Germanwatch-Rechenschaftsbericht des Vorstands 2019-2020
Als wir im Herbst 2019 unser Arbeitsprogramm für das folgende Jahr auf der Mitgliederversammlung vorstellten und diskutierten, konnten wir verschiedene Entwicklungen noch nicht vorausahnen: Wir wussten noch nicht, wie eng verwoben die Diskussionen der verschiedenen von Germanwatch bearbeiteten Themenstränge in diesem Jahr sein werden. Wir ahnten damals nicht, dass wir auf eine globale Gesundheitskrise und die größte Weltwirtschaftskrise seit 1929 zugehen würden. Und dass eine Pandemie wie ein Brennglas Probleme prägnant aufzeigen würde, an denen wir schon seit langem intensiv arbeiten. Die Corona-Krise hat uns gezeigt:
- … wie die Kluft zwischen Arm und Reich zu sehr unterschiedlichen existenziellen Betroffenheiten führt. Die Pandemie, aber auch die disruptiven regulatorischen Interventionen zur Antwort auf aktuelle Krisen treffen sowohl unsere Partnerländer im globalen Süden als auch ärmere Gesellschaftsgruppen im globalen Norden besonders hart.
- … wie wichtig die konsequente Umsetzung der Menschenrechte für die Fähigkeit zur Bewältigung von großen Krisen ist. Die Überwindung von Diskriminierung und Exklusion verlangt mehr als die Gleichheit vor dem Gesetz, sie verlangt materielle Gleichbehandlung. Die Black-Lives-Matter-Bewegung legt den Finger auf die Wunde, wie ungleich der Schutz der Menschenrechte in unseren Gesellschaften verteilt ist, wie groß historische und aktuelle Diskriminierungstatbestände das Leben von Individuen und Familien prägen. Wie schon lange bei der Klimakrise wurde auch in der Corona-Krise deutlich, dass soziale Auswirkungen in manchen Ländern sehr ungleich verteilt sind.
- …dass auch in vielen Ländern inzwischen Demokratie und Menschenrechte populistisch in Frage gestellt werden, teilweise auch in derzeit noch demokratisch verfassten Staaten wie z.B. Ungarn, Polen, Großbritannien oder den USA zeigt sich dies nicht nur an dem populistischen Umgang mit der Pandemie. Zunehmend gewinnen autoritär-nationalistische Strömungen in manchen Staaten an Einfluss und ihre Regierungen höhlen aktiv rechtsstaatliche Prinzipien und Institutionen aus, sie erlauben oder tragen gar aktiv dazu bei, dass die öffentliche Debatte vergiftet wird, von Hasskommunikation bis hin zur Anwendung politischer Gewalt.
- … dass es bei exponentiell wachsenden Krisen – wie der Corona- oder Klimakrise - einerseits darum geht, sie so einzudämmen, dass sie die Gesellschaft nicht überwältigen; und andererseits die Fähigkeit zur Krisenbewältigung (Resilienz) in der Gesellschaft und im Gesundheitssystem so zu stärken, dass der unvermeidliche Teil der Krise bewältigt werden kann (auch wenn in beiden Krisen andere Herausforderungen auf das Gesundheitssystem zukommen). Beide sind Gerechtigkeitskrisen, die fundamentale Fragen an Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme aufwerfen. Wir können diese beiden Krisen also nicht isoliert voneinander betrachten und müssen in den Fokus nehmen, wie wir insgesamt eine höhere gesellschaftliche Resilienz aufbauen können.
- … dass die sich rasant vollziehende Digitalisierung einerseits gewaltige Chancen, andererseits starke Begrenzungen und Risiken aufweist. Trotz des gewaltigen Potenzials für Transparenz, Information und Beteiligung sehen wir im Moment starke Tendenzen zur Datenmonopolisierung, politischen und ökonomisch getriebenen Manipulation und Fragmentierung des öffentlichen Raums. Wir bereiten uns daher im Moment darauf vor, deutlich mehr Akzente im Dreieck zwischen Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Demokratie zu setzen.
