Ferrogrão – der nächste „Zug“ der Agrarindustrie
Der Anbau der Eiweißpflanze Soja ist für die europäische Viehwirtschaft unverzichtbar.
Katharina Brandt
Eine tausend Kilometer lange Eisenbahnstrecke soll den industriellen Soja-Anbau in Brasilien kostengünstiger machen und den Export steigern. Die Europäische Union ist schon jetzt als zweitgrößte Abnehmerin des brasilianischen Sojas mitverantwortlich für die sozialen und ökologischen Schäden, die durch die Sojaproduktion und die Ausbreitung von Viehweiden in Waldgebieten und auf Kosten natürlicher Ökosysteme entstehen. Große Teile der indigenen Bevölkerung Brasiliens leisten dagegen Widerstand und verweisen dabei auf die Missachtung ihrer Rechte und die Gefährdung des Klimas und der Biodiversität.
Bilder von Bränden und Rodungen im Amazonasgebiet gehen seit Jahren um die Welt. Der zunehmende Waldverlust verschärft den Klimawandel und den Rückgang der biologischen Vielfalt. Die ursprüngliche Vegetation wird für die Produktion von Soja und Rindfleisch – auch für die Europäische Union (EU) – gerodet. Die großen Fragen, die damit einhergehen, sind: Welche politischen Instrumente sind erforderlich, damit die EU Gebiete mit hoher sozioökologischer Bedeutung wie den Amazonas-Regenwald in ihren Agrarlieferketten schützt statt gefährdet? Wie kann dabei der Schutz der Rechte der indigenen Bevölkerung sichergestellt werden?
Um für unsere Arbeit hilfreiche Antworten darauf zu finden, brauchen wir die Expertise von vor Ort. Deshalb interviewen wir seit einigen Wochen diverse Expert:innen aus den südamerikanischen Anbauländern Brasilien, Argentinien und Paraguay, aber auch aus der EU – darunter Wissenschaftler:innen, Politikberater:innen und Menschenrechtsaktivist:innen. Oft kommt dabei die schwierige politische Lage in Brasilien zur Sprache. Die Regierung des rechtskonservativen Präsidenten Jair Bolsonaro untergräbt zunehmend die Rechte indigener und traditioneller Gemeinschaften zugunsten der regierungsnahen agrarindustriellen Lobby. Dies geschieht durch Gesetzesänderungen, um Genehmigungsverfahren für Großprojekte zu vereinfachen oder Grenzen von Schutzgebieten zu verringern sowie durch die institutionelle Schwächung der brasilianischen Umweltbehörden und der Behörde für die Anliegen der indigenen Bevölkerung Brasiliens (FUNAI).
Die indigene Bevölkerung Brasiliens macht Dampf
Ende August kampierten drei Wochen lang rund 6.000 Menschen aus über 170 ethnischen Gruppen Brasiliens vor den Regierungsgebäuden in der Hauptstadt Brasília, um für ihre Landrechte und gegen die Anti-Indigene-Agenda Bolsonaros zu protestieren. Sie demonstrierten gegen mehrere Gesetzesvorhaben, die aktuell auf nationaler Ebene zur Abstimmung stehen. Die Gesetze würden Bergbau in Schutzgebieten von Indigenen zulassen und den Staat befähigen, im Nachhinein illegale Landnahmen zu legalisieren, die bis 2014 durch die Agrarindustrie erfolgten. Des Weiteren könnten indigene Völker den Anspruch auf ihre Gebiete verlieren, sollten sie nicht nachweisen können, dass sie am Stichtag des Inkrafttretens der brasilianischen Verfassung im Jahr 1988 dort ansässig waren. Damit hätten indigene und traditionelle Gemeinden, die zu dem Zeitpunkt bereits vertrieben oder zwangsumgesiedelt wurden, keinen rechtlichen Anspruch auf das Territorium ihres Volkes. Um all dies zu vermeiden – und um die Rechte indigener und traditioneller Bevölkerung zu wahren sowie die Umwelt zu schützen – ist unseren Gesprächspartner:innen zufolge, neben einer höheren internationalen Aufmerksamkeit, auch der wirtschaftlicher Druck, insbesondere durch die EU, als zentrale Handelspartnerin Brasiliens, vonnöten. Das könnte auch dem sehr umstrittenen Infrastrukturprojekt, der knapp 1.000 Kilometer langen Eisenbahnstrecke EF-170, Einhalt gebieten.
