Kipppunkte und ihre Folgen für die menschliche Sicherheit
Die Extremwetterereignisse im Jahr 2022 – wie die monsunbedingten Überschwemmungen in Pakistan, Hurrikan Ian in den USA und Kuba oder die schwere Dürre in Europa – haben uns abermals die unausweichliche Tatsache vor Augen geführt, dass der Klimawandel bereits in vollem Gange ist, und zwar mit katastrophalen Folgen. Die Wissenschaft geht davon aus, dass aktuell 40 % der Weltbevölkerung einem hohen Risiko für die Auswirkungen des Klimawandels ausgesetzt ist. Der Klimawandel stellt jedoch schon jetzt eine große Belastung für unsere Ökosysteme dar und übersteigt die Anpassungsfähigkeit der betroffenen Bevölkerung mit enormen Schäden und Verlusten als Folge. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den internationalen Klimakonferenzen wie der COP27 wider, da das Thema Schäden und Verluste in den Verhandlungen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Klimabedingte Dürren, Überschwemmungen, Wirbelstürme und der Anstieg des Meeresspiegels zwingt die Menschen dazu, ihr Zuhause dauerhaft zu verlassen, ihren Zugang zu Wasser und Nahrung aufzugeben und fordert unter Umständen gar ihr Leben. Daher ist auch die menschliche Sicherheit – welche die Auswirkungen konkreter Bedrohungen auf die Sicherheit von Einzelpersonen und Gemeinschaften umfasst – massiv beeinträchtigt.
Laut Weltklimarat (IPCC) wird sich dieser Trend weiter verschärfen, da wichtige Kipppunkte im Klimasystem bereits bei einem Temperaturanstieg von 1 bis 2 Grad überschritten werden könnten (die aktuelle Klimapolitik wird voraussichtlich zu einer Erwärmung um 2,7 Grad führen). Kipppunkte sind kritische Schwellenwerte im Klimasystem der Erde, deren Überschreiten zu schwerwiegenden und in der Regel unumkehrbaren Veränderungen führt. Möglicherweise können sie auch einen Dominoeffekt auslösen, der die Folgen des Klimawandels um ein Vielfaches verstärkt. Ein Beispiel für einen solchen Kipppunkt sind Veränderungen in der atlantischen meridionalen Umwälzbewegung, zu der auch der allseits bekannte Golfstrom gehört. Wenn dieser Kipppunkt überschritten wird und sich die Zirkulation verlangsamt, was bereits heute zu beobachten ist, sind starke Auswirkungen auf die globalen Niederschlags- und Temperaturmuster und ein Verlust von etwa 58 % der für den Weizenanbau geeigneten Flächen zu erwarten. Das wiederum hätte drastische Folgen für die globale Ernährungssicherheit und die daraus resultierenden Verluste und Schäden würden die menschliche Sicherheit massiv beeinträchtigen.
In den letzten Jahren hat sich die Forschung zunehmend auf Kipppunkte und ihre Bedeutung für die Naturwissenschaften konzentriert. Abgesehen von einer Studie des Think Tanks E3G über den Einfluss von Kipppunkten auf die Geopolitik wurden die sozioökonomischen Auswirkungen und die Folgen für die menschliche Sicherheit und die entsprechenden Schäden und Verluste bisher kaum untersucht. Diese Blog-Reihe soll daher einen allgemeinen Überblick über den Zusammenhang zwischen Klimawandel, Kipppunkten, menschlicher Sicherheit und den damit verbundenen Schäden und Verlusten geben. Während der erste Blog-Beitrag eine allgemeine Einführung in das Thema bietet, werden sich die vier folgenden Artikel auf spezifische Kipppunkte konzentrieren:
- das Abschmelzen des grönländischen Eisschildes und die damit zusammenhängenden Folgen für die atlantische meridionale Umwälzbewegung
- die massiven Veränderungen des Amazonas-Regenwaldes
- die Zerstörung der Korallenriffe
- den Kollaps des westantarktischen Eisschildes
Neben einem Überblick über die konkreten Einzelheiten dieser Prozesse werden dabei auch die Auswirkungen auf die menschliche Sicherheit, einschließlich Schäden und Verluste, erläutert.
Was ist ein Kipppunkt?
