Die große Transformation
Karl Polanyi prägte 1944 den Begriff der „Großen Transformation“, als er die industrielle Revolution analysierte und die politische Destabilisierung als eine Folge der zügellosen Verselbstständigung des Marktes sah. Im Gegenzug entwickelte er das Konzept der „embeddedness“.
Das Konzept der „embeddedness” drückt Polanyis Idee aus, dass die Wirtschaft kein autonomes System sei, sondern dass das Finanzsystem in der Wirtschaft, die Wirtschaft im sozialen System und das sozialen Systems in der natürlichen Umwelt eingebettet sein müsse. Die nächste Große Transformation muss das „Eingebettet-sein“ berücksichtigen.
Die Nutzung bzw. Ausbeutung unseres Planeten über sozial und ökologisch verträgliche Grenzen hinaus wird immer deutlicher und für viele Menschen schon jetzt zur existentiellen Bedrohung. U.a. mit dem WBGU Hauptgutachten zu einem neuen Gesellschaftsvertrag für die Große Transformation (WBGU 2011) und der Debatte zur UN Umwelt- und Entwicklungskonferenz Rio+20[1] (20.-22. Juni 2012) mit den Themen: Green (and Fair) Economy; Sustainable Development Goals (SDGs) und internationaler institutioneller Rahmen für mehr Nachhaltigkeit ist die Große Transformation im politischen Diskurs angekommen. In Deutschland ist die Debatte durch die Energiewende und die Suche nach einer neuen Messung unseres Wohlstandes jenseits des Bruttoinlandsproduktes (BIP), die auch soziale und ökologische Belange einbezieht, geprägt. International stehen darüber hinaus die Ernährungssicherung einer wachsenden Bevölkerung, soziale Fragen sowie die Umwandlung der Landwirtschaft zurück zu einer Treibhausgassenke (Stichwort solare Landwirtschaft) auf der Agenda.
Gesucht: Ein neues gesellschaftliches Leitbild
Die derzeitigen Generationen sind oft geprägt vom Nachkriegsnarrativ des Wirtschaftswachstums und der scheinbaren Unbegrenztheit natürlicher Rohstoffe und des unbegrenzten Mülleimers Erde. Besaß die Elterngeneration Haus und Auto, so wurde dennoch, geprägt von den Entbehrungserfahrungen, Kindern mit auf den Weg gegeben: „Ihr sollt es eines Tages besser haben als wir.“ – verstanden wurde darunter ein Mehr an Gütern. Das alte Narrativ des notwendigen und immer währenden Wirtschaftswachstums war und ist immer noch handlungsleitend. Dieses gesellschaftliche identitätsstiftende Leitbild gilt es durch ein neues nachhaltiges Narrativ zu ersetzen.
In internationalen Debatten tauchen Aspekte dieses neuen Narratives immer stärker auf: Respekt der natürlichen planetaren Grenzen, Beachtung der Menschenrechte und Verminderung sozialer Disparitäten. Leapfrogging, d.h. das sozial gerechte Überspringen des fossilen Entwicklungspfades direkt hin zu einem auf erneuerbaren Energien basierenden fairen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell, wird als alternativer Entwicklungspfad für Schwellen- und Entwicklungsländer für und von Schwellen- und Entwicklungsländer derzeit diskutiert. Einige Pilotprojekte zeigen positive Ergebnisse.
Um eine nachhaltige Lösung zu entwickeln ist es unumgänglich, sich der Wachstumsfrage zu stellen. Die derzeitigen sozialen Systeme, Preisstabilität und damit mittelbar auch der soziale Friede in den Industrieländern aber vor allem in den Schwellenländern sind von Wirtschaftswachstum (steigendes BIP) abhängig. Auch wenn dies im Staatsverständnis um Komponenten wie Glück (Buthan) oder das gute Leben ("Buen Vivír" in Bolivien) ergänzt wird, führt es derzeit nicht dazu, dass weniger Rohstoffe und Energie verbraucht werden.
Ein hier oft genanntes Ziel ist die Suche nach den eigenen Lebensentwürfen, dem besseren Leben, was macht mich glücklich, wie kann ich mein Leben gestalten, um mit sinkendem Ressourcen- und Energieverbrauch mehr soziale Erfüllung zu finden. Welche Berufswahl unterstützt mich in diesen Lebensfragen? Hier kann Bildung aufgrund der Diskussion um Werteverständnis, Statussymbolen, Lebensentwürfen eine wichtige Rolle spielen und Unterstützung anbieten.
Bisher ist es nicht gelungen, Wachstum absolut vom Verbrauch an Rohstoffen und Energie abzukoppeln. Relative Abkopplungsgewinne, d.h. Wachstum mit weniger Ressourcenverbrauch, bestehen zwar, reichen aber definitiv nicht aus und werden international durch Wachstumsprozesse weit überkompensiert.
Die notwendige Umstellung der Wirtschaft auf einen ressourcenschonenden Stoffkreislauf (Ziel: 100% geschlossene Stoffkreisläufe) und eine Energieversorgung, die nahezu auf 100% erneuerbaren Energien beruht, würde, sofern sie ernsthafte politisch angegangen würde, für die nächsten Jahre einen Schub an "grünen" Investitionen und "grünem" Wirtschaftswachstum generieren - wenn auch teilweise klassisch auf steigendem Energie- und Ressourcenverbrauch basierend. Dieses Wachstum gilt es gerecht zu verteilen und als Chance für Krisenländer zu nutzen.
Politisch Engagierte und Interessierte sind gefordert, diese Zeitspanne zu nutzen, sich in die Debatte zur Entwicklung eines Lebens- und Wirtschaftskonzeptes einzumischen, das dann ohne steigenden Energie- und Ressourcenverbrauch auskommt. Diese Post-Wachstumsgesellschaft mit neuen Rahmensetzungen kann nur gelingen, wenn sie von einem gesellschaftlichen Grundkonsens und einer, besser vielen Verständnisweise der Welt getragen ist (Narrativ).
Suffizienz oder die Suche nach dem rechten Maß bietet für die Bildungsarbeit sehr gute Reflektions- und Ansatzpunkte, die weiter ausgearbeitet und mit Fallbeispielen hinterlegt werden sollten. So kann das notwendige Engagement für die Entwicklung alternativer Ideen in Deutschland gefördert werden.
Global braucht es weitergehende Konzepte, da auch eine Selbstbeschränkung in den Industrieländern kaum zu globalen Reduktionen führen und den Wunsch nach nachholender Entwicklung (Imitationsdruck), dem die Schwellen- und Entwicklungsländer derzeit unterliegen, eindämmen kann.
Publikationstyp | Hintergrundpapier
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