- … wie wichtig das Zusammenspiel vom verantwortungsvollen Handeln der Einzelnen und der politischen oder gesellschaftlichen Rahmensetzung durch Politik oder Institutionen ist. Dies knüpft auch an unsere bisherige Bildungsarbeit an, wo wir in Bezug auf die Klimakrise sowie die Rohstoff- und Landwirtschaftswende davon sprechen, einerseits den ökologischen Fußabdruck zu verringern, aber zugleich den Handabdruck des gesellschaftlichen und politischen Engagements zu vergrößern.
- … wie fragil die Chancengleichheit gerade auch im Bildungsbereich selbst in Deutschland ist. Soziale Gerechtigkeit muss im Sinne der UN-Ziele für Nachhaltige Entwicklung global aber auch immer noch lokal gedacht werden.
- … nicht nur, zu welchen - auch positiv nutzbaren - disruptiven Veränderungen unsere Gesellschaft im Stande ist, sondern ebenfalls wie fragil der gesellschaftliche Zusammenhalt in manchen Kontexten ist.
- … wie stark die Korrelation zwischen Vermögen, Emissionen und Resilienz innerhalb der und zwischen den Gesellschaften der Welt ist. Wir werden uns an der Arbeit beteiligen, diese Korrelation aufzubrechen.
Ein Europa mit Potenzial für Dynamik - auch dank einer aktiven Zivilgesellschaft
Im Dezember 2019 hat die EU-Kommission den European Green Deal vorgestellt. Was seinerzeit vielen als rhetorischer Trick erschien, die durch die EU-Wahlen massiv gestärkten Grünen einzubeziehen, ist durch die Corona-Krise, durch das große Wiederaufbau-Paket ("Green Recovery"), zu einem ernsthaften Ansatz des Umsteuerns in Richtung Treibhausgasneutralität, Kreislaufwirtschaft und Erhalt der biologischen Vielfalt in Kombination mit neuer europäischer Solidarität geworden. Doch noch steht der Test aus, ob auf dem Paket nur „grün“ und „sozial“ draufsteht, oder ob es dementsprechend umgesetzt wird. Darum ringen wir – während dieser Rechenschaftsbericht entsteht – etwa im massiven Einsatz für klare Regeln, Finanzen, Kapazitätsaufbau in Staaten und Kommunen, damit die bereit gestellten Milliarden tatsächlich die notwendige Transformation mit positiven sozialen und ökologischen Konsequenzen voranbringen. Dies ist auch wichtig für die Frage, ob die EU ihren Beitrag leisten kann, damit der globale Temperaturanstieg möglichst auf 1,5°C beschränkt werden kann. Kann hier die Vision einer EU entstehen, deren Wirtschafts- und Lebensform in bestimmten Politikfeldern (beispielsweise Futtermittelimporte) Menschenrechte und ökologische Lebensgrundlagen nicht mehr unterminiert? Deren Demokratie keine Schönwetterveranstaltung auf dem Rücken von Mensch und ökologischer Mitwelt ist?
Alle Germanwatch-Teams haben Teilbereiche der Umsetzung des Green Deal als einen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Dies ist der rote Faden dieses Berichtes. Es ist noch ein weiter Weg, bis ein solcher neuer Gesellschaftsvertrag tatsächlich umgesetzt wird. Er muss in den Arenen des politischen Streits und Wettbewerbs, im Konflikt zwischen den Tarifpartnern und sozialen Interessengruppen, im geopolitischen Spannungsfeld zwischen Rohstoffexporteuren und von der Klimakrise jetzt schon besonders betroffenen Ländern konfliktbeladen ausgehandelt werden. Aber er zielt letztlich gerade auf eine Beteiligung der Betroffenen und auf einen Vertrag unter Gleichen.
Die Ziele der Treibhausgasneutralität, der Kreislaufwirtschaft und des Erhalts der Biodiversität gehören ebenso dazu wie eine Daseinsfürsorge in Europa oder ein wirkungsvolles Lieferkettengesetz, ein neues Verständnis von Handelspolitik, die demokratische und ökologische Gestaltung der Digitalisierung, die Überwindung der Tragödie des kurzfristigen Horizontes für den Finanzmarkt oder eine Neudefinition von Wachstum.