Kipppunkte sind Schwellenwerte im Klimasystem der Erde. Wenn sie überschritten werden, kommt es zu erheblichen und unumkehrbaren Veränderungen im regionalen und globalen Klimasystem. Dies hat schwerwiegende Auswirkungen auf die menschliche Sicherheit und die damit in Verbindung stehenden Schäden und Verlusten. Auf regionaler Ebene kann das unter anderem extreme Temperaturen, Dürreperioden und veränderte Niederschlagsmuster bedeuten. Auf globaler Ebene reichen die Folgen von zusätzlichen Treibhausgasemissionen und Temperaturrückkopplungen bis hin zu einem beschleunigten Anstieg des Meeresspiegels. Sobald ein Kipppunkt überschritten ist, gibt es nur noch begrenzte Möglichkeiten, die Geschwindigkeit der Veränderungen oder die daraus resultierenden Folgen zu beeinflussen.
Zu den wichtigsten Kipppunkten gehören unter anderem das Abschmelzen des westantarktischen und des grönländischen Eisschildes, die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes und die Zerstörung der Korallenriffe, among others.
Derzeit ist nicht klar, wann genau die einzelnen Kipppunkte überschritten werden. Jüngste Studien deuten jedoch darauf hin, dass das Erdsystem bei einigen Schwellenwerten kurz davor steht: Das Überschreiten des 1,5°C-Ziels könnte potenziell fünf Kipppunkte auslösen, darunter das Abschmelzen des westantarktischen und des grönländischen Eisschildes, das Absterben der Korallenriffe und ein abruptes breitflächiges Auftauen des Permafrosts
Dabei sollte berücksichtigt werden, dass diese Ereignisse nicht unabhängig voneinander stattfinden, sondern vielmehr miteinander verknüpft sind. Das Überschreiten eines Kipppunkts kann daher möglicherweise einen Dominoeffekt auslösen, der den Klimawandel verschärft und in absehbarer Zeit zu langfristigen und unumkehrbaren Veränderungen führt. Die Politik muss daher ehrgeizigere Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels ergreifen und der Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs auf 1,5°C höchste Priorität einräumen.Kipppunkte wurden bei klimapolitischen Entscheidungen in der Vergangenheit jedoch häufig unterschätzt, da man lange davon ausging, dass ein Überschreiten der Schwellenwerte eher unwahrscheinlich sei. Die unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen haben diese Wahrscheinlichkeit jedoch erhöht. Umso besorgniserregender ist, dass noch kein systematischer Ansatz zur Umsetzung der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse in konkrete politische Empfehlungen erarbeitet wurde. Der Umgang mit Klimarisiken wird umso dringlicher, je mehr Kipppunkte erreicht oder sogar überschritten werden. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass Regierungen und internationale Institutionen darauf vorbereitet sind, Risiken für die menschliche Sicherheit und weitere Schäden und Verluste zu verhindern oder abzumildern. Schauen wir uns nun an, was das konkret bedeutet.
Was ist menschliche Sicherheit?
Während sich das traditionelle Verständnis von Sicherheit auf den Staat konzentriert, stellt das Konzept der menschlichen Sicherheit Einzelpersonen und die Gesellschaft in den Vordergrund. Anstatt jedoch den Nationalstaat oder die internationale Sicherheit komplett außen vor zu lassen, wird das Konzept der Sicherheit so konkretisiert, dass es die vielfältigen aktuellen Bedrohungen, die selten vor Staatsgrenzen Halt machen, verstärkt berücksichtigt, u. a. den Klimawandel, ökologische und wirtschaftliche Risiken, Wasser- und Ernährungssicherheit sowie Gesundheitsgefahren.
Das Konzept der menschlichen Sicherheit konzentriert sich nicht nur auf die Grundbedarfe der Menschen, sondern umfasst auch die Menschenwürde. Der ehemalige UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon definierte sie in seinem Bericht zur menschlichen Sicherheit 2010 wie folgt: „Menschliche Sicherheit ist die Freiheit von Furcht, die Freiheit von Not und die Freiheit, in Würde zu leben“. Andere Definitionen der menschlichen Sicherheit gehen sogar noch einen Schritt weiter, indem sie die Freiheit künftiger Generationen, eine gesunde Umwelt zu erben, oder die Freiheit von den Folgen von Naturgefahren hinzufügen.
