Soziale Identität und kollektive Wirksamkeitserwartung
Soziale Identität und kollektive Wirksamkeitserwartung
Im umweltpsychologischen Forschungsdiskurs wird zunehmend ein längst notwendiger Wandel von der Erklärung individueller Faktoren, die persönliches umweltfreundliches Alltagshandeln beeinflussen, hin zu Er-klärungsansätzen aus der kollektiven Psychologie deutlich. Die Relevanz sozialer Identität, kollektiver Selbstwirksamkeitserwartungen oder systemischen Denkens für gesellschaftliche Veränderungen geraten in den Fokus. Eine Forschungsgruppe rund um Prof. Gerhard Reese von der Universität Koblenz-Landau hat einige dieser Themen im Zusammenspiel mit COVID-19 erörtert und dazu das „Modell der Sozialen Identität im Umweltschutz-Engagement“ [Übersetz. d. Red.] weiterentwickelt. Außerdem formulieren die Psycholog*innen in ihrem Artikel zwölf Forschungsfragen, deren Beantwortung auch für die praktische Arbeit in NGOs, Politik und Verwaltung relevant ist.
Germanwatch zitiert und übersetzt hier Passagen aus dem englischsprachigen Fachjournal „Environmental Psychology“.
„[…] Wir argumentieren, dass sich durch die Corona-Krise kollektive Prozesse entwickeln, die zu einer Neubewertung von und neuen Antworten auf die Klimakrise sowie damit verbundenen politischen Maßnahmen führen. […]
Natürlich gibt es wichtige Unterschiede zwischen diesen zwei Krisen. Einige sagen, dass die psychologische Distanz zur Klimakrise sehr viel größer ist und daher das (systemische) Risiko als geringer wahrgenommen wird (Brügger, 2020).
[…] Viele Menschen sind außerdem der Meinung, dass mit COVID-19 verbundene Einschränkungen nur temporär sind, während Lebensstil-Veränderungen für den Klimaschutz als dauerhaft gesehen werden. Es könnte außerdem sein, dass Menschen unterschiedliche emotionale Reaktionen zeigen, da die Klimakrise von manchen Menschen als weniger akut wahrgenommen wird: COVID-19 hat sehr greifbare Folgen für Personen aus Risikogruppen (Tod oder schwere Krankheit) oder bei einem unkontrollierten Ausbruch direkte Auswirkungen wie kollabierende Gesundheitssysteme. Es ist außerdem wahrscheinlich, dass Menschen sich bei der Bekämpfung von COVID-19 kollektiv wirksamer fühlen, da Feedback zu (erfolgreich) getroffenen Maßnahmen fast täglich kommuniziert wird [z.B. aktuelle Fallzahlen, Anm. d. Red.]. […]
The Social Identity Model of Proenvironmental action (SIMPEA)
Unsere soziale Identität ist der Teil unseres Selbst, der durch unsere Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe definiert ist (Tajfel & Turner, 1979). Gruppen beeinflussen Wahrnehmung und Handeln ihrer Mitglieder durch geteilte Normen, Überzeugungen und Ziele […] und können als psychologische Treiber für sozialen Wandel oder den Widerstand gegen sozialen Wandel gesehen werden (Rosenmann, Reese, & Cameron, 2016). […] Das „Modell der Sozialen Identität für Umweltschutz-Engagement“ [engl. Abk.: SIMPEA] geht davon aus, dass auch die Reaktionen auf Krisen von sozialen Gruppenprozessen abhängig sind (Fritsche et al., 2018). [..] Genauer gesagt hängt dem SIMPEA-Modell zufolge die Einordnung einer Krise (z.B.: Handelt es sich um eine relevante Bedrohung?