Wie schon so oft zuvor hinterfragen wir regelmäßig, wann wir kleine, aber oft wichtige strukturelle Fortschritte im Sinne der Ermutigung feiern sollen – und wann wir den Finger in die Wunde ob des langsamen Tempos der Transformation legen sollen. Intern ringen wir auch darum, einerseits dem Stand der Wissenschaft entsprechende Konzepte für Klimaschutz, Biodiversitätserhalt und Resilienz vorzuschlagen. Und andererseits auch diese Vorschläge wissenschaftlich und von den sozialen Auswirkungen her auf ihre Machbarkeit abzuklopfen. So werden wir regelmäßig von anderen Akteuren angefragt, gemeinsame Statements zu unterzeichnen - und leisten dem oftmals nicht Folge, wenn uns die Aussagen noch nicht belastbar genug erscheinen.
Wir sehen mit Freude, wie viele Menschen sich nicht mit der Zuschauerdemokratie zufriedengeben, sondern sich in lokalen und globalen Initiativen für den Schutz des Klimas und der Biodiversität, für die Menschenrechte und gegen Rassismus einsetzen. Das ist Rückenwind für unsere "leise Arbeit im Hintergrund”, unsere Lotsentätigkeit gegenüber vielen Akteuren in Politik und Wirtschaft. Immer deutlicher sehen wir drei einander ergänzende Rollen verschiedener Akteure der Zivilgesellschaft. Erstens den Druck auf Regierung, Parlament und Unternehmen zu entfalten. Zweitens den so entstandenen Handlungsspielraum zu nutzen, um als "Lotsen" neue umsetzungsfähige Konzepte mit und für Politik, Wirtschaft, Finanzmarkt zu entwickeln, vorzuschlagen und ihre Umsetzung zu befördern. Drittens um breite gesellschaftliche Allianzen zu befördern - mit sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Kirchen, Sozialverbänden usw. zu kooperieren, um breite gesellschaftliche Unterstützung für wichtige Schritte der Transformation aufzubauen.
Dies spiegelt sich in einigen Höhepunkten der Germanwatch-Arbeit des letzten Jahres wider:
- Unsere Flexibilität mit Hinblick auf unsere Arbeitsweise hat sich auch dieses Jahr wieder als Erfolgsfaktor bewiesen: Unsere Fähigkeit zum Aktivieren von Schlüssel-Akteuren sowie der Öffentlichkeit war ein wesentlicher Erfolgsfaktor der Kampagne zu einem Lieferkettengesetz, bei dem wir in Kooperation mit einem breiten Bündnis von - auch lokalen - Akteuren einen wohl ausschlaggebenden Impuls setzen konnten.
- Insbesondere für unsere Arbeitsbereiche Deutsche und Europäische Klimapolitik sowie Sustainable Finance setzte mit Corona auf deutscher und EU-Ebene eine intensive Zeit ein. Wie müssen die Konjunkturpakete gestaltet werden, dass sie weder die Klimakrise noch die sozialen Spannungen vergrößern, sondern eindämmen? Wir arbeiten hier auch eng mit anderen Umwelt- und Sozialverbänden, mit Kirchen und Gewerkschaften, mit der Wissenschaft und mit konstruktiven Unternehmen zusammen.
- Unser Arbeitsbereich zur internationalen Klimapolitik unterstützt mit Strategie und Netzwerken den Versuch der Bundesregierung eine größer angelegte Klimapartnerschaft mit Indien auf den Weg zu bringen, um den Klimawandel einzudämmen und Resilienz aufzubauen; und legt Konzepte vor, wie die Entwicklungsbanken die notwendige Transformation in den Ländern des Südens unterstützen können.
- Es mehren sich die Anzeichen, dass sich die Menschen in Deutschland und der EU nicht länger ein System der industriellen Tierhaltung bieten lassen, das mit dem Tierwohl nicht vereinbar ist, unwürdige Arbeitsbedingungen – etwa in Fleischfabriken – bietet, Antibiotikaresistenzen befördert, das Wasser belastet, den Klimawandel anheizt und die Abholzung des Regenwalds befördert. Unser Arbeitsbereich zu Landwirtschaft und Ernährung fördert hier gezielt das Umsteuern – etwa mit der Arbeit gegen die massive Förderung von Antibiotika-Resistenzen durch die industrielle Massentierhaltung. Das ist auch Vorsorge gegen weitere, in diesem Fall dann von Bakterien verursachte Pandemien.
