungen während der Regenzeit – die 2022 mit den letzten Monaten von Bolsonaros Amtszeit zusammenfiel – Ausdruck der Befürchtung ist, dass die nächste Regierung Maßnahmen gegen die Abholzung durchsetzen wird. Der Kampf gegen die Entwaldung war ein wichtiges Thema der Wahlkampagne des wiedergewählten linken Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva.
Kein anderer Klimakipppunkt wird stärker durch polarisierende und kurzsichtige politische Entscheidungen beeinflusst als der des Amazonas-Regenwaldes. Das Schicksal des Regenwaldes und die Lebensqualität der vielen Millionen Menschen, deren Leben von ihm abhängt, kann unter Umständen also in den Händen einzelner Politiker:innen liegen.
Einschließlich der Daten von letztem November belief sich die in den ersten 11 Monaten des Jahres 2022 gerodete Fläche auf rund 40 Millionen Hektar, ein Gebiet fast so groß wie Uruguay. Seit dem Amtsantritt des rechtspopulistischen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro im Jahr 2019 haben Brandrodungen und andere Formen der Entwaldung zugenommen. Bolsonaro befürwortet bereits seit langem eine Ausweitung der landwirtschaftlich genutzten Flächen in der Region. Dies ist jedoch nur ein aktuelles Beispiel für eine Politik, die bis weit ins 20. Jahrhundert zurückreicht, und unter anderem auch den Bau der Trans-Amazonas-Autobahn durch die brasilianische Militärdiktatur in den 1970er Jahren umfasst.
Abgesehen von dem verheerenden – und schrecklich mitanzusehenden – Rückgang der Artenvielfalt, der durch die Abholzung im Amazonas-Regenwald verursacht wird, werden die lokalen Veränderungen durch die Erderwärmung in den kommenden Jahren auf regionaler und globaler Ebene deutlich zu spüren sein. Der Amazonas-Regenwald gilt als Klimakipppunkt, da er sich bei zunehmenden Baumsterben in eine Savanne oder savannenähnliche Umgebung verwandeln könnte. Dieser Blog-Beitrag beschreibt die Folgen der Entwaldung, des Klimawandels und der potenziellen Bedrohung, die das Überschreiten dieses Klimakipppunkts für die Region – und auch für andere Regionen – mit sich bringt, und geht dabei auch auf die menschlichen und sozioökonomischen Auswirkungen ein.
Bedeutung für das Klima
Der Amazonas-Regenwald bedeckt den größten Teil des südamerikanischen Amazonasbeckens und erstreckt sich bis nach Peru, Kolumbien, Bolivien, Ecuador, Französisch-Guayana, Guyana, Surinam und Venezuela. Der größte Teil liegt jedoch in Brasilien. Der Regenwald ist etwa 55 Millionen Jahre alt und beherbergt eine riesige Artenvielfalt. Etwa 10 % aller bekannten Arten auf der Erde sind dort zu finden, darunter schätzungsweise 400 Milliarden Bäume und 16.000 Baumarten, von denen ein Großteil durch das Waldsterben gefährdet ist. Außerdem leben in der Region 30 Millionen Menschen, von denen schätzungsweise 10 % der indigenen Bevölkerung angehören.
Der Amazonas ist aus verschiedenen Gründen ein wichtiger Bestandteil des Klimasystems der Erde. In erster Linie dient er als Kohlenstoffsenke, da die Bäume und Pflanzen, die seine große Artenvielfalt ausmachen, Kohlendioxid absorbieren. Der Wald speichert zwischen 150 und 200 Gigatonnen Kohlenstoff und war in der Vergangenheit stets eine wichtige Senke für vom Menschen verursachte Kohlenstoffemissionen. Jegliches Waldsterben würde daher seine Fähigkeit zur Kohlenstoffspeicherung verringern. In der Tat ist seine Kapazität zur CO2-Absorption seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückgegangen. Einigen Berichten zufolge sind seit den 1970er Jahren bis zu 20 % des Amazonas-Regenwaldes durch Abholzung verloren gegangen. Die von der rechtspopulistischen Bolsonaro-Regierung im Jahr 2019 eingeführten politischen Maßnahmen haben diese Entwicklung sogar noch beschleunigt.
