Zehn Jahre Berliner Prozess
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Im Rahmen des Berliner Prozesses kommen am 14. Oktober 2024 Staatsoberhäupter des Westbalkans mit hochrangigen Vertreter:innen von EU und mehreren europäischen Staaten zusammen, um die Annäherung der Region an die EU zu besprechen. Ein zentrales Thema: die Energiewende. Sozial und gerecht ausgestaltet, kann diese sowohl den Klimaschutz als auch die politische und wirtschaftliche Stabilität der Region vorantreiben. Für die Menschen in Albanien, Bosnien und Herzegowina, in Kosovo, Montenegro sowie in Nordmazedonien und Serbien ist das Treffen dementsprechend richtungsweisend.
Der Berliner Prozess wurde 2014 von Deutschland mit ins Leben gerufen – daher auch der Name. Getragen und vorangebracht wird er auf verschiedenen Ebenen und von mehreren Akteursgruppen – zum Beispiel im Rahmen von Minister:innentreffen und in inhaltlichen Arbeitsgruppen der Zivilgesellschaft. Diskutiert werden wirtschaftliche, politische und sicherheitspolitische, soziale und ökologische Aspekte, die in der Region für den EU-Beitritt relevant sind. Immer wieder geht es darum, die regionale Zusammenarbeit zu vertiefen, den Gemeinsamen Regionalen Markt mit grenzüberschreitendem Handel zu stärken und gute nachbarschaftliche Beziehungen voranzubringen, wozu auch das schwierige Thema der Vergangenheitsbewältigung gehört.
Manches davon ist sehr nah am Alltag der Menschen in der Region – zum Beispiel, dass es neben Brügge und Warschau nun eine Zweigstelle des College of Europe auch in Tirana gibt oder dass die Länder des Westbalkans eine Vereinbarung zu regionalem Roaming unterzeichnet haben. Neu ist in diesem Jahr das Querschnittsthema „Gender & Diversität“. Auch das Thema „Desinformation und Cyber-Bedrohungen“ spielt auf dem Balkan eine immer größere Rolle. Germanwatch bringt sich bereits seit einigen Jahren in den Berliner Prozess ein, um vor allem die Klimapolitik in der Region zu stärken.
Spürbare Erfolge sind dieses Jahr dringend nötig, denn den wirklichen Durchbruch in der Annäherung des Westbalkans an die EU hat es bislang nicht gegeben. Die Hoffnung auf einen tatsächlichen EU-Beitritt ist bei den meisten Bürger:innen des Westbalkans längst verebbt, zu lange schon hängen sie bei der Europäischen Union in der Warteschleife. Dabei könnte gerade jetzt mit der Ernennung der neuen EU-Kommission ein Momentum entstehen, um die Erweiterungspolitik der EU den Menschen in der Region wieder glaubhaft zu machen.
Die Zivilgesellschaft gestaltet die Energiewende auf dem Westbalkan
Dem Gipfeltreffen des Berliner Prozesses am 14. Oktober ging ein Forum für Think Tanks und der Zivilgesellschaft voraus, an dem sich Germanwatch in der Arbeitsgruppe „Energie, Klimawandel und Dekarbonisierung“ beteiligt hat. In unserer Gruppe, die sich aus Vertreter:innen des Westbalkans und Deutschlands zusammensetzt, gibt es in vielen Punkten Einigkeit darüber, wie die Energiewende auf dem Westbalkan besser ausgestaltet werden könnte. Einige wichtige Schritte dafür wären:
- Nationale Leitlinien: Die Nationalen Energie- und Klimapläne (NECPs) sind eine wichtige Leitlinie für die Länder des Westbalkans. Daher sollten die verantwortlichen Ministerien viel Wert auf ihre Entwicklung und eine zielgerichtete Umsetzung legen. Das schließt explizit auch Konsultationen in angemessenen Zeitfenstern mit der Zivilgesellschaft ein (leider scheitert gerade die Umsetzung in der Balkanregion am Ende oft an schwachen nationalen Institutionen die schlicht und ergreifend die Kapazität nicht haben). Die NECPs für Beitrittskandidaten sind angelehnt an die NECPs der EU-Mitgliedstaaten, die umfassende Auskunft über nationale Energie- und Klimapolitik der nächsten zehn Jahre geben. Die Absicht dahinter ist, die Energie- und Klimapolitiken von Beitrittskandidaten und EU-Ländern vergleichbar darzustellen sowie ein verlässliches Monitoring zur Erreichung der Energie- und Klimaziele der EU für 2030 zu haben.
