Blogpost | 06.05.2020

Die Krise als Katalysator für eine bessere Zukunft nutzen

Ein Blogbeitrag von Christoph Bals, Stefanie Berendsen (Climate & Company) und Ingmar Jürgens.
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Krisen sind hart. Sie zerren am dünnen Deckmäntelchen der Zivilisation. Sie testen die Gleichheit aller vor dem Gesetz, denn sie treffen, wie jetzt „Corona“, wie die immer weiter wachsende Klimakrise oder auch wie die letzte Finanz- und Wirtschaftskrise, die Ärmsten und die weniger Privilegierten am stärksten. In der Krise zeigen unsere Gesellschaften ihr wahres Gesicht: wie wir mit den Schutzbedürftigen umgehen, ob wir zur Solidarität mit den Verletzlichsten fähig und willens sind oder nicht – in Deutschland, in der EU und weltweit. Krisen sind eine Bewährungsprobe für Demokratien. Können sie die notwendige Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit beweisen? Krisen binden Ressourcen, engen Handlungsräume ein und entziehen – zumindest vorübergehend – unseren wachstumsbasierten Konsumgesellschaften den Nährboden für ihren (eng gefassten) Wohstand(sbegriff). Es besteht das Risiko, dass Gewinne privatisiert, aber die Verluste sozialisiert werden. Unternehmen, die ihre potenziellen Krisenpuffer in die Auszahlung hoher Dividenden und den Rückkauf eigener Aktien zur Stützung des Börsenpreises und damit gekoppelter Anreizmechanismen für die Führungsetage gesteckt oder ihren Beitrag zum Gemeinwohl durch Verlegung ihres Firmensitzes in „Steueroasen“ verweigert haben, rufen dennoch lautstark nach dem Staat, nach Unterstützung der SteuerzahlerInnen, deren Gehälter als ArbeitnehmerInnen nur bei einem Bruchteil der Vorstandsgehälter liegen.[1] 

Krisen sind aber auch katalytisch. Sie drängen uns zum Handeln und mithin auch zum Nachdenken und Infragestellen dessen, was war und was sich jetzt als weniger resilient und krisenfest herausstellt, als gehofft oder erwartet. Sie zwingen dazu, Prioritäten neu zu setzen. Und wenn man die bis vor kurzem prognostizierten Wachstumskurven und die jetzt plausiblen Entwicklungen nebeneinander aufzeichnet, dann umreißt das anschaulich den Raum für ökonomische Entscheidungen. Werden wir diesen mit zukunftsfähigen Ideen füllen können oder so schnell wie es eben geht, mit den Ideen der alten Welt auffüllen, sozusagen mit dem guten alten Beton zuschütten?[2] Wir stehen angesichts dieser Krise in den nächsten 6-18 Monaten vor einem Scheideweg – in Deutschland, in der EU und international. Die Dringlichkeit und Bedeutung der Krise erlauben ein Verschieben auf später nicht.

Wie reagieren wir und wie „nutzen“ wir die katalytische Macht dieser neuen Krise? Wie bringen wir das Wohlergehen der Mächtigen und gerade auch der weniger Mächtigen heute und wie das Heute und Morgen betroffener Menschen unter einen Hut? Sind wir bereit, dem guten Beispiel von Ländern wie Dänemark oder Frankreich zu folgen und die Bereitstellung von Unternehmenshilfen an Bedingungen zu knüpfen? Oder blockieren wir, wie aktuell noch Teile der deutschen Bunderegierung und insbesondere Teile der CDU/CSU-Fraktion? Schieben wir Klimaschutz oder Menschenrechte (kein Lieferkettengesetz) auf die lange Bank – wie vom Wirtschaftsrat der CDU vorgeschlagen? Oder stärken wir diese Anliegen – auch als Grundlage der Resilienz jeder Gesellschaft?

Grundlegende Entscheidungen liegen in den nächsten Monaten vor uns. Wichtig ist dabei, drei Phasen zu unterscheiden:

1. Phase: Sicherung der gesellschaftlichen Grundbedürfnisse

Krisen benötigen zuerst Nothilfe (Emergency) - dann Wiederanschub (Recovery) und können bei grundlegend neuen Prioritätensetzungen in einem neuen „Gesellschaftsvertrag“ münden. In der ersten Phase liegt der Fokus völlig zurecht auf den dringenden Bedürfnissen, um das Gesundheitssystem zu stärken, Hunger und Massenarbeitslosigkeit zu verhindern, Honorarkräften die weitere Existenz zu ermöglichen und Privat- und Firmeninsolvenzen soweit wie möglich abzuwenden. In diese Bereiche fließt bislang auch der Großteil staatlicher Unterstützung (über Zentralbanken, Entwicklungsbanken oder die Institutionen der internationalen Finanzarchitektur, wie IMF und Weltbank).[3] Schnellstmöglich müssen medizinische Materialien und andere Güter für systemrelevante Berufe bereitgestellt, Institutionen finanziell stabilisiert, bedrohte Haushalte finanziell unterstützt und der hohen Zahl von Tagelöhnern ohne aktuelles Einkommen das Überleben und der Zugang zum Gesundheitssystem ermöglicht werden.