Abgesehen von der Entwaldung hat eine Kombination aus klimawandelbedingter Trockenheit und historischen Dürreperioden zu einem massiven Baumsterben geführt. Seit einigen Jahren gibt es Hinweise darauf, dass der Regenwald von einer Kohlenstoffsenke gar zu einer Kohlenstoffquelle geworden ist. Die Folge ist eine positive Rückkopplung auf das weltweite Kohlendioxidvorkommen – mit globalen Auswirkungen auf das Klima. Stellen Sie sich das vor: Mittlerweile gehört der Amazonas-Regenwald zu den Netto-CO2-Verursachern.
Ein zunehmendes Absterben des Amazonas-Regenwaldes hätte darüber hinaus einen starken Rückgang der Niederschläge in der Region zur Folge, was wiederum drastische Folgen für die Ernährungssicherheit hätte. Außerdem würden sich die Überschwemmungs- und Dürremuster ändern, was die Lebensgrundlage von Hunderten von Millionen Menschen beeinträchtigen könnte. Wenn nämlich Bäume durch Abholzung und vom Menschen verursachtes Sterben verschwinden, verdunsten ihre Blätter weniger Wasser, was wiederum die Feuchtigkeit in der regionalen Atmosphäre verringert. Wenn die Niederschläge in dem Gebiet weiter abnehmen, beschleunigt sich das Waldsterben, und es besteht die Möglichkeit, dass sich eine savannenähnliche Umgebung entwickelt.
Der Amazonas als Kipppunkt
Der Amazonas-Regenwald wird das Kipppunkt gesehen, gerade weil eine Überschreitung des Schwellenwerts bedeuten würde, dass eine riesige Region zu Savannen zu werden droht – ein weitgehend unumkehrbarer Prozess, der den Regenwald von einer Kohlenstoffsenke in eine Kohlenstoffquelle verwandelt. Laut einer auf Research Square veröffentlichten Studie aus dem Jahr 2022 dürfte „bei fortschreitender globaler Erwärmung die Häufigkeit schwerer Dürren wie in den Jahren 2005 und 2010 stark zunehmen, sodass Trockenperioden dieses Ausmaßes in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zur neuen klimatischen Normalität werden könnten“.
In der Studie wurde ferner betont, dass „nichtlineare Schwellenwerte im hydrologischen Gleichgewicht des Regenwaldes unter den zukünftigen trockeneren Bedingungen überschritten werden könnten“. In anderen Worten: der Amazonas-Regenwald könnte aufgrund veränderter Niederschlagsmuster, insbesondere abnehmender Niederschlagsmengen, seinen Kipppunkt erreichen. Andere Studien kamen zu dem Schluss, dass große Teile des Amazonas-Regenwaldes in diesem Jahrhundert an Resilienz verloren haben. Die fortschreitende auf politische Entscheidungen zurückführende Abholzung erschwert diese Probleme zusätzlich. 2018 waren bereits etwa 17 % des Waldes zerstört. Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass bei 20-25 % (d. h. 3-8 % mehr als heute) der Kipppunkt erreicht wird, der den Regenwald in eine waldlose Savanne verwandelt.
Die Frage ist also: Wann erreichen wir den Amazonas-Kipppunkt? Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass dies schon relativ bald der Fall sein könnte. Wo genau die kritische, nicht lineare Schwelle in Bezug auf das Waldvolumen liegt, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt.
Nach einer anderen, im Jahr 2022 veröffentlichten Studie kann der Kipppunkt ab einem Temperaturanstieg von 2 °C über der vorindustriellen globalen Durchschnittstemperatur erreicht werden (wir liegen bereits 1 Grad darüber). Die Studie geht von einer Spanne von 2°C und 6°C über der vorindustriellen globalen Durchschnittstemperatur aus, wobei der wahrscheinlichste Wert auf 3,5°C geschätzt wird. Dieser Wert berücksichtigt allerdings nicht die Abholzungsaktivitäten, sprich die Temperaturschwelle des Amazonas-Kipppunktes ist sehr wahrscheinlich niedriger und wird früher erreicht werden. Je nach den künftigen Treibhausgasemissionen und der lokalen Entwaldungspolitik könnte dies bedeuten, dass die Schwelle in den nächsten 50 bis 200 Jahren überschritten werden könnte.
Die Folge wäre nicht nur ein häufigeres Auftreten von Dürreperioden in weiten Teilen Brasiliens und Südamerikas – mit erheblichen Auswirkungen auf die Landwirtschaft und das Leben der Menschen vor Ort – sondern auch ein globaler Rückkopplungseffekt. Durch den Anstieg der mittleren globalen Oberflächentemperaturen um bis zu 2 °C wird die Erderwärmung weiter beschleunigt und ein Dominoeffekt weiterer Kipppunkte könnte in Gang gesetzt werden.
