Kohlestädte Osteuropas wollen pro-aktiven Strukturwandel
Besuch der Studienreise im Kraftwerk Weisweiler
© Valentin Pfleger
In insgesamt drei Projekten unterstützt Germanwatch ukrainische und russische Akteure dabei, neue Perspektiven für einen Kohleausstieg und eine Energiewende zu entwickeln. Germanwatch will durch die Projekte die Erfahrungen europäischer Kohleregionen in Osteuropa verfügbar machen. JournalistInnen, BürgermeisterInnen, NGO-AktivistInnen und Wirtschaftsakteure aus den Kohleregionen Osteuropas treten in einen Dialog und können die Erfahrungen nutzen, um den bevorstehenden Strukturwandel aktiv und erfolgreich zu gestalten.
Ende Oktober besuchte eine ukrainische Delegation aus 20 BürgermeisterInnen und NGO-VertreterInnen aus dem Kohlegebiet Donbass zwei deutsche Kohlegebiete: das rheinische Revier und das Ruhrgebiet. Alexander Brykalow und Andrej Silytsch, Bürgermeister der Städte Mirnahrad und Vuhledar, waren sichtlich beeindruckt – und neugierig. Beide Bürgermeister nahmen an einer Podiumsdiskussion zur Preisverleihung des Deutschen Nachhaltigkeitspreises teil: Eschweiler wurde als „Deutschlands nachhaltigste Stadt mittlerer Größe 2019“ geehrt. Die Stadt mit einem der größten Braunkohlekraftwerke Europas bekommt einen Preis für nachhaltige Entwicklung? Ja, denn Eschweiler bemüht sich seit Jahren, Schritte hin zu einer neuen, kohlenstoffarmen Zeit zu unternehmen. Es gibt erste Erfolge, wie eine Wohnsiedlung aus nachhaltigen Rohstoffen und Gewerbeparks mit neuen Industriezweigen.
Was sie aus Eschweiler mitnehmen wollten, war den ukrainischen Bürgermeistern sofort klar: „Wir wollen wissen, wie man sich Perspektiven für die Zeit nach der Kohle erarbeitet und dann solche Preise gewinnt!“ Denn den BürgermeisterInnen brennen hochaktuelle Fragen auf den Nägeln. Andrej Silytsch aus Vuhledar: „In meiner Stadt ist die Mehrheit der Menschen in Kohlegruben beschäftigt. Wenn die Gruben schließen, haben wir Massenarbeitslosigkeit. Heute sind nur etwas über 1,4% der Bevölkerung arbeitslos. Das ist sozialer Sprengstoff.“ Im Rahmen des Projekts, das Germanwatch mit den ukrainischen NGO-Partnerorganisationen Ecoaction und Alternativa organisiert, erarbeiten sechs ukrainische Kohlestädte gemeinsame Positionen für den Strukturwandel. Diese wollen die Städte an die Zentralregierung in Kiew sowie an Geber in Deutschland und der Europäischen Union kommunizieren. Ein Leuchtturmprojekt soll zeigen, wie innovative Energielösungen in einer Kohleregion aussehen können. Das Gesamtprojekt wird gefördert von der Engagement Global aus Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).
Von den Erfahrungen deutscher Kohlestädte lernen
Eschweilers Bürgermeister Rudi Bertram setzt vor allem auf eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur: „Mir sind zehn Unternehmen, die je 100 Arbeitsplätze schaffen, viel lieber als der Großinvestor mit 1000 Arbeitsplätzen.” Denn bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten in einer konkreten Branche seien die Verluste für eine Mittelstadt wie Eschweiler mit etwa 55.000 Einwohnern sofort groß.
Die Bürgermeister von Eschweiler, Vuhledar und Myrnohrad (v.l.n.r.) bei der Verleihung des Deutschen Nachhaltigkeitspreises
© Valentin Pfleger
Wichtige Erfahrungen mit sozialen Fragen der Kohlekumpel haben auch die Städte des „Ruhrpott” gemacht. Beim Treffen in der Wirtschaftsförderung Dortmund berichtet Robert Litschke: Die ehemalige „Hauptstadt von Kohle, Stahl und Bier” habe gute Erfahrung gemacht mit Programmen zur Frühverrentung für Kohlekumpels sowie mit der Förderung von Startups, neuen Technologien und Hochschulen. Dortmund konnte sich nach dem Ausstieg aus der Steinkohle als Mikrotechnologie- und Wissenschaftsstandort etablieren. Eine frühe und aktive Planung sei für diesen Erfolg entscheidend gewesen.