Was ist der Zusammenhang zwischen menschlicher Sicherheit, Klimawandel und Kipppunkten?
Aus dem Blickwinkel der menschlichen Sicherheit wird versucht zu bewerten, wie sich der Klimawandel negativ auf Einzelpersonen und Gesellschaften auswirkt. Betrachtet man die durch den Klimawandel bedingte Zunahme von Wirbelstürmen oder den Anstieg des Meeresspiegels, so scheinen die Folgen für die menschliche Sicherheit offensichtlich. Der IPCC weist darauf hin, dass „der Klimawandel eine Bedrohung für die menschliche Sicherheit darstellt, indem er Lebensgrundlagen zerstört, Kultur und Identität gefährdet, Migrationsbewegungen verstärkt, die die Betroffenen lieber vermieden hätten, und die Fähigkeit von Staaten in Frage stellt, die für die menschliche Sicherheit erforderlichen Bedingungen zu schaffen“. Da es nur begrenzte Fachliteratur zu den Auswirkungen von Kipppunkten auf die menschliche Sicherheit und auf Schäden und Verluste gibt, gehen wir bei unserer Analyse davon aus, dass der Klimawandel durch das Überschreiten bestimmter Kipppunkte beschleunigt wird und sich dadurch die Folgen für die menschliche Sicherheit verstärken.
Um den Zusammenhang zwischen Kipppunkten, Klimawandel, menschlicher Sicherheit sowie Schäden und Verlusten wirklich zu verstehen, müssen wir uns die verschiedenen damit im Zusammenhang stehenden Freiheiten vor Augen halten: die Freiheit von Furcht, die Freiheit von Not, die Freiheit, in Würde zu leben, und die Freiheit künftiger Generationen, eine gesunde Umwelt zu erben bzw. die Freiheit von den Folgen von Naturgefahren.
Die Freiheit künftiger Generationen, eine gesunde Umwelt zu erben / Freiheit von den Folgen von Naturgefahren
Die Freiheit künftiger Generationen, eine gesunde Umwelt zu erben, und die Freiheit von den Folgen von Naturgefahren haben den offensichtlichsten Bezug zum Klimawandel und den damit im Zusammenhang stehenden Kipppunkten. Es ist allgemein bekannt, dass der Klimawandel die Umwelt bedroht, indem er die Häufigkeit sowohl von extremen Wetterereignissen wie Wirbelstürmen, Dürren oder Überschwemmungen als auch von allmählichen Entwicklungen wie dem Anstieg des Meeresspiegels, der Versauerung der Ozeane oder dem Temperaturanstieg erhöht. Diese Entwicklungen wiederum beeinträchtigen nicht nur die Lebensgrundlagen und das Wohlergehen der Menschen, sondern auch die Funktionsweise der Ökosysteme. Wenn Kipppunkte überschritten werden, können sich diese negativen Folgen in kurzer Zeit verstärken, so dass weder die Menschen noch die Umweltsysteme mehr in der Lage sind, sich rechtzeitig anzupassen – mit schwerwiegenden Folgen für die menschliche Sicherheit. Schon jetzt sind die erheblichen Auswirkungen der immer häufiger auftretenden Extremwetterereignisse wie Überschwemmungen (z. B. in Pakistan im Jahr 2022), Dürren (z. B. in der zentralen Sahelzone im Jahr 2022) und Wirbelstürme (z. B. Zyklon Winston im Pazifik im Jahr 2016) für die Lebensgrundlagen der Menschen offensichtlich. Diese Auswirkungen werden sich in Zukunft noch weiter verschärfen, ebenso wie die Anzahl und die Geschwindigkeit der langsameren Entwicklungen.
Wie der bahnbrechende Beschluss des Bundesverfassungsgerichts feststellte, sind dadurch bereits heute die Grundrechte junger Menschen sowie der nächsten Generationen betroffen: „Als intertemporale Freiheitssicherung schützen die Grundrechte die Beschwerdeführenden hier vor einer einseitigen Verlagerung der durch Art. 20a GG aufgegebenen Treibhausgasminderungslast in die Zukunft“. Mit anderen Worten: Eine unzureichende Klimapolitik hat Auswirkungen auf die zukünftigen Freiheits- und Grundrechte. Daher ist es ein verfassungsrechtliches Gebot, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Die Politik muss aufhören, die erforderlichen Maßnahmen auf Kosten der jüngeren Generationen zu verzögern.