Sozioökonomische Auswirkungen, Schäden und Verluste und menschliche Sicherheit
Wir wissen also, dass das Überschreiten des Amazonas-Kipppunkts enorme Umweltveränderungen mit sich bringen wird. Wir wissen jedoch nicht genug über die Auswirkungen für uns Menschen. Laut Banerjee et al., die sich mit umweltökonomischen Modellen befassen, gibt es kaum Fachliteratur zu den wirtschaftlichen Auswirkungen eines Kipppunkts [im Amazonasgebiet] und den erforderlichen politischen Maßnahmen, um die Folgen abzuwenden. Außerdem konzentrieren sich die meisten Studien auf die Gesamtkosten des möglichen Amazonas-Waldsterbens (vgl. 1, 2, 3). Wir haben also viele große, eher abstrakte Zahlen, die in einen Kontext gestellt werden müssen, aber viel weniger konkrete Einzelheiten zu den möglichen Schäden.
Vulnerabilität
Beginnen wir mit einer Bewertung der Vulnerabilität der Menschen, die wahrscheinlich vom Amazonas-Kipppunkt betroffen sein werden. Ein Großteil der unmittelbaren Unsicherheit ergibt sich aus der relativen Armut der Region und den daher eher begrenzten Anpassungsfähigkeiten der lokalen Bevölkerung.
Fünf der Amazonas-Anrainerstaaten – Brasilien, Kolumbien, Ecuador, Bolivien und Peru – erwirtschaften 70 % ihres BIP aus der Agrarindustrie, der Wasserkraft und der Schwerindustrie. Die Niederschläge, die der Amazonas-Regenwald erzeugt, sind für diese Industrien und damit für den Lebensunterhalt unzähliger Menschen auf dem südamerikanischen Kontinent unerlässlich. Die Region hat zwischen 1996 und 1999 etwa 0,2 % ihres BIP durch Waldbrände verloren. Es wird erwartet, dass sich die Brände viel schneller ausbreiten werden, je näher der Kipppunkt rückt. Ferner wird durch die kommerzielle Fischerei in der Region eine jährliche Fangmenge im Wert von 389 Millionen US-Dollar erzielt. Immer häufiger auftretende Dürren und die zunehmende Bodenerosion sind eine Gefahr für diesen Wirtschaftszweig, da sie den Lebensraum der Fische, von dem dieser abhängt, zerstören und kontaminieren.
Am stärksten von der Abholzung betroffen ist die indigene Bevölkerung, die im Amazonas-Regenwald lebt und auf die Ressourcen des Regenwaldes für Nahrung, Brennstoff und Unterkunft angewiesen ist. Fisch ist beispielsweise ein Grundnahrungsmittel in der Region. Die zunehmende Verknappung stellt eine Bedrohung für viele indigene Völker in der Region dar.
Allgemeine Auswirkungen
Um die Kosten näher zu untersuchen, wollen wir uns zunächst mit der wichtigsten Art von Studie befassen, auch wenn sie nicht sehr intuitiv ist. Dabei handelt es sich um groß angelegte, abstrakte Studien, die das Überschreiten des Kipppunkts in einer Zahl zu veranschaulichen versuchen. Die Studien fließen direkt in die CO2-Bepreisung und in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein und spielen in den IPCC-Berichten eine wichtige Rolle. Zwar sind diese Studien unerlässlich, sie haben aber auch einen entscheidenden Nachteil: Sie sind nicht detailliert genug, insbesondere was die menschlichen Kosten betrifft. Daher können sie das Ausmaß des Problems nur schwer vermitteln. Darüber hinaus sind sie nicht sonderlich präzise, da sie eher auf Annahmen als auf detaillierten Daten beruhen. Schauen wir uns nun einige der neuesten Untersuchungen an.
Beginnen wir mit der umstrittenen Studie von Dietz et. al., auf die wir auch in unserem Blogbeitrag über die atlantische meridionale Umwälzbewegung eingehen. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass der Verlust des Amazonas-Regenwaldes nur geringe wirtschaftliche Kosten verursachen wird. Allerdings berücksichtigt die Studie nur den Verlust des Beitrags des Regenwaldes zur Verringerung des CO2 in der Atmosphäre, was vielleicht erklärt, warum die Zahl so niedrig ausfällt.
