Steigende Lebensmittelpreise, sinkende Getreideexporte
Das globale Ernährungs- und Landwirtschaftssystem steht seit Jahren politisch, wissenschaftlich und öffentlich zur Diskussion, so auch auf der aktuellen Weltklimakonferenz (COP27). Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat viele der diskutierten Kernprobleme noch einmal offensichtlicher gemacht – und daraus resultierende Krisen noch einmal verschärft. Was sind aktuell die größten Herausforderungen, wie lassen sie sich lösen und welche Rolle sollte Deutschland dabei einnehmen?
Ausgangslage: Starke Abhängigkeit von Getreideimporten
Viele Länder, insbesondere in Afrika, im Nahen Osten und in Teilen Asiens, sind zu stark von Getreideimporten abhängig (v.a. Weizen). Die Gründe dafür sind vielfältig:
- Nationale Versäumnisse: Die heimische Landwirtschaft und die ländlichen Räume wurden in vielen Ländern von der Politik vernachlässigt, für die nationale Agrarpolitik stehen oftmals nur geringe Haushaltsmittel zur Verfügung.
- Internationale Versäumnisse: Jahrelang empfahlen internationale Organisationen wie die Weltbank, eine günstige Versorgung über die Weltmärkte zu unterstützen, anstatt die teilweise aufwändigere nationale Eigenversorgung voranzutreiben („trade-based food security“). Manche Länder förderten so lieber die Produktion von „cash crops“ wie Baumwolle oder Palmöl als den Anbau von Nahrungsmitteln für die heimische Bevölkerung
- Urbanisierung: In vielen Ländern wächst die städtische Bevölkerung schnell und ihre Versorgung ist häufig politisch prioritär. Angesichts der Vernachlässigung eigener Erzeugung sind diese Länder dann oft auf Importe angewiesen.
- Konzentrierte Marktmacht: Die Weltmärkte für Getreide werden von einer kleinen Zahl von Exporteuren beliefert, Russland und die Ukraine spielen dabei eine besonders große Rolle. Auch der internationale Getreidehandel wird von wenigen Händlern beherrscht. Das macht die Märkte besonders anfällig für den Ausfall von Lieferungen eines oder mehrerer dieser Lieferanten. Die dadurch steigenden Preise machen es selbst für das Welternährungsprogramm (World Food Programme – WFP) der UN schwieriger, Nahrungsmittelhilfe in akuten Ernährungskrisen zu leisten, die durch bewaffnete Konflikte und Dürren immer zahlreicher werden.
- Tierfutter statt Teller: Eine zentrale Rolle spielt auch, dass fast 60% des weltweit erzeugten Getreides derzeit nicht (direkt) der menschlichen Ernährung dienen. 40% werden als Tierfutter genutzt, etwa 20% für Agrarenergie und andere industrielle Zwecke. In der EU und Deutschland ist der Anteil des Tierfutters an der Getreideerzeugung noch deutlich höher. Damit sind die auf Importe angewiesenen Entwicklungsländer besonders stark von den kriegsbedingt unterbrochenen Lieferketten für Getreide, Energie und Düngemittel betroffen.
Hinzu kommt, dass die Erzeugung von Getreide gerade in den großen Exportregionen zu stark von synthetischem Dünger abhängig ist. Durch die Kopplung der energieintensiven Düngerherstellung an höhere Gaspreise steigen letztlich auch die Getreidepreise. Ein schnellstmöglicher Umstieg von fossilen Düngemitteln auf langfristig nachhaltigere Bewirtschaftungsmöglichkeiten mit höherer Bodenfruchtbarkeit ist – nicht zuletzt auch aus Klimaschutzgründen – geboten.
Landwirtschaft und Klimawandel
Die Folgen des Klimawandels für die Landwirtschaft sind in vielen Regionen der Welt bereits jetzt deutlich sichtbar, u. a. beim Getreideanbau. Ob Extremwetterereignisse wie Flutkatastrophen (Pakistan, Nigeria) und Dürren, Wassermangel (USA, Somalia, Kenia, Brandenburg etc.) oder Hitzewellen (Italien) – all dies hat gravierende Auswirkungen auf die lokale und nationale Versorgung mit Nahrungsmitteln und die verfügbaren Mengen auf den Weltmärkten.
Die Landwirtschaft ist zugleich mitverantwortlich für den Klimawandel: Einerseits durch direkt mit der Produktion verbundene Emissionen (ca. 16% des anthropogenen Klimawandels) und andererseits durch die Folgen der Landnutzung (ca. 14-15%), zu denen z. B. Entwaldung oder die Trockenlegung von Mooren zählen.