2. Phase: Krisen rufen nach Lösungen, die über die Zeit robust sind, nicht nach Strohfeuern!

In der Recovery-Phase bedeutet Optimierung nicht etwa möglichst nah an den Ausgangszustand zurückzukehren, sondern qualitativ auf ein höchst mögliches Niveau zu gelangen. Die „Höhenmessung“ richtet sich dabei nicht einfach nach dem Bruttonationalprodukt, sondern natürlich nach den gesellschaftlich vereinbarten Zielen. Optimaler Stimulus in diesem Sinne sollte sich an den gesellschaftlichen Präferenzen orientieren und die am besten geeigneten Instrumente und Rahmensetzungen dafür implementieren. Das Risiko besteht allerdings, dass der Stimulus sich am lauten Geschrei der VertreterInnen von Partikularinteressen der alten, bestehenden, nicht zukunftsfähigen Strukturen orientiert. Denn die Vergangenheit ist in aller Regel besser organisiert als eine erst im Aufbau befindliche Zukunft.

Einige AkteurInnen, wie der Europaparlamentarier Markus Pieper fordern zunächst mal Unternehmen ohne irgendeine Zielvorgabe zu unterstützen. Solche Aussagen sind insofern extrem unsachlich und entbehren jeglicher wissenschaftlichen Grundlage, weil sie ignorieren (wollen), dass eine Bewertung von Politikmaßnahmen gemäß ihrer Wirkungen (und einer entsprechenden Ausrichtung der Politik an den Wirkungen) nur über den gesamten davon betroffenen zeitlichen Wirkungshorizont sinnvoll ist. Es stimmt hingegen hoffnungsvoll, dass die Stiftung 2° mit mehr als 65 großen deutschen Unternehmen aus allen Branchen, u.a. Schwerindustrie, Chemieindustrie, Maschinen- und Fahrzeugbau, Finanzbrache sowie Gebäude und Mobilität sich dafür aussprechen, Krisenbewältigung und ambitionierte Klimapolitik zu vereinen. Diese Unternehmen wollen sich weiter an dem Ziel der Treibhausgasneutralität orientieren – und keinen Zickzackkurs der Politik.[4]

Noch eindeutiger ist die Bewertung, wenn sie nicht aus der Perspektive kurz- und mittelfristiger Nutzenorientierung, sondern aus der am Gemeinwohl orientierten Perspektive vorgenommen wird: Der Gesamteffekt, den es zu bewerten gilt, besteht in der Summe der Wohlfahrtseffekte über den relevanten Zeitraum – nicht in der Maximierung kurzfristigen Nutzens.

3. Phase: Auf dem Weg zu einem neue Gesellschaftsvertrag?

Wenn die Recovery-Phase ausreichend Impulse in Richtung sozialer und ökologischer Zukunftsfähigkeit gibt, wenn sie ganz neue Formen der Solidarität in der Gesellschaft, in der EU und international auf den Weg bringt, dann könnte – wie nach dem Zweiten Weltkrieg – in der dritten Phase ein neuer internationaler, regionaler und nationaler Gesellschaftsvertrag etabliert werden. In den Jahren nach 1945 wurde mit der UN, der Menschenrechts-Charta, den Bretton Woods Institutionen, dem Marshallplan, Entschuldungsregeln und vielem mehr ein neuer „Gesellschaftsvertrag“ etabliert, der sehr stark auf die Interessen der USA und ihrer westlichen Partnerstaaten zugeschnitten war. Mit den Globalen Nachhaltigkeitszielen und den Zielen des Pariser-Klimaabkommens sind – in Ergänzung zu den Menschenrechten – im Prinzip die Ziele für diesen neuen Gesellschaftsvertrag 2015 international verabschiedet worden. Doch bisher sind die Strukturen und Institutionen international, in der EU und national nicht daran ausgerichtet worden, diese Ziele tatsächlich zu erreichen. Insbesondere Klima- und Biodiversitätsziele, die die Lebensgrundlagen sichern sollten, rücken von Jahr zu Jahr sogar in weitere Ferne. Ebenso wird in den meisten Staaten die Kluft zwischen Arm und Reich und damit die Polarisierung (und die Verletzlichkeit und Krisenanfälligkeit großer, armer, Bevölkerungsgruppen) größer, nicht kleiner. In der Corona-Krise offenbart sich dies etwa an dem großen Teil der Menschheit, der weder zu menschenwürdigen Sanitäreinrichtungen noch zu ÄrztInnen und Krankenhausbetten Zugang hat; oder für die Menschen, für die Corona-Kurzarbeitsgehälter einfach nicht ausreichen,[5] wenn sie überhaupt Zugang dazu haben. Überall auf der Welt sehen wir: die Krise trifft überproportional den ärmeren Teil der Bevölkerung, der keine Liquiditätspolster hat und von der Hand in den Mund lebt bzw. leben muss. Außerdem wird deutlich, dass Regionen, die von starken Ungleichheiten und geschwächten staatlichen Institutionen (wie Arbeitslosenversicherungen, Kranken- und Sozialversicherungssystemen) gekennzeichnet sind, sich durch eine erheblich niedrigere Krisenresilienz auszeichnen. Das galt schon für die letzte Finanz- und Wirtschaftskrise, das gilt für die aktuelle Corona-Krise und das gilt vielleicht sogar noch mehr für die Klimakrise.

