"Wir brauchen eine Dritte Industrielle Revolution"
Interview mit Hans Joachim Schellnhuber
Prof. Dr. Hans Joachim Schellnhuber ist Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Klimaberater von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Germanwatch hat ihn kürzlich dazu befragt, wie eine Klimastrategie nach dem letzten IPCC-Bericht und dem UN-Klimagipfel in Bali aussehen sollte. In dem Interview wird auch Bezug genommen auf die aktuelle Zusammenfassung des wissenschaftlichen Kenntnisstandes zum abrupten Klimawandel, den eine Wissenschaftlergruppe um Schellnhuber und den britischen Klimaforscher Timothy Lenton kürzlich vorgelegt hat [1]. Diese bahnbrechende Veröffentlichung erhöht weiter den Druck in Richtung einer schnellen und entschiedenen Klimaschutzstrategie - in Deutschland, der EU und weltweit.
Herr Professor Schellnhuber, was ist für Sie das zentrale Ergebnis des jüngsten Berichts des Weltklimarates IPCC?
Mit diesem Bericht ist die Beweisaufnahme im Indizienprozess abgeschlossen, der Täter ist überführt: Der Mensch verändert das globale Klima. Jetzt können wir noch das Strafmaß - das Ausmaß der Schäden - beeinflussen. Wir müssen jetzt handeln und eine Doppelstrategie verfolgen: das Unbeherrschbare vermeiden und das Unvermeidbare beherrschen. Um die ganz großen Schäden zu vermeiden müssen wir den Treibhausgasausstoß drastisch reduzieren. Dies wird nur gelingen, wenn wir unseren industriellen Metabolismus grundlegend verändern. Wir müssen eine dritte Industrielle Revolution in Gang setzen. Auch wenn dies gelingt, ist eines klar: Die Erwärmung wird sich nicht mehr ganz unterdrücken lassen. Daher müssen wir außerdem mit aller Kraft die Menschen in den betroffenen Regionen der Welt bei der Anpassung an den Klimawandel unterstützen.
Welche Klimaschutz-Weichenstellungen brauchen wir in der EU?
Der Entwurf einer Energie- und Klimastrategie der EU-Kommission sieht eine 20-prozentige Treibhausgasreduktion bis 2020 vor, und sogar 30 Prozent, sofern es 2009 zu einem internationalen Abkommen kommt. Dies ist nach den Verhandlungen in Bali durchaus wahrscheinlich. Die EU sollte sich also auf ein 30-Prozent-Reduktionsziel einstellen; für Deutschland bedeutet das sogar 42 Prozent Treibhausgasreduktion. Auch für die Energieeffizienz hat sich die EU für das Jahr 2020 ein klares Ziel gesetzt: 20 Prozent des Energieverbrauchs sind einzusparen. Und: Erneuerbare Energien können im Laufe des Jahrhunderts eine dominierende Rolle übernehmen, bis 2020 will die EU ihren Anteil auf 20 Prozent erhöhen. Diese Pläne sind ein erster wichtiger Schritt. Dennoch wird das alles nicht ausreichen, um die fossilen Energieträger früh genug zu ersetzen. Global betrachtet wird man noch viel zu lange auf fossile Energieträger wie Kohle zurückgreifen. Das ist mit den notwendigen Klimaschutzzielen nicht vereinbar. Die EU sollte daher die Forschung zum Thema CCS, der Abscheidung und Speicherung von CO2 - auch bei der Kohleverstromung - intensiv und umgehend vorantreiben. Bei bloßen Lippenbekenntnissen, Demonstrationsanlagen einzurichten, darf es nicht bleiben.
Müssen sich die Industrienationen zum Klimaschutz verpflichten, noch bevor die großen Schwellenländer mitmachen?
Ja. Europa hat seinen Wohlstand seit der ersten Industriellen Revolution auf fossilen Brennstoffen aufgebaut und so eine gewaltige Treibhausgas-Schuld in der Atmosphäre angehäuft. "Entschulden" können wir uns nur durch die Entwicklung eines Wohlstandmodells, das nicht auf CO2-Emissionen beruht und gleichzeitig über die Ausstrahlungskraft verfügt, als Vorbild für die Welt zu dienen. Nur wenn dies gelingt, können wir verhindern, dass uns die Schwellenländer nicht in eine Art Verschmutzungsgeiselhaft nehmen.
Was ist jetzt nach dem Klimagipfel in Bali notwendig?