Freiheit von Furcht
Die zweite Komponente der menschlichen Sicherheit ist die Freiheit von Furcht. Ursprünglich bezog sich dieser Punkt auf die Notwendigkeit, die Anzahl von Waffen und zwischenstaatlichen Konflikten zu reduzieren, und hat von allen Aspekten wahrscheinlich den indirektesten Bezug zum Klimawandel und zu Kipppunkten. In der Friedens- und Konfliktforschung wird der Klimawandel jedoch in der Regel als Bedrohungsmultiplikator gesehen, der indirekt zu gewaltsamen Konflikten beitragen kann, indem er potenzielle, bereits bestehende Bedrohungen für die menschliche Sicherheit wie Wasser- oder Ernährungsunsicherheit oder den Verlust von Anbauflächen verschärft. Der komplizierte Zusammenhang zwischen Klimawandel und gewaltsamen Konflikten lässt sich anhand eines Beispiels aus dem Bereich Ernährungssicherheit veranschaulichen: Steigende Temperaturen und ein mögliches Überschreiten von Kipppunkten könnten in Erzeugerländern zu einem Exportverbot für Lebensmittel führen (wie im Jahr 2010). In den Empfängerländern wiederum können Ernährungsunsicherheit und Instabilität die Folge sein.
Wir möchten jedoch betonen, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und gewaltsamen Konflikten gibt. Denn die entgegengesetzte Annahme könnte für politische Zwecke genutzt werden, die nichts mit dem Klimaschutz oder der Anpassung an den Klimawandel zu tun haben, und könnte unter Umständen sogar militärische Reaktionen fördern. Eine solche Annahme könnte ebenfalls dazu führen, dass die durch den Klimawandel am stärksten gefährdete Bevölkerung als Bedrohung für die nationale Sicherheit gesehen wird und nicht als Personen, die Hilfe brauchen. Aus diesem Grund möchten wir an dieser Stelle erneut darauf hinweisen, dass der Klimawandel zwar indirekt das Risiko für gewaltsame Konflikte erhöhen kann, aber kein direkter Konfliktauslöser ist und daher nicht aus militärischer Perspektive betrachtet werden, sondern zu mehr Zusammenarbeit und humanitärer Hilfe anregen sollte.
Freiheit von Not
Die dritte Komponente der menschlichen Sicherheit ist die Freiheit von Not, die gemeinhin als Recht auf einen angemessenen Lebensstandard bezeichnet wird. Genauer gesagt haben „alle Menschen das Recht auf einen Lebensstandard, der ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen sowie das ihrer Familie gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen (...)“. Dieser Punkt steht in Zusammenhang mit der Agenda für menschliche Entwicklung und umfasst gesellschaftliche Aspekte, die durch den Klimawandel verschärft werden können, wie Ernährungssicherheit, Lebensunterhalt, Gesundheit und Entwicklung. Das Überschreiten von Klimakipppunkten könnte diese Aspekte erheblich gefährden, indem es die Ernährungssicherheit von Millionen von Menschen zusätzlich beeinträchtigt oder das Wirtschaftswachstum gefährdet und möglicherweise gar zum Erliegen bringt. Der IPCC geht sogar davon aus, dass einige Sektoren, die für die Gesamtwirtschaft von entscheidender Bedeutung sind, unrentabel werden könnten, sobald bestimmte Kipppunkte überschritten werden. Auch das Recht auf Entwicklung wäre in diesem Fall gefährdet. Außerdem stellt ein Überschreiten der Kipppunkte ein Risiko für die Gesundheit großer Teile der Bevölkerung dar, sowohl in physischer als auch in psychischer Hinsicht. Der Temperaturanstieg und die Zerstörung von Ökosystemen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Zoonosen sowie vektor- und lebensmittelbedingte Krankheiten, und auch die Belastung für die psychische Gesundheit der betroffenen Bevölkerung nimmt zu. Eine der drastischsten Auswirkungen des Klimas auf die Gesundheit sind die Feuchtkugeltemperaturen. Sie werden durch eine Kombination aus Hitze und Feuchtigkeit verursacht und schränken die überlebenswichtige Fähigkeit des menschlichen Körpers ein, sich selbst zu kühlen
