Flüchtlingskrise und EZ: Großer Sprung?

Die jüngste Eskapade der deutschen ODA-Quote

Die Überraschung war groß, als das Entwicklungshilfe-Komitee (DAC) der OECD am 13. April die Quoten für die Öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) 2015 bekannt gab: in Deutschland 0,52% des Bruttonationaleinkommens (BNE) – ein Rekord, war doch in über 30 Jahren nie wieder die bisherige Höchstmarke von 0,47% (1982 und 1983) erreicht oder gar übertroffen worden. Vielmehr hatte es einen langen Abstieg hin zu 0,26% (1998 und 1999) gegeben, ehe langsam die 0,42% von 2014 erreicht wurden. Den „großen Sprung“ bewertet Ludger Reuke.

Das DAC betont, dass der jüngste Sprung in den deutschen Leistungen für Entwicklungszusammenarbeit (EZ) – wie auch in vielen anderen DAC-Ländern – fast ausschließlich auf die erheblich gestiegenen Aufwendungen für „Flüchtlinge in ihrem 1. Jahr im Zufluchtsland“ zurückzuführen ist. Er spricht aber dennoch von Erfolg. Das BMZ weist auf eine „erhebliche Steigerung“ hin und zitiert  den Minister mit allgemeinen Äußerungen zur „Flüchtlingskrise“. Er suggeriert dabei, dass die Flüchtlingskosten im Ausland mit der Steigerung zu tun hätten. Man glaubt wohl, das sei leichter zu vermitteln.

● Nach DAC korrekt, aber irreführend

Im Folgenden wird (a) die Steigerung im Einzelnen erläutert, (b) auf die Fragwürdigkeit der „Flüchtlingskosten in der ODA“ hingewiesen, (c) die Quote ohne diese Kosten berechnet, (d) die wahrscheinliche weitere Entwicklung der Quote, jeweils mit und ohne „Flüchtlingskosten“, aufgezeigt, ehe (e) mögliche Auswirkungen auf künftige Budgetverhandlungen behandelt werden.

(a) Das Bruttonationaleinkommen (BNE) war 2015 gegenüber dem Vorjahr stark um 3,5% gestiegen, der Einzelplan (EP) 23 (BMZ-Haushalt) nur um mickrige 62 Mio. €. Beides ist für die Höhe der ODA-Quote „schädlich“. Aber: Der sehr hohe Anstieg bei den „Kosten für Flüchtlinge in Deutschland im 1. Jahr“ (von 2014 nur 129 Mio. € = 1,03% der Gesamt-ODA auf jetzt 2 689 Mio. oder 16,83%), ist laut DAC-Richtlinien auf die ODA anrechenbar. Er gleicht den „Schaden“ nicht nur aus, er allein führt darüber hinaus zu dem großen Sprung von knapp 0,42% auf 0,52%. Das ist nach DAC-Richtlinien eine korrekte Angabe. Sie ist jedoch geeignet, die (positiv oder negativ) interessierte Öffentlichkeit und nicht genau hinschauende Politiker in die Irre zu führen -  mit für die Entwicklungsfinanzierung gefährlichen Auswirkungen.

(b) Dass die Aufwendungen für die Flüchtlinge und Asylsuchenden aus humanitären Gründen notwendig, aufgrund internationaler Abkommen zum allergrößten Teil sogar verpflichtend sind, wird absolut nicht bestritten, sondern begrüßt. Diese Leistungen aus den Gemeindehaushalten jedoch als entwicklungsrelevant zu betrachten und damit ODA-anrechenbar zu machen, ist höchst fragwürdig. Diese Anrechnung ist „nur mit ausgeklügelter Gedankenakrobatik zu bewerkstelligen“, so schon eine Germanwatch-Studie 2005. Da sie aber in der Gesamt-ODA nur eine marginale Größe war (selten über, meist unter 1% der Gesamt-ODA) und da sie nach 2001 (1,61%) stark sank, ist das später einfach hingenommen worden.

Zum Jubel gibt es keinen Grund

(c) Rechnet man die Kosten für Flüchtlinge in Deutschland aus der Gesamt-ODA heraus, so gibt es eine viel geringere, „normalere“ Steigerung von 0,41 auf 0,43%. Ein kleiner Anstieg immerhin, aber weit entfernt von den 2002 in Monterrey versprochenen 0,51 (für 2010) oder gar 0,7% (für 2015).

(d) Da die Kosten für die ab Herbst 2015 angekommenen Flüchtlinge (mehr als „eine Million“) für ein Jahr fortlaufen, werden sie sich auch bei 2016 sinkenden Flüchtlingszahlen kaum verändern. Der Einzelplan 23 wird laut Haushaltsgesetz so stark (um 898 Mio.) ansteigen, dass trotz des geringeren Anstiegs des BNE (Prognose 1,5%) die ODA-Quote, ob mit oder ohne Flüchtlingskosten, um ungefähr 2 Punkte von 0,52 auf 0,54 bzw. von 0,43% auf 0,45% steigen wird.

Geht man für 2017 von der Vorhersage des Sachverständigenrats (BNE: +1,6%) und  dem Regierungsentwurf für den EP 23 aus und gehen die Flüchtlingszahlen auf die Hälfte zurück, würde 2017 die offizielle ODA auf 0,51% sinken. Sollten die Flüchtlingszahlen wieder auf eine Größenordnung wie vor 2014 fallen, läge die Gesamt-ODA 2018 bei 0,48% - ohne Flüchtlingskosten geringfügig darunter. Der "Erfolg der 0,52%" wird dann zu einem "Rückgang". Zum Jubel gibt es wirklich keinen  Grund.

Der trügerische Anstieg wird sich rächen

(e) Es wäre erheblich klüger gewesen, wenn das BMZ deutlich auf den Grund des trügerischen Anstiegs – die „Flüchtlingskosten in Deutschland“ – hingewiesen hätte und weniger auf die fragwürdige „Steigerung“. Eigenlob kann sich schnell in schmähliche Kritik von außen verwandeln. Außerdem wäre das BMZ bei anstehenden Haushaltsverhandlungen mit Finanzminister und Haushältern in einer erheblich komfortableren Position. So aber werden diese sicherlich bei künftigen Forderungen nach wirklich entwicklungsfördernden Erhöhungen auf die „schwindelerregende Steigerung“ 2015 hinweisen  und sie voraussichtlich als starkes Argument für die Ablehnung von „noch mehr“ nutzen.

Neben dem Ärgernis "Kosten für in Deutschland Studierende aus Entwicklungsländern" gilt es in Zukunft also auch, verstärkt für die Streichung der ODA-Anrechnung von "Flüchtlingskosten im Zufluchtsland" zu kämpfen.

1) Festgestellte oder im Haushaltsgesetz vorgesehene und daraus abgeleitete Zahlen.

2) Schätzungen des Sachverständigenrates zum BNE 2016 (+1,5%) und 2017 (+1,6%) und Regierungsentwurf zum Haushalt 2017.

3) Eigene Einschätzungen, die evtl. erst 2019 oder gar später Realität werden; Schätzung der zugrunde liegenden Flüchtlingszahlen höchst spekulativ.

4) Kosten für Flüchtlinge in Deutschland im 1. Jahr. Bei den Schätzungen wird angenommen, dass sich die EP-Zahlen und die Flüchtlingskosten verändern, alle anderen Teile der ODA-Leistungen aber in der Summe gleich bleiben.]


- Dieser Text erschien im Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung 03-04 / 2016. Er ging auch per Post an alle MdB in Ausschüssen, die sich mit ODA befassen, an das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie an die Spitzen weiterer Ministerien. -

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Artikel