Eine andere Studie von Banjeree et al., die Ende 2022 veröffentlicht wurde, beschäftigt sich mit den regionalen Auswirkungen und kommt auf einen Betrag von 3 % des BIP der Region. Lapola et al., die jedoch nur Brasilien betrachten, schätzen die Kosten auf 957 bis 3.589 Mrd. USD, was wahrscheinlich einen noch höheren Anteil am BIP ausmacht. Lenton, Foottitt und Dlugolecki berechneten 2009 die Höhe der weltweiten Verluste und kamen zu dem Ergebnis, dass möglicherweise 9,4 Billionen US-Dollar auf dem Spiel stehen, eine Zahl, die nur schwer zu vergleichen ist, die aber wahrscheinlich niedriger liegt.
Die Zahlen wurden auf viele verschiedene Arten ermittelt. Daher können die Schätzungen erheblich voneinander abweichen, je nachdem, was als „Amazonien“ gezählt wird, ob auf regionaler oder globaler Ebene gerechnet wird, ob man den Wohlstand oder nur das BIP betrachtet, welche Ökosystemleistungen miteinberechnet werden und so weiter. Im Hinblick auf die globalen Schätzungen sollten wir jedoch bedenken, dass der Großteil der Kosten auf die Amazonasregion entfallen wird, es sei denn, der Rest der Welt stellt wesentlich mehr Hilfe bereit. Was als kleiner Anteil des globalen Wohlstands erscheinen mag, kann durchaus einen erheblichen Teil des regionalen Wohlstands ausmachen. Um diese wirtschaftlichen Folgen zu ermitteln, sind noch viele weitere Studien notwendig. Zurzeit kann der wirtschaftliche Wert des Amazonas-Regenwalds nicht zuverlässig ermittelt werden.
Konkrete Folgen und Unsicherheit
Abgesehen von den allgemeinen, abstrakten Verlusten gibt es eine Vielzahl individueller Folgen, die uns ein intuitives Gefühl für die Schäden und Unsicherheit vermitteln können, die durch diesen Kipppunkt ausgelöst werden. Im Folgenden untergliedern wird die allgemeinen Zahlen in die einzelnen „Ökosystemleistungen“, für die sie stehen:
Brände
Ein großer Kostenfaktor und eine Quelle der Unsicherheit sind Waldbrände. Abgestorbene Vegetation und allgemein trockenere Klimabedingungen erhöhen das Waldbrandrisiko. Zusätzlich zu der Bedrohung, die Waldbrände für das Leben und die Häuser der Amazonasbevölkerung darstellen, wird es wahrscheinlich zu einer Luftverschmutzungskrise in der Region kommen. Aber auch Schlimmeres ist vorstellbar. In einigen von Banerjee et al. untersuchten Szenarien würde ein Staat wie Peru enorme Verluste durch Brände erleiden, die wertvolle Waldflächen zerstören. Auch hier gilt es zu bedenken, wie sich ein solcher Verlust langfristig auf die Sozialausgaben auswirken würde.
Niederschläge
Schätzungen der Weltbank zufolge wird die Transformation des Amazonasgebiets von einem Regenwald in eine Savanne und damit von einer Kohlenstoffsenke in eine Kohlenstoffquelle die Folgen des Klimawandels andernorts noch verschärfen. So können beispielsweise die veränderten Niederschlagsmuster die Ernährungssicherheit in Ländern weit jenseits des Regenwaldes gefährden.
Die Folgen der veränderten Niederschlagsmuster werden jedoch insbesondere im Amazonasgebiet zu spüren sein. Vor allem die Landwirtschaft sowie die damit verbundene Ernährungssicherheit und Existenzgrundlagen sind gefährdet. Die Erträge aus dem Sojabohnenanbau – einer wichtigen Nutzpflanze – werden um bis zu 60 % schrumpfen. Mit zunehmender Trockenheit versiegen die Flüsse und die Bewässerung wird kostspieliger – sofern sie überhaupt noch möglich ist. Die Randgebiete des Amazonas werden einen erheblichen Produktivitätsrückgang erleiden. Auch hier ist die indigene Bevölkerung potenziell am stärksten betroffen. Da sie weitgehend von der Fischerei und der Kleinlandwirtschaft abhängig ist, wird sie mit einer großen wirtschaftlichen und ernährungsbedingten Unsicherheit konfrontiert sein.
