Energiewendepartnerschaften mit dem Westbalkan – eine Chance für die EU
Glaubwürdigkeit und Attraktivität der EU stehen im westlichen Balkan auf dem Spiel
Wenn die Regierungschefs der EU und der Westbalkan-Staaten sich heute zu einem virtuellen EU-Westbalkan-Gipfel treffen, wird es vor allem um die Antwort auf die Corona-Krise und die EU-Beitrittsperspektiven für die Länder der Region gehen. Ein Thema sollte aber darüber nicht vergessen werden: die Entwicklung des Energiesektors im westlichen Balkan. Mit Energiewende-Partnerschaften könnten beide Seiten viel gewinnen, gerade um nach der Corona-Krise Zukunftsperspektiven für die Wirtschaft zu schaffen.
Beim EU-Westbalkan-Gipfel treffen sich die Regierungschefs der EU-Länder und der sechs Westbalkan-Staaten (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien) sowie die Präsidentin der EU-Kommission und der Präsident des Europäischen Rats. Ursprünglich war ein zweitägiges Treffen in Zagreb als einer der Höhepunkte der kroatischen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2020 geplant. Auch wenn daraus aufgrund der Corona-Pandemie nun lediglich eine Videokonferenz an einem Nachmittag geworden ist: Der Westbalkan ist für die EU eine Region von größter Wichtigkeit.
Energiewendepartnerschaften sollten beim Gipfel auf der Tagesordnung stehen. Denn für die Stärkung der Wirtschaft nach der Krise bieten Investitionen in Erneuerbare Energien und Energieeffizienz im Westbalkan ein enormes Potenzial. Durch stärkeres Engagement für die Energiewende in der Region würde die EU außerdem zeigen, dass es ihr ernst ist mit dem Anspruch, wieder zum Klimavorreiter zu werden. Der Europäische Green Deal hat das Zeug, zu einem Identifikationsprojekt für die EU zu werden – dann muss er aber auch in den Beziehungen zu den Staaten in der Nachbarschaft eine Rolle spielen. Die Beziehungen zu Nachbarländern wie denen auf der Balkanhalbinsel sind für die EU eine Gelegenheit, zu beweisen, dass das europäische Projekt attraktiv ist.
Auf dem westlichen Balkan verfolgen viele Akteur*innen geostrategische Interessen. Auch das Verhältnis der Westbalkan-Länder untereinander ist alles andere als konfliktfrei. Bei fünf der sechs Länder handelt es sich immerhin um Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens, das im Konflikt auseinandergebrochen ist. Serbien und Bosnien-Herzegowina erkennen den Kosovo bis heute nicht als eigenständigen Staat an. Die sechs Westbalkan-Länder bilden eine Region, die an allen Seiten an die EU grenzt: Stabilität und Wohlstand in der EU sind langfristig nur möglich, wenn auch im Westbalkan Stabilität und Wohlstand herrschen. Es ist allein deswegen schon im strategischen Interesse der EU, dass der Westbalkan sich positiv entwickelt und gute Beziehungen zur EU unterhält. Aber auch andere Akteure – die USA, Russland, die Türkei und China – versuchen in Konkurrenz zur EU ihren Einfluss zu wahren oder auszubauen. In der unmittelbaren Reaktion auf den Beginn der Corona-Pandemie war die EU langsam, während aus China schnell medizinisches Material und Schutzausrüstung in die Region geliefert wurde. So sind Zweifel an der Zuverlässigkeit der EU entstanden, die in der Aussage des serbischen Präsidenten gipfelten, China sei ein engerer Partner als die EU und Xi Jinping ein persönlicher Freund und Bruder des serbischen Volkes. Der EU muss es gelingen, in der Region (wieder) als glaubwürdiger und verlässlicher Partner wahrgenommen zu werden.
Es ist daher gut, dass die EU anlässlich des heutigen Gipfels deutlich macht, wie vielfältig und umfangreich mittlerweile die Unterstützung für die Region für den Umgang mit der Pandemie ist, für die 3,3 Mrd. € bereitgestellt wurde, und dass für den Westbalkan weiterhin die Perspektive eines EU-Beitritts besteht. Mittelfristig wird entscheidend sein, dass die EU als diejenige Akteurin in der Region wahrgenommen wird, die beim Aufbau einer prosperierenden und zukunftsfähigen Wirtschaft und einer resilienten Gesellschaft hilft. Dafür ist der Energiesektor von entscheidender Bedeutung.