- Ideenreich rückt unser Arbeitsbereich zur Bildung für Nachhaltige Entwicklung das Konzept ins Zentrum, dass es zwar wichtig ist, aber nicht reicht, den ökologischen Fußabdruck zu verringern; sondern dass es zentral ist, den Handabdruck des gesellschaftlichen und politischen Engagements zu vergrößern. Wichtig für den Schutz der Lebensgrundlagen – und für die Zukunft der Demokratie.
- Alle unsere Teams erfahren durch vielfältige Kontakte in Deutschland und in den armen Ländern der Welt, wie wichtig eine gerechte Transformation, eine Beteiligung der Betroffenen, eine faire Darstellung der Kosten und dialogbereite Unterstützung zur Bereitschaft für Veränderung in verschiedenen Gesellschaftsgruppen ist.
- Es ist nicht zu übersehen, dass derzeit soziale Medien, mit der Datenmacht einiger Akteure und Algorithmen, die Hass und Polemik unterstützen, mit der Tendenz zu Echokammern von Subkulturen, deutliche Risiken für die Zukunft der Demokratie heraufbeschwören. Aber sie bieten auch die Chance für neue Formen der Beteiligung, des Zugangs zu Informationen, des Austausches. Wir setzen uns verstärkt für die konstruktive Gestaltung des Dreiecks von Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Demokratie ein.
Die Corona-Krise hat uns einige positive, allerdings auch einige nachdenkenswerte Hinweise auf das Potenzial unserer Gesellschaft mit Blick auf disruptive Einschnitte und solidarisches Handeln aufgezeigt. Bei unseren Mitgliedern möchten wir uns für die vielen unterstützenden und aufmunternden Zeichen und Reaktionen in diesen letzten Monaten bedanken. Lassen Sie uns mit Stil und Strategie, mit Herz und Verstand die vor uns liegenden Herausforderungen angehen.
Mehr im ausführlichen Rechenschaftsbericht 2019/2020. Der Bericht gibt einen Überblick über die Aktivitäten von Germanwatch im Zeitraum September 2019 bis August 2020 und bietet eine transparente Übersicht unserer Finanzen im Jahr 2019:
INHALTSÜBERSICHT
A Politische Rahmenbedingungen – Rückschau und Ausblick
B Die Basis unserer Arbeit
C Unsere Arbeit
Deutsche und Europäische Klimapolitik
- Dekarbonisierung in Deutschland beschleunigen
- Die EU zur glaubwürdigen Antreiberin des internationalen Klimaschutzes machen
- Sozial gerechte Klima- und Energiesicherheit im erweiterten Europa
- Ausblick
Unternehmensverantwortung
- Rechte für Menschen – Regeln für Unternehmen
- Fairer Umgang mit Rohstoffen
- Zivilgesellschaftliche Netzwerke stärken
- Ausblick
Welternährung, Landnutzung und Handel
- Die Farm to Fork-Strategie zu einem wirksamen Instrument machen
- Deutsche und EU-Agrarpolitik nachhaltig gestalten
- Grundlegende Reform der Tierhaltung
- Notwendiger Systemwandel in der Fleischindustrie
- Globale Märkte stärker regulieren
- Ausblick
Internationale Klimapolitik
- Regeln und Institutionen für den Umgang mit Klimafolgen stärken
- Internationale Anreize zur Erhöhung der Klimaziele und für 2050-Klimapläne schaffen
- Internationale öffentliche Klimafinanzierung unterstützen
- Wirksame und partizipative transformative (Multi-Akteurs-) Partnerschaften fördern
- Bildung für nachhaltige Entwicklung
- Transformation durch Wissen, Werte und Handeln voranbringen
- Bildung für nachhaltige Entwicklung ausbauen und strukturell weiterentwickeln
- Ausblick
Pressearbeit
Öffentlichkeitsarbeit
D Germanwatch in Netzwerken und Kooperationen
E Finanzbericht – Kalenderjahr 2019
Publikationsdatum | |
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Seitenanzahl | 80 |
Publikationstyp | Rechenschaftsbericht, Über Germanwatch
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Bestellnummer | 20-9-01 |