Neue Prioritätensetzungen nach der Corona-Krise können das bisher undenkbare möglich machen – international, in der EU und in Deutschland. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen öffnet eine Tür in Richtung einer solchen grundlegenden Neuorientierung – in diesem Fall in der EU. Sie drängt darauf, dass sich alle Recovery-Ansätze der Phase zwei an den Zielen des Europäischen Green Deal (Klima, Biodiversität, Kreislaufwirtschaft und eine auch sozial faire Transformation) sowie eines White Deals (Gesundheits- und Pflegesystem) orientieren sollen. Es wäre gerade auch an der Zivilgesellschaft, die Tür für die Debatte um einen neuen Gesellschaftsvertrag[6] aufzustoßen.

Aber zunächst gilt es, die Phase 2 erfolgversprechend zu gestalten. Folgende Fragen stellen sich:

  1. Können klimafreundliche und nachhaltige Investitionen eine zentrale Rolle in der Recovery-Phase spielen? Wie groß ist der Investitionsbedarf in den unterschiedlichen Sektoren?
  2. Kann der Markt diese nachhaltigen Investitionen einfach absorbieren, um einerseits kurzfristige Impulse zur Wiederbelebung der Volkswirtschaften zu geben und eben darüber hinaus mittelfristig weitere Ausgaben des Staates zu minimieren sowie keine zusätzlichen „stranded assets“ zu generieren?

Beiden Fragen gehen wir in einem Kurzpapier nach, das Germanwatch morgen auf dieser Website veröffentlichen wird.

 


[1]   Sehr lesenswert zu diesem Thema der Artikel “The Mousetrap” in der FT vom 28.4.2020: “Quoting an FT story about Disney furloughing more than 100,000 workers while keeping its executive bonus programme in place, Ms Disney [Nachfahre von Walt] declared that as an heir it is ‘very difficult for me to sit by when I see abuses taking place with that name attached to them’.”

[2]  Zukunftsorientierte, dem Klimaschutz und den SDGs verpflichtete Beton- und Zementunternehmen mögen uns diese Formulierung verzeihen. Glücklicherweise trägt weitgehende firmenspezifische Offenlegung von Umwelt, sozialen und Governanceaspekten (engl.kurz ESG), zu der sich ja eben Unternehmen wie HeidelbergCement bekennen, dazu bei, dass die Öffentlichkeit und Investoren zukünftig ganz genau sehen können, welche Unternehmen auf einem nachhaltigen Pfad sind – und welche nicht. Wichtig, dass eine verpflichtende Offenlegung im Rahmen der anstehenden Überarbeitung der „non-financial reporting directive“ zügig eingeführt wird, um Informationsasymmetrien abzubauen und Kapitalallokation effizienter zu machen

[3] "Planning for the economic recovery from COVID-19: A sustainability checklist for policymakers", World Bank Blogs

[4] Unternehmensappell für Krisenbewältigung und Zukunftsfähigkeit", Stiftung 2°

[5] Laut einer kürzlich veröffentlichte Umfrage des Düsseldorfer Wirtschaftsforschungsinstituts IMK geben 40% der Beschäftigten an, dass sie spätestens nach 3 Monaten Kurzarbeitsgeld in finanzielle Probleme geraten würden.

[6] „Es führt kein Weg zurück“, Interview mit Ursula von der Leyen, DIE ZEIT, 8.4.2020, S. 3;

 

Autor:innen

Christoph Bals (Germanwatch),
Stefanie Berendsen (Climate & Company),
Ingmar Jürgens (Germanwatch, Climate & Company)

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Politischer Geschäftsführer