In Bali wurde eine Klimaversicherung für Entwicklungsländer diskutiert, die besonders betroffene Menschen unterstützt, etwa in Afrika. Ein Versicherungsmodell wäre Ausdruck der notwendigen Solidarität zwischen Nord und Süd. Und es wäre auch richtig, diesen Schritt am Beispiel Afrika - dem vermutlich am stärksten vom Klimawandel betroffenen Kontinent - zu erproben. Ein solcher regionaler Fonds, der sich später in ein Netz regionaler Fonds einfügen könnte, hätte vermutlich mehr Chancen als ein globales Instrument. Ich bezweifele, dass die Regierungen der Industrieländer das notwendige Geld - und wir sprechen hier über sehr große Summen - in einen globalen Fonds einzahlen würden.
Und wie sieht es mit den USA aus?
Es ist tragisch, dass sich die Nation mit dem größten Innovationspotenzial der Welt dem Klimaschutz bisher verweigert. Immerhin ist ein großer Teil der dortigen Bevölkerung, der Unternehmen und der Einzelstaaten heute bereit, diese Haltung aufzugeben. Auch die Programme der aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten sprechen für eine Wende in der US-Klimapolitik. Die größte Chance besteht wohl darin, die USA durch technologische Herausforderungen, etwa in der Richtung eines weltweiten "Apollo-Projektes", an Bord zu bekommen. Diesmal geht es allerdings nicht um die Landung auf dem Mond, sondern um die Neuerfindung der modernen Industriegesellschaft.
Sie haben jüngst mit einer Gruppe von Wissenschaftlern die bisher gründlichste Bestandaufnahme von Kippelementen im Klimasystem unseres Planeten vorgelegt [1]. Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass wir bei ungebremstem Klimawandel die Schwellenwerte dieser Kippelemente überschreiten?
Wir haben zunächst Elemente des Systems Erde identifiziert, die für den Erhalt der Lebensgrundlage vieler Menschen unerlässlich sind und bei denen die Gefahr besteht, dass die Grundlage für ihre Destabilisierung noch in diesem Jahrhundert gelegt wird. Gefährdung und Bedeutung für den Menschen waren die Hauptkriterien für unsere Auswahl. Einige Kippprozesse, etwa das Abschmelzen des westantarktischen Eisschildes, würden selbst bei ungebremster Erwärmung erst in einigen Jahrhunderten zum Abschluss kommen. Andere Kippelemente könnten dagegen schon im Laufe der nächsten Jahre sprunghafte Veränderungen durchmachen. Dazu gehört etwa der Indische Monsun, der beginnen könnte, jahresweise und unberechenbar zwischen zu viel und zu wenig Regen zu schwanken. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Bei ungebremstem Klimawandel ist die Kipp-Wahrscheinlichkeit leider bei den meisten Elementen hoch: die kritischen Schwellen liegen quasi alle innerhalb des vom IPCC projizierten Temperaturbereichs.
Sie schreiben, dass Kipppunkte in der Arktis und in Grönland bereits überschritten sein könnten oder dass wir kurz davor stehen. Worauf stützen Sie diese Aussage?
Auf Beobachtungen. Die Eisbedeckung des Nordpolarmeeres im Sommer hat in den letzten 16 Jahren deutlich abgenommen. Hier hat ein sich selbst verstärkender Prozess eingesetzt: Wenn auf dem Meer schwimmendes Eis schmilzt, wird darunter dunkles Wasser freigelegt, das sich bei Sonneneinstrahlung stärker erwärmt als die hellen Eisflächen und dadurch den Eisschwund wiederum beschleunigt. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Nordpolarmeer noch im Laufe dieses Jahrhunderts im Sommer völlig eisfrei sein wird. Beim Grönländischen Eisschild gibt es einen ähnlichen Effekt: Wo das Eis schwindet, nimmt die Höhe des Schildes ab, sodass die Eisoberfläche in wärmere Luftschichten sinkt. Da die Erwärmung in der Nordhemisphäre besonders stark ist, müssen wir davon ausgehen, dass dieser Prozess den Eisschild schwinden lassen wird, schlimmstenfalls schon im Laufe von dreihundert Jahren.
Sie stützen Ihre Aussagen auf Expertenstatements führender Wissenschaftler. Doch einige Kollegen kritisieren das Vorgehen. Es habe sich nur etwa ein Viertel der angefragten Wissenschaftler beteiligt. Da ihre Namen nicht offen gelegt wurden, sei nicht einschätzbar, wie viel Erfahrung sie haben. Was entgegnen Sie solcher Kritik?
