Antibiotikamenge in Tierhaltung sinkt, Viehbestand auch, Dosis kaum verändert
Kommentar von Reinhild Benning zu gestern vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit veröffentlichten Abgabemengen an Antibiotika in der Tiermedizin 2019
Die für die Tiermedizin abgegebene Menge an Antibiotika entwickelt sich parallel zum Viehbestand in Deutschland abwärts. Aus den aktuellen Daten des BVL (Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit) zu Antibiotikaabgabemengen an Tierärzte geht hervor, dass die absolute Menge an Antibiotika für Tierhaltungen von 2016 zu 2019 von 742 auf 670 Tonnen sank und damit Antibiotikawirkstoffe jährlich im Schnitt um drei Prozent reduziert wurden. Fast unverändert bleibt laut Germanwatch dabei die Antibiotikadosis je Körpergewicht, die Tiere in der industriellen Tierhaltung rechnerisch erhalten. Denn die Fleischerzeugung in Deutschland ging laut Fleischwirtschaft im gleichen Zeitraum ebenfalls um knapp drei Prozent jährlich zurück von 9,06 Millionen Tonnen in 2016 auf 8,35 Millionen Tonnen im Jahr 2019. Germanwatch kritisiert, das BVL – als dem Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) unterstellte Behörde – informiere einseitig, indem nur die sinkenden Antibiotikamengen bekannt gemacht würden, ohne den wichtigen Hinweis darauf, dass die Mengen für insgesamt weniger Tiere als in Jahren zuvor abgegeben wurden.
Weiterhin beanstandet Germanwatch, dass in Deutschland im EU-Vergleich sehr hohe Mengen an sogenannten Reserveantibiotika in industriellen Tierhaltungen landen. Reserveantibiotika haben laut Weltgesundheitsorganisation höchste Priorität für die Humanmedizin: Sie werden zunehmend für kranke Menschen gebraucht, wenn Resistenzen immer häufiger andere Antibiotika wirkungslos machen. „Reserveantibiotika landen in Deutschland weiterhin in missbräuchlich hoher Menge in der Tiermedizin. Allein das Reserveantibiotikum Colistin stellte im Jahr 2019 mit 66 Tonnen wiederholt die drittgrößte Wirkstoffmenge in der Nutztiermedizin dar. Das kann dazu führen, dass bei der Infektionsbehandlung von Mensch und Tier immer häufiger wirksame Medikamente fehlen. Wie fatal sich ein leerer Medizinschrank auswirken kann, sehen wir mit Blick auf Covid-19. Gegen das Virus gibt es auch kein Medikament,“ sagt Reinhild Benning, Antibiotika-Expertin von Germanwatch.
Benning weiter: „Studien zufolge benötigen bis zu 90 Prozent der schwer am Corona-Virus erkrankten Menschen Antibiotika – und in Deutschland landen Antibiotika tonnenweise in der industriellen Massentierhaltung. Indem die Bundesregierung zulässt, dass jede 5. Tonne Antibiotika in deutschen Ställen aus wertvollen Reserveantibiotika besteht, wirft sie Perlen vor die Säue und streut enorme Risiken für die Gesundheit von Mensch und Tier. Das System der industriellen Tierhaltung trägt dazu bei, dass oft lebensrettende Antibiotika in der Human- und Tiermedizin an Wirksamkeit verlieren.“
Germanwatch fordert von der Bundesregierung, Reserveantibiotika aus industriellen Tierhaltungen zu verbannen und dem Erhalt wirksamer Antibiotika durch mehr Tierschutz im Stall endlich Vorrang vor der Billigfleischproduktion zu geben. „Die EU-Kommission fordert in ihrer Farm-to-Fork-Strategie die Halbierung des Antibiotikaverbrauchs in der Tierhaltung bis 2030. Bundesministerin Julia Klöckner hat es in der Hand, während der EU-Ratspräsidentschaft die Antibiotikaminimierung sowie Tierschutzverbesserungen in die EU-Agrarpolitik verbindlich zu integrieren und damit eine nachhaltigere Tierhaltung voranzubringen.“
Verbraucherinnen und Verbrauchern empfiehlt Germanwatch, auf Fleisch aus industrieller Tierhaltung zu verzichten und im Zweifel auf weniger belastetes Biofleisch umzusteigen. Reinhild Benning: „Weder die Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner noch die Fleischwirtschaft haben bisher beim Tierschutz im Stall Fortschritte umgesetzt, um Antibiotikabehandlungen statt der Regel zur Ausnahme zu machen. Angesichts der offensichtlichen Missstände in der Fleischindustrie, wie Antibiotikaresistenzen auf Fleisch, Ausbeutung von Beschäftigten sowie fehlender Gesundheitsschutz, Hygiene-, Umwelt- und Tierschutzproblemen ist es jetzt höchste Zeit für einen tiefgreifenden Wandel entlang der Lebensmittelkette vom Stall bis zum Teller.“