- Finanzierung der Energiewende: Der Finanzbedarf für die Transformation hin zu Klimaneutralität ist groß. Innerhalb der EU-Mitgliedstaaten gibt es für die Bekämpfung des Klimawandels verschiedene Finanzinstrumente. Mit der Annäherung an die EU wäre es für die Westbalkanstaaten daher eine große Erleichterung, wenn die Instrumente für EU-Mitgliedstaaten auch für Länder im Beitrittsprozess zugänglich wären. Bei einigen anderen EU-Instrumenten ist das durchaus schon der Fall. Konkret könnte es bedeuten, den sogenannten „Just Transition Fund“ für Kohleregionen im Wandel innerhalb der EU auch für den Westbalkan zu öffnen und proportional aufzustocken. Gerade Kohleregionen in und außerhalb der EU sind auf eine wirtschaftliche Diversifizierung angewiesen, um den Strukturwandel sozial abfedern zu können.
- Dezentralisierung: Wichtig wäre außerdem, dass sowohl in- als auch ausländische Geber solche Kommunen gezielt fördern, die bereits Energiewende-Projekte mit Beispielcharakter gestartet haben. Die finanzielle Unterstützung durch große Finanzinstitutionen sollte also nicht zwangsläufig an staatliche Großprojekte gehen, sondern gezielt auch an Städte und Gemeinden, die so zum Vorbild für andere Gemeinden der Region werden können.
- CO₂-Grenzausgleichssystem (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM): Statt Abgaben an die EU zu zahlen für CO2-intensive Exportprodukte, wäre es klüger, möglichst bald dem Europäischen Emissionshandelssystem (ETS) beizutreten. Hierfür sollten die einzelnen Länder (mit Unterstützung der Energy Community) individuelle Roadmaps entwickeln, damit sie graduell möglichst schnell Teil des EU ETS werden können.
Glaubwürdigkeit auf dem Westbalkan wird durch Doppelstandards verspielt
Auch in einem weiteren Punkt ist sich unsere Energie-Arbeitsgruppe einig: Generell sollte der Westbalkan seine Umwelt- und Sozialstandards an die der EU angleichen. Implizit fordert unsere Gruppe damit von der EU und von Deutschland: Vermeidet Doppelstandards. Auf der einen Seite setzt die EU mit ihrer „Green Agenda for the Western Balkans“ klimapolitische Maßstäbe für die Region. Auf der anderen Seite ist sie als Akteurin vor Ort nicht konsequent und kohärent in der Umsetzung. Aktuell kritisieren zivilgesellschaftliche Organisationen aus der Region beispielsweise die Förderung einer neuen Gas-Pipeline von Griechenland nach Nordmazedonien durch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Die Pipeline fördere den Ausbau fossiler Energieträger, anstatt fossile Abhängigkeiten zu reduzieren – ein Ziel, dem sich die EU mit ihrem European Green Deal im Binnenmarkt verschrieben hat. Ana Čolović Lešoska von unserer nordmazedonischen Partnerorganisation Eko-svest sagt dazu:
„Obwohl Nordmazedonien aufgrund jahrelanger unzureichender Investitionen in erneuerbare Energiequellen kurzfristige Schwierigkeiten bei der Energieversorgung hat, ist die geringe Abhängigkeit der Region von Gas ein Vorteil, den es zu nutzen gilt, und nicht ein Problem, das gelöst werden muss. Die Regierung muss dringend ihre falsch ausgerichteten Gas-Pläne revidieren und stattdessen die Investitionen in Solar- und Windenergie, Geothermie, Wärmepumpen und Stromverteilungsnetze erhöhen, damit wir nicht mehr von fossilen Importen abhängig sind.“
Ana Čolović Lešoska, Eko-svest
Auch in der Debatte um den geplanten Lithiumabbau in Serbien misst die EU mit zweierlei Maß: Serbien und die EU haben im Sommer ein Abkommen über den Abbau von Lithium in Serbien geschlossen. Laut Bundeskanzler Scholz, der zu diesem Anlass im Juli nach Belgrad reiste, stärkt das Abkommen die europäische Zusammenarbeit in der Rohstoffversorgung. Umwelt- und Nachhaltigkeitsstandards sollten durch Umweltverträglichkeitsstudien des britisch-australischen Bergbauinvestors Rio Tinto sichergestellt werden, so Scholz. Vertreter:innen aus Zivilgesellschaft und politische Beobachter:innen prangern jedoch die Verletzung grundlegender demokratischer Standards, massive Umweltrisiken und Menschenrechtsverletzungen an. Wer sich gegen das Projekt der Regierungspartei äußere, werde zur Staatsfeind:in und Verräter:in erklärt.
Es überrascht nicht, dass Projekte wie dieses, das ohnehin angekratzte Vertrauen der serbischen Bürger:innen in die EU und in den Beitrittsprozess weiter schädigen statt fördern.