Angesichts der dramatischen Konsequenzen, die das Kippen dieser Elemente für viele Menschen nach sich ziehen würde, bleibt uns gar nichts anderes übrig, als schon heute ein möglichst genaues Bild der Kippprozesse zu erlangen, um Frühwarnsysteme und Anpassungsstrategien entwickeln zu können. Computersimulationen sind bislang aber nur eingeschränkt in der Lage, diese Entwicklungen genau abzubilden. Expertenbefragungen sind ein bewährtes Mittel, künftige Entwicklungen abzuschätzen. Das Einschätzungsvermögen von Forscherinnen und Forschern, die sich seit Jahren intensiv mit der Funktionsweise des Klimasystems auseinandersetzen, ist eine der wenigen Quellen, die uns derzeit Erkenntnisgewinn im Zusammenhang mit den Kippprozessen verschaffen kann. Wir können hierauf nicht verzichten. Im übrigen werden alle Namen in einer Nachfolgepublikation veröffentlicht und eine Umfragebeteiligung von mehr als 30 % ALLER führenden Experten weltweit ist ein tolles Ergebnis: schließlich sind das vielbeschäftigte Leute, und es gab keine Traumreise zu gewinnen.
Sie haben sich als Physiker auf den Umgang mit hochkomplexen Systemen spezialisiert. Nicht-Fachleute und bis in die 70er Jahre auch Physiker denken aber normalerweise in linearen Kategorien. "Die Natur macht keine Sprünge" gehörte für Generationen von Schulabgängern zu den Standardweisheiten. Welcher "Prothesen der Vorstellungskraft" bedarf es, um für solche Prozesse Verständnis zu wecken?
Seitdem die sogenannte "Nichtlineare Dynamik" zu einem der vitalsten Gebiete der modernen Physik geworden ist, laufen die jungen Menschen schon ziemlich gut ohne die "Linearprothese". Wir müssen unseren Blick nur in die Erdgeschichte richten: Dort wimmelt es von Ereignissen, wo sich gewaltige Umweltveränderungen abrupt und großflächig vollzogen haben. Oben drauf auf das zu starken Schwankungen neigende natürliche Klimasystem kommt nun die vehemente Störung durch die menschlichen Emissionen: Nur ein Tor kann hoffen, daß das System das gutmütig wegsteckt und träge in seinem Zustand verharrt.
Wie sollte man mit der Situation umgehen, dass selbst die Modelle des IPCC, etwa im Bereich der Eisschild-Dynamik, aber auch bei der Temperaturentwicklung, bis heute nur sehr begrenzt mögliche nicht-lineare Entwicklungen berücksichtigen? Wie kann sichergestellt werden, dass dies im nächsten IPCC-Bericht anders sein wird?
Die Klimamodelle werden ständig weiter entwickelt. Zudem können uns die immer leistungsfähigeren Computer immer höher aufgelöste Projektionen liefern. Das heißt, wir werden immer besser abschätzen können, mit welchen klimatischen Bedingungen in den Regionen der Erde zu rechnen ist. Das ist unverzichtbar für die Anpassung an den unvermeidbaren Klimawandel. Sichere Aussagen darüber, wann und wo genau nicht-lineare Entwicklungen einsetzen, werden aber weiterhin schwierig zu treffen sein - aber auch da werden wir in 10 Jahren viel klüger sein. Entscheidend ist, wie wir mit den Szenarien umgehen. Wollen wir das Risiko eingehen, dass unbeherrschbare Folgen der Erwärmung eintreten? Oder wollen wir unsere Anstrengungen verstärken, die Erwärmung auf ein Maß zu begrenzen, bei dem diese Folgen wahrscheinlich vermieden werden? Das IPCC wird dazu weiterhin klar Position beziehen: Wenn wir die Lebensgrundlagen künftiger Generationen erhalten wollen, können wir nicht weiter wirtschaften wie bisher.
Das Interview führte Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer von Germanwatch, im März 2008
Fußnoten:
[1] Lenton, T. M., H. Held, E. Kriegler, J. W. Hall, W. Lucht, S. Rahmstorf & H. J. Schellnhuber (2008): Tipping elements in the Earth's climate system. PNAS 105: 1786-1793. www.pnas.org/cgi/reprint/0705414105v1.pdf
Redaktion: Germanwatch e.V. Christoph Bals, Gerold Kier |