Die Energiewende im westlichen Balkan als gemeinsames Zukunftsprojekt
Der Energiesektor im Westbalkan zeichnet sich durch vergleichsweise schlechte Energieeffizienz und eine hohe Abhängigkeit von Braunkohleverstromung aus. 60 % des Stroms in der Region kommen laut Daten der International Energy Agency aus der Braunkohle, dem CO2-intensivsten Energieträger überhaupt. Es gibt nur noch sehr wenige Pläne für neue Kohlekraftwerke auf dem europäischen Kontinent, aber etwa die Hälfte dieser Projekte ist in den Westbalkan-Ländern geplant.
Der Energiesektor kann ein Schlüssel sein, gemeinsame Ziele der EU und der Westbalkan-Länder zu erreichen:
- Wohlstand: Investitionen in Erneuerbare Energien schaffen lokale Wertschöpfung und zukunftsfeste Arbeitsplätze; Verbesserungen der Energieeffizienz verbessern auch die Effizienz der gesamten Wirtschaft; Investitionen in Zukunftstechnologien stellen die Wirtschaft der Westbalkan-Länder langfristig besser auf. In einer Studie schätzt die IRENA, dass in der Region Süd-Ost-Europa durch eine vollzogene Energiewende bis 2050 ein Plus von ca. 485 Mrd. $ an Wirtschaftsleistung möglich wäre. Zudem sind Erneuerbare bereits heute in den Ländern des Westbalkans in der Regel die kostengünstigere Alternative zur Bereitstellung von Strom oder Wärme. Investitionen in Energieeffizienz bergen aufgrund der niedrigen Energiestandards in den meisten Ländern ebenfalls ein schnelles Return-on-Investment.
- Resilienz: Moderne Energiesysteme mit dezentraler Energieerzeugung aus Erneuerbaren Energien, die in leistungsfähigen Netzen miteinander verknüpft sind, sind resilienter gegenüber externen Schocks. Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffimporten sinkt. „Stranded Assets“ (Energie-Infrastruktur, die stillgelegt werden muss, bevor sie abgeschrieben ist) werden vermieden. Die abnehmende Luftverschmutzung verbessert die Gesundheit der Bevölkerung.
- Regionale Integration und Konfliktvermeidung: Die Energiewende im Westbalkan wird besser funktionieren, wenn Stromnetze miteinander verknüpft, grenzüberschreitend Schwankungen in der Wind-/Sonnenverfügbarkeit ausgeglichen und Speicherkapazitäten genutzt werden. Dies ist ein konkreter Anreiz für engere Zusammenarbeit in der Region, die helfen kann, Konflikte zu vermeiden.
- Engere Bindung an die EU: Wenn es der EU gelingt, sich als die Partnerin zu positionieren, die den Westbalkan glaubwürdig und mit erheblichen Ressourcen auf dem Weg in eine zukunftsfähige Wirtschaft unterstützt, wird die Bindung an die EU wachsen. Die Energiewende bietet viele konkrete Möglichkeiten für engere Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Regierungen aus der EU und dem Westbalkan.
- Klimaschutz und Kohärenz: Der European Green Deal sieht vor, aus Europa bis 2050 den ersten klimaneutralen Kontinent zu machen und eine Kreislaufwirtschaft zu schaffen. Der Vorschlag würde ein neues Wohlstandsmodell schaffen, das sozial gerecht ist und die ökologischen Grenzen des Planeten respektiert. Der Europäische Green Deal muss handlungsleitend für die EU in allen Politikbereichen werden, auch in den Außenbeziehungen. Nur wenn es gelingt, andere Länder auf diesem Weg mitzunehmen, kann der Europäische Green Deal seine volle Wirkung zum Erreichen globaler Klima- und Nachhaltigkeitsziele entfalten. Gelingt es nicht, könnten sogar neue Spannungen in den Außenbeziehungen drohen, zum Beispiel, wenn ein europäischer Klimazoll Exportmöglichkeiten anderer Länder einschränkt. Ob es in der unmittelbaren Nachbarschaft gelingt, andere Länder mitzunehmen, ist der erste Lackmustest.
Empfehlungen für engere Energiewende-Zusammenarbeit
Bereits heute unterstützt die EU den Westbalkan – auch im Bereich besserer Energieeffizienz und moderner Energieinfrastruktur – mit Grants und Krediten in Milliardenhöhe. Hinzu kommen umfassende Angebote der technischen Zusammenarbeit für den Aufbau von Kapazitäten, auch von den Mitgliedstaaten. Außerdem bietet die EU über die Energiegemeinschaft eine Begleitung bei der Anpassung der Energiegesetzgebung und der Entwicklung nationaler Klima- und Energiepläne (NECPs). Die EU sollte dennoch ihre Zusammenarbeit mit den Westbalkan-Staaten weiter intensivieren. Sie sollte dabei den Europäischen Green Deal und insbesondere die Energiewende ins Zentrum stellen und damit einen klaren, durchaus auch stärker konditionierten politischen Rahmen für die Unterstützung setzen. Dazu sind folgende Schritte erforderlich:
- Die im Vorfeld des Westbalkan-Gipfels von der EU zugesagten Milliardenhilfen von über 3,3 Mrd. € zur Bewältigung der Corona-Krise sollten, wo möglich, an den Zielen des Green Deals ausgerichtet werden. Die Hälfte dieser Gelder wird von der Europäischen Investitionsbank als vergünstigte Kredite zur Stützung staatlicher Investitionen bereitgestellt. Hier ist es wichtig, dass Investitionen in Infrastruktur nicht in fossile Projekte fließen, sondern die Energiewende befördern.