933 Kilometer Stahl durch Schutzgebiete
Die im Volksmund auch „Ferrogrão“ (ferro=Eisen, grão=Korn, also Eisenbahnschienen fürs Getreide) genannte Eisenbahnstrecke ist ein neun Jahre altes strategisches Projekt der größten multinationalen Agrarunternehmen, die in Brasilien den Handel dominieren: Archer Daniels Midland (ADM), Amaggi, Bunge, Cargill und Louis Dreyfus. Die geplante Eisenbahnstrecke soll das größte Getreideanbaugebiet des Landes, das mitten in Brasilien im Bundesstaat Mato Grosso liegt, mit dem nördlich gelegenen Binnenhafen von Miritituba im Bundesstaat Pará verbinden. Von dort aus soll die Fracht über die Flüsse Tapajós und den Amazonas an die Atlantikseehäfen und dann in die Welt verschifft werden. Die Ziele: Transportkosten einsparen und die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Befürworter:innen des Rieseninfrastrukturprojekts argumentieren, dass die reduzierten Frachtkosten das Wachstum der brasilianischen Wirtschaft ankurbeln und den Verkehr auf den Straßen entlasten würden. Zudem würde die Eisenbahn die vielen Lastwägen ersetzen, die aktuell noch 70 % der Ernte von Mato Grosso zu den 2.000 Kilometer südlich gelegenen Binnenhäfen Santos und Paranaguá transportieren.
2050 sollen über die neue Eisenbahnstrecke 42,3 Millionen Tonnen von vor allem Soja und Mais, aber auch Düngemittel, Zucker und Ethanol günstiger transportiert werden können.
Die Ferrogrão soll die Produktion von Soja und anderen Agrarrohstoffen fördern. Bis 2030 soll Mato Grosso seine hauptsächlich für den Export bestimmte Getreideproduktion um 70 % steigern. Es ist davon auszugehen, dass der Anbau sich entlang der geplanten Eisenbahnstrecke ausbreiten wird. Dies hätte zur Folge, dass Viehweiden entlang der Strecke in Waldgebiete ausweichen würden. Eine von der Climate Policy Initiative und der Päpstlichen Katholischen Universität von Rio de Janeiro (PUC-Rio) durchgeführte Studie schätzt, dass die durch den Bau der Eisenbahn geförderte Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Mato Grosso direkt zur Abholzung von mehr als 2.000 km² Naturwäldern – das entspricht in etwa 285.000 Fußballfeldern – beitragen könnte. Die Ausdehnung der industriellen Landwirtschaft ginge mit weiterem Verlust biologischer Vielfalt und der zusätzlichen Verschärfung von illegaler Landnahme, Waldbränden und der Vertreibung traditioneller Bevölkerungsgruppen aus der Region einher.
Für den Bau der Ferrogrão wurden bereits 2016 durch den damaligen Präsidenten Michel Temer vorläufig der Schutzstatus einer 862 Hektar großen Fläche des Jamanxim-Nationalparks aufgehoben. Dieser verfassungswidrige Schritt veranlasste einen Richter des Bundesgerichtshofes, die Baugenehmigung vorläufig auszusetzen. Das Projekt wird aktuell vom Bundesrechnungshof geprüft und Anfang 2022 soll das öffentlich-private Partnerschafts-Projekt ausgeschrieben werden.
Die brasilianische Regierung stellt die Ferrogrão als ökologisch nachhaltig dar. Das Infrastrukturministerium argumentiert, dass durch die Verlagerung des Transportes von LKWs auf die Zuggleise die CO2-Emmissionen um bis zu 1 Millionen Tonnen verringert werden. Allerdings würden die Rodungen für den Bau der Eisenbahnstrecke die Emissionen von Kohlenstoff um 75 Millionen Tonnen steigern – mehr als Österreich im ganzen Jahr 2019 erzeugt hat. Der entscheidende Rechenfehler dahinter: Waldflächen, die für die Ferrogrão gerodet würden, wurden nicht in die Gleichung einbezogen.