Abbildung 1: Zusammenhänge zwischen verschiedenen Faktoren im erweiterten „Modell der Sozialen Identität im Umwelt-/ Klimaschutz-Engagement (SIMPEA)". (Eigene Übersetzung des Modells basierend auf Reese et al. (2020))
sowie die Reaktion auf die Krise (z.B. die Unterstützung politischer Maßnahmen) von der Salienz sozialer Normen (implizite Regeln, die das Verhalten in Gruppen leiten), kollektiven Wirksamkeitserwartungen (die Überzeugung, als Gruppe gemeinsam Ziele erreichen zu können) und der Stärke der Identifikation mit der sozialen Gruppe (der emotionalen und kognitiven Verbindung) ab.
Die Einschätzung einer Krise löst dann wiederum Emotionen aus und diese münden in damit verbundene Bedürfnisse und Motivationen, die wiederum die sozialen Faktoren beeinflussen [d.h. z.B. die Identifikation mit einer Gruppe oder die kollektive Wirksamkeitserwartung stärken oder schwächen können, Anm. d. Red. vgl. Abbildung 1.]
Dieser zyklische Zusammenhang lässt vermuten, dass gruppenbezogene Reaktionen auf die COVID-19-Krise auch die Wahrnehmung von und Reaktionen auf andere große Krisen – wie eben die Klimakrise – beeinflussen können. […]
Erweiterungen des Modells und resultierende Forschungsfragen
Die Wahrnehmung und Einordnung der Corona-Krise hängt nicht nur von den o.g. sozialen Prozessen ab, sondern auch von der Fähigkeit, systemisch zu denken und Dynamiken von z.B. exponentiellem Wachstum oder Kipppunkten zu verstehen. […] Je eher Menschen bereit oder in der Lage sind, systemisch zu denken, desto stärker vertreten sie außerdem umwelt-/klimaschützende Einstellungen (Ballew et al., 2019). […] Es könnte daher untersucht werden, ob die wiederholte Konfrontation mit Informationen zu systemischen Zusammenhängen während der Corona-Krise die Fähigkeit systemischen Denkens auch in Bezug auf die Klimakrise verbessert. […]
Die Pandemie wird u.a. begleitet durch […] die gemeinsam erlebte Bedrohung eines „nicht-menschlichen Faktors“ (des Virus) gegenüber allen Menschen. […] Es könnte daher im Zusammenhang mit COVID-19 getestet werden, ob diese Bedrohung, die alle betrifft, eine Identifikation mit der gesamten Menschheit beflügelt. […] Und wenn dies der Fall ist, kann diese soziale [globale} Identität dazu führen, dass Menschen stärker gewillt sind, klimapolitische Maßnahmen zu unterstützen? [Menschen, die sich der gesamten Menschheit als „Gruppe“ zugehörig fühlen, zeigen verschiedenen Studien zufolge eine stärkere politische Zustimmung zu Umwelt-/Klimaschutz-Maß-nahmen, Anm. d. Red.] Könnte COVID-19 in diesem Sinne ein Gefühl der kollektiven Wirksamkeitserwartung hervorrufen, dass die notwendigen Antworten auf die Klimakrise vorantreibt? […]
Es ist außerdem möglich, dass eine identitätsbezogene kollektive Wirksamkeitserwartung in der Corona-Krise (z.B. „Wir können diese Krise gemeinsam überwinden“) einen positiven Übertragungseffekt auf andere Bereiche wie die Klimakrise haben könnte. D.h. Menschen könnten eine stärkere Überzeugung entwickeln, dass sie der Klimakrise gemeinsam etwas entgegensetzen können, nachdem sie erlebt haben, was als Gemeinschaft sowie politisch auf nationaler aber auch auf globaler Ebene möglich ist. […]
Allerdings können [im Zusammenhang mit Covid-19] auch Gruppen beobachtet werden, die sich durch die gemeinsam geteilte Ablehnung von Maßnahmen gegen die Pandemie zusammentun und einen gemeinsamen Feind in staatlichen Regulierungen sehen.“
Quelle: Reese, G., Hamann, K., Heidbreder, L., Loy, L., Menzel, C., Neubert, S., Tröger, J., & Wullenkord, M. (2020). SARS‐Cov‐2 and environmental protection: A collective psychology agenda for environmental psychology research. Journal of Environmental Psychology, 70, 101444. Online abrufbar