- Über kurzfristige finanzielle Hilfen hinaus könnte der heutige Gipfel erste Verständigung zwischen den Parteien über langfristige Unterstützungsmaßnahmen zum Wiederaufbau in der Region hervorbringen. Bereits angekündigt wurde die Stärkung existierender Instrumente multilateraler Finanzierung, aber auch ein massiver Ausbau finanzieller Garantien der EU für öffentliche und private Investitionen in der Region. Diese finanzielle Unterstützung muss zu wesentlichen Teilen für Investitionen in Energieeffizienz und erneuerbare Energien eingesetzt werden. Dies würde auch die Problematik hoher Kreditzinsen für Erneuerbare-Projekte in der Region adressieren, die trotz der teilweise ausgezeichneten natürlichen Voraussetzungen für Solar- und Windenergie den Ausbau bisher hemmt.
- An der Braunkohle und an energieintensiven Energien hängen in den meisten Ländern der Region viele Arbeitsplätze. Die EU sollte dabei unterstützen, dass der Strukturwandel sozial gerecht abläuft („Just Transition“).
- Erhebliche finanzielle Unterstützung von der EU sollte verknüpft mit Anreizen und Sanktionsmechanismen auf den Weg gebracht werden, damit nationale Gesetzgebungen und Rahmenwerke die Regelung, Koordination und Finanzierung eines starken und schnellen Ausbaus erneuerbarer Energien ermöglichen.
- Vier der sechs Westbalkan-Staaten sind offiziell Beitrittskandidaten und alle sechs haben sich in der Energiegemeinschaft verpflichtet, Kernpunkte der EU-Energiegesetzgebung umzusetzen. Die EU sollte hier mit mehr Nachdruck darauf hinwirken, dass diese Vorgaben – zum Beispiel zur Förderung von Erneuerbaren Energien oder zur Vorlage von Energie- und Klimaplänen – nicht nur auf dem Papier, sondern tatsächlich umgesetzt werden. Eine Verletzung des EU-Beihilferechts sollte zu mehr als nur Schlichtungsverfahren innerhalb der Energiegemeinschaft führen.
- In allen bestehenden Prozessen zur Kooperation zwischen EU und Westbalkan – der Energiegemeinschaft, dem Beitrittsprozess und angelehnten Finanzhilfen (IPA) der EU sowie dem Western Balkan Investment Framework, den folgenden EU-Westbalkangipfeln und dem sogenannten Berlin-Prozess – sollte ein besonderes Augenmerk auf die Energiezusammenarbeit gelegt werden.
- China ist in der Region sehr aktiv. Die Hälfte der chinesischen Investitionsprojekte im Westbalkan sind auf den Energie- und Verkehrssektor gerichtet, wobei in der Regel in herkömmliche fossile Projekte investiert wird. Das entspricht nicht den von China formulierten Ansprüchen, die Investitionen im Kontext der „neuen Seidenstraße“ an grünen Kriterien auszurichten. Die EU sollte versuchen, mit China eine Verständigung auf gemeinsame Nachhaltigkeits-Prinzipien für Auslandsinvestitionen, zum Beispiel im Westbalkan, zu erreichen. Dafür ist der geplante Gipfel der Regierungschefs von EU und China im September in Leipzig eine Gelegenheit. Egal ob eine solche Verständigung geling oder nicht – entscheidend ist, dass die EU im Vergleich zu ihren geostrategischen Wettbewerber*innen das attraktivere und glaubwürdigere Angebot für die zukunftsfähige Wirtschaft von morgen macht.
Wahrscheinlich werden diese Aspekte in einer kurzen Gipfel-Videokonferenz heute nur angerissen werden können. Daher kann der Gipfel aber der Startschuss sein für eine ernsthaftere Zusammenarbeit mit dem Westbalkan für die Energiewende. Die Arbeit daran wird dann vor allem der deutschen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 zufallen. Das ist eine Chance, die sich die EU nicht entgehen lassen sollte.