Freiheit, in Würde zu leben
Als letzte Komponente beinhaltet die menschliche Sicherheit auch die Freiheit, in Würde zu leben. Dem Inter-American Institute of Human Rights zufolge geht es dabei um „die Förderung einer besseren Lebensqualität und die Steigerung des menschlichen Wohlergehens, um den Menschen zu ermöglichen, Entscheidungen zu treffen und Entwicklungsmöglichkeiten wahrzunehmen“. Die Freiheit, in Würde zu leben, hängt eng mit den Menschenrechten, der Rechtsstaatlichkeit und guter Regierungsführung zusammen. Im Hinblick auf den Klimawandel geht es dabei vor allem um nichtwirtschaftliche Schäden und Verluste, wie etwa die Bedrohung ganzer Landstriche, des kulturellen Erbes oder der kulturellen Identität. Ein allseits bekanntes Beispiel sind Vertreibung und unfreiwillige Migration aufgrund von Klimafolgen. Nach Angaben von Oxfam ist der Klimawandel die Hauptursache für Binnenvertreibungen. Die Zahl der durch extreme Wetterereignisse vertriebenen Menschen hat sich in den letzten zehn Jahren gar verfünffacht. Mit fortschreitendem Klimawandel und dem Überschreiten bestimmter Kipppunkte und dem damit einhergehenden Anstieg des Meeresspiegels wird diese Situation völlig neue Ausmaße annehmen.
Kleinere Pazifikinseln sind bereits jetzt ernsthaft vom Verschwinden bedroht. Kiribati hat sogar Land in Fidschi gekauft, um die Menschen dort anzusiedeln, wenn ihre Insel, ihre Heimat und ihre kulturellen Stätten überflutet sind. Diese Gefahr beschränkt sich jedoch nicht auf kleine Inselstaaten: Alle tief liegenden Gebiete sind gefährdet, in denen derzeit 11 % der Weltbevölkerung leben. Der Klimawandel, der sich in unvorstellbarem Ausmaß verschärfen wird, sobald bestimme Kipppunkte überschritten werden, bedroht daher nicht nur das Leben und die Lebensgrundlage der betroffenen Bevölkerung, sondern auch ihr Zuhause, ihre Kultur und ihre Menschenwürde.
Auswirkungen auf die Außenpolitik sowie auf Schäden und Verluste
Schon jetzt ist zu erkennen, dass das Überschreiten der Kipppunkte das Leben von Millionen von Menschen beeinträchtigen und zu erheblichen wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Schäden und Verlusten führen wird. Da weder der Klimawandel noch die Auswirkungen auf die menschliche Sicherheit vor Staatsgrenzen Halt machen, sind auch schwerwiegende Folgen für die nationale und internationale Sicherheit und Stabilität zu erwarten.
Dies wird auch in der aktuellen Debatte über die internationale Sicherheit offensichtlich. Die sicherheitspolitischen Auswirkungen des Klimawandels werden immer wieder in internationalen Gremien wie dem UN-Sicherheitsrat und der UN-Generalversammlung diskutiert. Das wiederum deutet darauf hin, dass der Klimawandel und seine Auswirkungen auf die menschliche Sicherheit sowie auf die damit im Zusammenhang stehenden Schäden und Verluste einem immer wichtigeren Stellenwert in der außenpolitischen Debatte einnehmen. Da das Überschreiten einzelner Kipppunkte immer wahrscheinlicher wird, werden sie auch bei der Festlegung der zukünftigen Außenpolitik eine wichtige Rolle spielen, ebenso wie der damit verbundene Anstieg von Verlusten und Schäden.
Bedauerlicherweise treffen die Komplexität der Kipppunkte und die Ungewissheit darüber, wann sie überschritten werden, auf eine institutionelle Landschaft, die für die Bewältigung des Klimawandels eher ungeeignet. Daher werden Kipppunkte und ihre Auswirkungen nur selten, wenn überhaupt, in politischen Planungsprozessen berücksichtigt.