Von dem Eisenbahnprojekt beeinträchtigte Bevölkerung wird nicht konsultiert
Das Bahnprojekt würde 16 indigene Gebiete der Munduruku, Panará, Kayapó und der Xingu-Völker beeinträchtigen. Seit der Ankündigung des Projekts fordert deshalb die indigene Bevölkerung, die in den Bundesstaaten Pará und Mato Grosso leben, Mitsprache und genaue Informationen über die Auswirkungen des Schienenprojekts. Und das ist ihr gutes Recht. Schließlich hat Brasilien die Konvention 169 zum Schutz der Rechte indigener Völker der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO 169) unterzeichnet. Damit ist Brasilien verpflichtet, eine freie, vorherige und informierte Konsultation der indigenen und anderen traditionellen Bevölkerungsgruppen durchzuführen, bevor Großprojekte genehmigt werden. Damit sollen indigene Völker und andere traditionelle Gemeinschaften Einfluss auf die Ausgestaltung des Projektes und auf Maßnahmen zur Vermeidung, Milderung und zum Ausgleich sozioökologischer Auswirkungen nehmen können. Die vom Bau der Eisenbahnstrecke betroffene Bevölkerung wurde allerdings in der Planungsphase nicht konsultiert und die Regierung bestätigte, dass sie keine vorherigen Konsultationen vor der Ausschreibung der Lizenzvergabe des Eisenbahnprojektes durchführen wird. Jair Bolsonaro strebt zudem an, aus der ILO 169 auszutreten.
Kann die EU den Getreidezug noch aufhalten?
Könnte die EU als wichtige Handelspartnerin Brasiliens den Bau der Strecke für den „Getreidezug“ noch aufhalten?
Nein. Brasilianisches Soja als Futtermittel für die industrielle Tierhaltung der EU wird, sollte die Bahnstrecke gebaut werden, auf der Ferrogrão von Mato Grosso an die Seehäfen transportiert werden. Mit welchen politischen Instrumenten die EU jedoch sicherstellen könnte, dass für die Produktion ihrer importierten Agrargüter keine neuen Naturwälder gerodet wurden, ist Gegenstand unserer Politikanalyse, die wir im November veröffentlichen möchten. Dabei untersuchen wir vor allem zwei zentrale Gesetzesvorhaben, die aktuell auf EU-Ebene entwickelt werden, um Entwaldungsfreiheit und Schutz der Menschenrechte in Lieferketten sicherzustellen: das EU-Lieferkettengesetz soll sektorenübergreifend Unternehmen zu Sorgfaltspflichten in Bezug auf Umwelt und Menschenrechte verpflichten. Über das zweite Gesetzesvorhaben sollen Risiko-Produkte wie Soja, Rindfleisch, Palmöl oder Kaffee, die zentral mit Entwaldung in Verbindung stehen, nur noch unter Einhaltung bestimmter Nachhaltigkeitskriterien in die EU eingeführt werden dürfen. Zudem untersuchen wir, inwiefern in EU-Handelsabkommen rote Linien gezogen werden können, die Handel nur noch mit solchen Ländern erlauben, die internationale Menschenrechtskonventionen beigetreten sind und Nachhaltigkeitskriterien einhalten.
Außerdem prüfen wir, ob strengere soziale und ökologische Investitionskriterien nachhaltigere Prozesse in Anbau- und Produktionsländern in Gang bringen können. Nicht zuletzt möchten wir dem Rat unserer Gesprächspartner:innen folgen und zu internationaler Aufmerksamkeit beitragen, um den Handlungsdruck auf alle beteiligten Akteur:innen zu erhöhen, die Weichen für Infrastrukturprojekte im Sinne der betroffenen Menschen und dem Schutz der Umwelt zu stellen.
Unsere Arbeit für Agrarlieferketten, die Umwelt und Menschenrechte schützen, wird u.a. über ein Projekt der Robert Bosch Stiftung gefördert.