Neustart für die Nahrungsmittelproduktion
Vor den hier nur kurz beschriebenen Hintergründen besteht aktuell eine zentrale wie gewaltige Aufgabe darin, die Agrar- und die Nahrungsmittelproduktion möglichst nachhaltig zu gestalten. Während dabei im globalen Norden eher bestehende Systeme umgebaut werden müssen, geht es in vielen anderen Staaten vorrangig darum, gut funktionierende und resiliente Agrar- und Ernährungssysteme aufzubauen.
Für die nachhaltige Transformation von Landwirtschaft und Ernährung müssen – speziell in Industrienationen wie Deutschland – dezidierte Anreize dafür geschaffen werden, die Produktion und den Konsum von Tierprodukten deutlich zu verringern. Mittel- bis langfristig müssen mehr Anbauflächen für die direkte menschliche Ernährung freigegeben werden. Umsetzbar wäre dies etwa durch die Nutzung aktueller Anpassungsbeihilfen für tierhaltende Betriebe sowie geeignete Öko-Regelungen („Eco-Schemes“) im Rahmen der EU-Agrarpolitik, um Tierbestände zu reduzieren und Tierhaltung stärker an Futterflächen zu binden. Auch die Verwendung von Getreide zur Energiegewinnung (bspw. Bioethanol) muss deutlich reduziert und für die menschliche Ernährung freigegeben werden. Der aktuelle Trend eines sich verringernden Fleischkonsums sollte gleichzeitig mit kurz- und mittelfristigen Maßnahmen unterstützt werden. Entsprechende Vorschläge kamen zuletzt vom Institute for Sustainable Development and International Relations (IDDRI) dem Wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBA beim BMEL) oder dem Wuppertal Institut.
Nationale Strategien, internationale Absprachen
Unabdingbar für die Lösung der anstehenden Aufgaben sind eindeutige politische Strukturen und Anreizmechanismen, die beeinflussen, was, wo und unter welchen Bedingungen produziert und gehandelt wird. Mit Blick auf die Länder des Globalen Südens und die dort lebenden ärmeren, marginalisierten und auch hungernden Menschen muss dabei im Rahmen von Entwicklungszusammenarbeit und Außenpolitik ein Fokus auf menschenrechtliche Ansätze gelegt werden, um zivilgesellschaftliche Akteur:innen zu unterstützen und die nationale Governance zu stärken.
Gleichzeitig müssen im Rahmen einer multilateralen Governance verbindliche internationale Absprachen, Übereinkommen und Regelungsrahmen zur Transformation des globalen Ernährungssystems vereinbart werden. Die Absprachen sollten unter anderem darauf abzielen, benachteiligte Bevölkerungsgruppen und Produzenten in ländlichen Regionen zu fördern und Notfallmaßnahmen für Krisensituationen vorzubereiten – z. B. die Freigabe von Getreide und Düngemittel aus eigenen Vorräten für hungerbedrohte Länder.
Deutschland muss eine starke Führungsrolle einnehmen
Während seiner G7-Präsidentschaft hat Deutschland bereits eine entscheidende Rolle im Umgang mit den Problemen des globalen Ernährungs- und Landwirtschaftssystems übernommen und zugleich eine doppelte Führungsrolle in zwei internationalen Bündnissen zur Gewährleistung von Ernährungssicherheit: der „Global Crisis Response Group on Food, Energy and Finance“ sowie der „Global Alliance for Food Security“. Deutschland ist in fast allen mit Ernährungssicherheit verbundenen internationalen Organisationen der zweit- oder drittgrößte Geldgeber, unterhält wichtige Institutionen – u. a. das jährlich stattfindende Agrarminister:innentreffen im Rahmen des „Global Forums of Food and Agriculture“ (GFFA) oder das Debattenformat „Policies against Hunger – und engagiert sich auch für die Stärkung des „Committee on World Security“ (CFS), die zentrale Steuerungsinstitution für Welternährungsfragen.
Das bietet einen guten Ausgangspunkt, um auch weiterhin eine Führungsrolle einzunehmen – und diese zukünftig noch auszubauen. Gerade auf nationaler Ebene sollte Deutschland eine noch schnellere und sichtbarere Transformation des Agrar- und Ernährungssystems erreichen, nicht zuletzt, um damit eine Vorbildfunktion einzunehmen und ausreichend Glaubwürdigkeit für die internationalen Bemühungen aufzubauen.