Gesundheit
Auch die gesundheitliche Situation der indigenen Bevölkerung wird sich voraussichtlich verschlechtern. Wie allgemein bekannt, begünstigen Störungen in Ökosystemen mit einer großen biologischen Vielfalt die Entstehung neuer Infektionskrankheiten. Hinzu kommt, dass bestimmte Pflanzen und Tiere, die für traditionelle Heilmittel wichtig sind, aufgrund der Abholzung der Wälder schon jetzt immer seltener zu finden sind. Ferner wird erwartet, dass die Wasserqualität aufgrund von Dürren und einer verstärkten Bodenerosion um etwa 25 % zurückgehen wird, was wiederum die Gesundheitssituation in der Amazonasregion verschlechtern wird. Im Rest der Welt verzögert die Abholzung den medizinischen Fortschritt, den die Artenvielfalt des Amazonas hervorgebracht hat.
Sosntige wirtschaftliche Verluste
Die Menschen in der Region werden eine Vielzahl weiterer Auswirkungen spüren:
- Bodennährstoffe gehen durch Erosion verloren;
- Flüsse werden aufgrund der Trockenheit nicht mehr befahrbar sein, wodurch wichtige Verkehrsverbindungen unterbrochen werden;
- Städte müssen einen Weg finden, mit der verstärkten Landflucht der ehemaligen Amazonasbevölkerung umzugehen;
- Freizeit- und Fremdenverkehrseinnahmen fallen weg;
- bis zu 2,2 Milliarden US-Dollar an Nettoeinnahmen aus nachhaltigem Holz bleiben aus; und
- Überschwemmungen werden häufiger, mit allen zu erwartenden Begleiterscheinungen.
Der vielleicht größte wirtschaftliche Schock wird jedoch durch den Verlust von Wasserkraftkapazitäten infolge der geringeren Wassermenge ausgelöst. Sollte der Kipppunkt überschritten werden, wird das Stromerzeugungspotenzial um fast 70 % unter seinen Höchstwert sinken. Die Produktion wird für den größten Teil des Jahres um 62 % zurückgehen. Dadurch werden sich die Kosten für Unternehmen erheblich erhöhen, was unweigerlich zu Preissteigerungen und Arbeitsplatzverlusten führen wird. Für viele Haushalte wird die Stromversorgung entweder nicht mehr möglich oder unerschwinglich sein. Mindestens 171.000 weitere Menschen in der Region würden infolgedessen in die Armut getrieben werden.
Anpassung und Minderung
Alle Studien sind sich einig, dass eine Eindämmung der Abholzung mit wesentlich geringeren Kosten verbunden wäre. Auch die Anpassung an den Klimawandel lohnt sich. Wenn das Wissen der Einheimischen berücksichtigt wird, können die Kosten sogar noch geringer ausfallen. Das Ausmaß der Schäden und der Unsicherheit, die auf die lokale Bevölkerung und den Rest der Welt zukommen werden, hängt in hohem Maße vom Ausmaß dieser Anstrengungen ab.
Offene Forschungsfragen
Um die Gefahren für die Menschen und die Wirtschaft der Region richtig einschätzen zu können, bedarf es einer wesentlich genaueren Bestandsaufnahme der Ökosystemleistungen des Amazonas und ihrer Bedeutung. Für viele wichtige Faktoren, wie z. B. den Ökotourismus, liegen keine zuverlässigen Zahlen vor. Auch braucht es genauere Daten über Arbeitsplatzverluste, gesundheitliche Auswirkungen und die zu erwartende Übersterblichkeit. Über den kulturellen und identitätsstiftenden Wert der Amazonasregion ist darüber hinaus wenig oder gar nichts bekannt. Um den Menschen die Auswirkungen von Kipppunkten zu verdeutlichen, brauchen wir Zahlen mit unmittelbarer Wirkung und intuitivem Verständnis. Internationale Organisationen, Forschungseinrichtungen und die Wissenschaft selbst können in dieser Hinsicht zweifellos noch mehr tun.
Dr. Conor Purcell ist Klimaforscher und preisgekrönter wissenschaftlicher Autor. Dr. Michael Keary ist Politikwissenschaftler mit den Schwerpunkten Umweltpolitik und politische Theorie. Die Autoren sind Mitbegründer von NovaAura Research, das NGOs und staatlichen Einrichtungen bei der Einschätzung zukünftiger Klimaprognosen und Umweltpolitik hilft.
Autor:innenDr. Conor Purcell, Dr. Michael Keary |