Dezentrale Bürgerenergie: Gegen Energiearmut und für demokratische Standards
Weiterhin sind sich die Vertreter:innen der Energiearbeitsgruppe einig, dass an erneuerbaren Energiequellen auf dem Balkan kein Weg vorbeiführt. Die Bedingungen dafür sind hervorragend. Aufgrund der geografischen Lage gibt es IRENA Schätzungen zufolge extrem guten Zugang zu Wind- und Sonnenenergie. Es gibt bereits Kommunen, die besonderen Erfindergeist zeigen, Erneuerbare Energien für sich auszubauen. Diese Pioniere treiben die Energiewende dezentral voran – sie warten also nicht auf die nationale Umsetzung von Energiewendeprojekten aus ihren Landeshauptstädten, die die Transformation häufig mehr bremsen als fördern. Diese Entwicklung unterstützt Germanwatch mit einem Projekt, das Bürger:innenenergie und dezentrale Anreize für die Energiewende und Energieeffizienz im Westbalkan fördert. Bürger:innenenergie steht dabei für eine erneuerbare und auf dezentrale Strukturen ausgerichtete Energiewende, die demokratischen, sozialen und ökologischen Werten entspricht.
Die Studienreisenden vom Westbalkan besichtigten im Nachbarland Griechenland viele gute Beispiele für eine dezentrale Umsetzung der Energiewende.
Im Rahmen des Projekts hat Germanwatch gemeinsam mit drei Partnerorganisationen aus der Region Anfang Oktober zu einer Studienreise nach Griechenland eingeladen. Mit den Teilnehmer:innen – allesamt Energiewendepionier:innen aus Nordmazedonien, Kosovo und Serbien – besichtigten wir gute Beispiele für eine dezentrale Umsetzung der Energiewende im Nachbarland, und diskutierten, inwiefern sich diese auch im Westbalkandurchführen ließen. Neben wissenschaftlichem Input von der University of Western Macedonia und dem dazugehörigen Institute of Energy Development and Transition to Post-Lignite Era haben wir uns auch einen innovativen Vortrag von unserer Partnerorganisation WEnCoop anhören dürfen. Die WEnCoop Frauenkooperative ist die erste ihrer Art in Griechenland und produziert für ihre inzwischen über 70 Mitglieder, Strom aus Solarenergie. Sie hat damit 2022 hochverdient den European Enterprise Promotion Award 2022 gewonnen. Gerne wollen die Teilnehmer:innen der Studienreise den Input mit nach Hause nehmen und selbst tatkräftig an der Energiewende arbeiten. Einige planen bereits ihren eigenen kleinen Solarpark. Auf die Frage hin, welchen Tipp sie denn für die Neugründung hätte, reagierte Katerina Gkani, Direktorin von WEnCoop ermutigend: „You can do it!“ Rückschläge gebe es immer, wichtig sei, sich davon nicht beirren zu lassen.
Wahrer Pioniergeist kennt keine Grenzen
Das Schöne an dieser Studienreise war auch die grenzüberschreitende Kooperation von Menschen, die verstanden haben, dass der Klimawandel eine globale Herausforderung ist, der man als Gesamtregion begegnen muss. Für Gleichgesinnte aus drei Ländern, die tendenziell eher schlechte nachbarschaftliche Beziehungen miteinander pflegen, war es eine weitere Errungenschaft, grenzüberschreitend über die regionale Energiewende zu diskutieren und gemeinsame Schnittmengen zu erkennen. Kooperation zu Umwelt und Klima auf dem Balkan hat damit auch eine friedensfördernde Komponente. Denn Teilnehmende die sich am letzten Tag nur schwer voneinander verabschieden können und unbedingt in Kontakt bleiben wollen, machen Hoffnung, dass wahre Pionier:innen über politischem Polarismus stehen können. Lösungsansätze zur Wahrung der Biodiversität, der Energieversorgung aus Erneuerbaren und das Vorantreiben demokratischer Standards kann nur gelingen, wenn wenigstens die Zivilgesellschaft zusammenarbeitet und den Politiker:innen der Region zeigt, dass beim Streben nach höheren, gemeinsamen Zielen Populismus, Kleinstaaterei und ethnische Spaltung keinen Platz haben.
Als Teil des Berliner Prozesses wurde dieses Jahr immerhin das regionale Freihandelsabkommen (CEFTA) unterzeichnet. Die Einigung folgte Anfang Oktober auf dem Gipfel der Außenminister:innen des Westbalkans in Berlin. CEFTA kann dafür sorgen Handelshemmnisse abzubauen und mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Region zu forcieren. Allerdings müssen diesem Papier nun auch Taten folgen, so Annalena Baerbock. Festzuhalten bleibt, dass der Berliner Prozess zu manchen kleinen Erfolgen geführt hat aber viel zu oft bleibt nach großen Versprechen auf dem Gipfel die Ernüchterung im realen Leben. Auch das Gelingen der Energiewende in der Region wird noch viel Geduld und Hoffnung brauchen.
Autor:innenVerena Allert |
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ZitiervorschlagAllert, V., 2024, Zehn Jahre Berliner Prozess. Chancen für die Energiewende auf dem westlichen Balkan und neuer Schwung für den EU-Beitrittsprozess? |