Um diese Lücke zu schließen, schlägt Germanwatch ein politisches Frühwarnsystem für Kipppunkte vor. Damit stünde der Politik ein systematischer Ansatz zur Verfügung, auf dessen Grundlage die wissenschaftlichen Erkenntnisse über Kipppunkte und ihre Auswirkungen in konkrete politische Empfehlungen umgesetzt werden können.
Ein Frühwarnsystem für Klimakipppunkte
Ein Frühwarnsystem könnte helfen, große Risiken abzuwenden und sich rechtzeitig auf die Folgen des Überschreitens bestimmter Kipppunkte vorzubereiten. Indem es eine Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik herstellt, könnte das Frühwarnsystem darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag zum Schutz der menschlichen Sicherheit leisten. Dabei sollte es jedoch konkrete Empfehlungen für die folgenden Schwerpunktbereiche geben:
- Verhinderung des Überschreitens von Klimakipppunkten
- Vorbereitung auf die Folgen der Überschreitung der Kipppunkte
- Bewertung der Risiken für menschliche Sicherheit
- Ergänzung und Auswertung der politischen Maßnahmen in Bezug auf Minderung, Anpassung, Schäden und Verluste sowie Klima-, Außen- und Sicherheitsstrategien
- Begrenzung des Ausmaßes und der Geschwindigkeit der Folgen des Überschreitens der Kipppunkte
Ein solches Frühwarnsystem könnte die Form eines jährlichen Berichts als Ergänzung zu den Berichten des Weltklimarats annehmen und spezifische an die Politik gerichtete Empfehlungen umfassen. Dabei sollte jedoch nicht nur darauf hingewiesen werden, wann bestimmte Umweltsysteme destabilisiert werden und sich auf ihren Kipppunkt zubewegen, sondern auch regionale und sozioökonomische Auswirkungen sollten berücksichtigt werden.
Die Empfehlungen sollten sich an Klima-, Außen- und Sicherheitspolitiker:innen auf verschiedenen Ebenen – regional (z.B. Rat für Auswärtige Angelegenheiten der Europäischen Union), national (z.B. Außen- und Umweltministerien) und global (z.B. Sicherheitsrat der Vereinten Nationen) – richten und auf die jeweiligen Handlungsfelder zugeschnitten sein. So könnten Synergien zwischen der Klimawissenschaft, der Friedensförderung und Sicherheit, den Durchführungsorganisationen und der Politik geschaffen werden. Das wiederum würde die Notwendigkeit wirksamer Klimamaßnahmen, die Konfliktprävention, die Vermeidung, Minimierung und Behebung von Schäden und Verlusten sowie die Förderung von Frieden und Stabilität stärken. Schließlich könnte ein Frühwarnsystem einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung und Ergänzung für die aktuellen Forderungen nach einer aktualisierten Klimasicherheitsarchitektur leisten.
Kipppunkte müssen in die außenpolitische Debatte einbezogen werden
Wie wir gesehen haben, wird die Überschreitung von Kipppunkten schwere Auswirkungen auf das Leben und die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen haben. Um rechtzeitig und angemessen reagieren zu können, müssen in internationalen und außenpolitischen Diskussionen umgehend die Klimakipppunkte und die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt werden.
Neben der Einführung eines Frühwarnsystems müssen sich die politischen Entscheidungsträger:innen an das Pariser Abkommen halten und die Treibhausgasemissionen konsequent reduzieren. Um die Überschreitung der Kipppunkte abzuwenden, die noch vor einem Temperaturanstieg von 1,5° über der vorindustriellen Durchschnittstemperatur liegen, sind auch mehr Investitionen in die Stärkung der Resilienz, der Anpassungsfähigkeit und eine finanzielle Entschädigung für Schäden und Verluste erforderlich.
In den folgenden Blog-Beiträgen werden der Klimaforscher Dr. Conor Purcell und der Politikwissenschaftler Dr. Michael Keary die Folgen eines Überschreitens der Klimakipppunkte anschaulich darstellen und insbesondere auf die vier wichtigsten eingehen: den Amazonas-Regenwald, die atlantische meridionale Umwälzungbewegung und den Grönland-Eisschild, die Korallenriffe und den westantarktischen Eisschild. Neben einem Überblick über die einzelnen Entwicklungen werden auch ihre Auswirkungen auf die menschliche Sicherheit sowie auf Schäden und Verluste beleuchtet.
Autor:innenLisa Schultheiß |