Die Herausforderungen des Strukturwandels verbindet auch über politische Grenzen hinweg. Die rheinischen Braunkohle-Städte berichten von ähnlichen Problemen wie ihre ukrainischen Kollegen: fehlende finanzielle Mittel, Probleme beim politischen Lobbying in der Hauptstadt, schlechte Presse. Auf der anderen Seite vermitteln Modellkommunen wie die Gemeinde Saerbeck oder der Landkreis Steinfurt eine visionäre Perspektive: Bis 2050 will der Kreis im Münsterland seinen CO2-Verbrauch um 95 Prozent reduzieren, durch eine Halbierung des Energieverbrauchs und die Versorgung aus Erneuerbaren.
Oldag Caspar und Martin Schön-Chanishvili im Gespräch mit ukrainischen Kohlekumpels und JournalistInnen
© Anna Ackermann
Bereits Mitte 2016 waren Geschäftsführer Christoph Bals und Teamleiter Oldag Caspar in die Ostukraine gereist. Bei Treffen mit NGOs, Wissenschaftlern, WirtschaftsvertreterInnen und BürgermeisterInnen zeigte sich: Die Donbass-Region hat großes Potential, z. B. durch die Weiterentwicklung und Erneuerung der bestehenden Maschinenbau- oder Windkraftindustrie und entsprechender Hochschulen. Gleichzeitig ist sie mit den immensen Aufgaben des beginnenden Strukturwandels weg von einer klassischen Kohle- und Stahlregion konfrontiert.
Frieden in Osteuropa auch abhängig vom Strukturwandel
Mit dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine steht Europa vor großen politischen Herausforderungen. Mitverursacher und Verstärker dieses Konflikts sind dabei auch die derzeit noch schlechten wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsperspektiven der Donbass-Region. Diese ist geprägt durch die jahrhundertelange Förderung und Verarbeitung von Steinkohle. Die Region erlebt bereits heute einen wirtschaftlichen Niedergang. So hat sich beispielsweise im Zeitraum 2013-2015 die Anzahl der Unternehmen im Luhansker Gebiet um 70% reduziert, im Donetsker Gebiet um 60% (FSCL 2017). Grund ist der bewaffnete Konflikt, durch den die Wirtschaft stark geschädigt wurde und ein wesentlicher Teil des Territoriums nicht mehr unter Kontrolle der ukrainischen Zentralregierung steht. Der Vergleich zum nationalen Trend von nur 21% Rückgang zeigt die Gefahr, dass die Region abgehängt wird (ebenda). Im Zuge der Dekarbonisierung der Energiesysteme wird sich der Niedergang weiter beschleunigen. Viele Kohleminen sind nur aufgrund immenser staatlicher Subventionen rentabel. Viele andere sind bereits geschlossen oder produzieren auf einem Minimium. Löhne werden nicht bezahlt, der Unmut wächst. Arbeitsbedingungen sind nicht vergleichbar mit dem europäischen Standard, pro 1.000.000 Tonnen geförderter Kohle sterben vier ArbeiterInnen, im europäischen Vergleich ist es nur eine getötete Person für die gleiche geförderte Menge (Savitski 2016). In den Kohlestädten schrumpft und altert die Bevölkerung; die jungen, gut ausgebildeten Fachkräfte wandern aus, unter anderem in die Kohleregionen Polens und Russlands. Bereits vor dem Konflikt wanderten 2518 Personen pro Jahr ab, der Anteil der über 65 Jährigen stieg von 1989-2014 um 24,5% (Prometheus 2017). Die Städte werden immer unattraktiver für die junge Generation. Ein Teufelskreis.
Mit der Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens und des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union hat sich die Ukraine dazu verpflichtet, eine Energiewende auf den Weg zu bringen. Das Einhalten europäischer Abgasnormen und einen vielleicht sogar mit dem europäischen Emissionshandel verlinkten wirkungsvollen eigenen Emissionshandel einzurichten würde immense Kosten für die veralteten Kohlekraftwerke bedeuten. Dazu kommt: Die Zielsetzungen der Ukraine für Erneuerbare Energien (11% Anteil am Endenergieverbrauch bis 2020) und Energieeffizienz (-9% Energieeinsparung im Vergleich zum Mittelwert des Endenergieverbrauchs in 2005-2009) werden mit den aktuellen politischen Maßnehmen wahrscheinlich nicht erreicht.
Teilnehmender der Journalistenreise auf dem Gelände der Steinkohlezeche Ibbenbüren
© Valentin Pfleger
Austausch von JournalistInnen
Germanwatch setzt sich in zwei weiteren Projekten, die im Jahr 2018 vom Auswärtigen Amt gefördert wurden, für die Energiewende in Osteuropa ein. Über 20 russische und ukrainische JournalistInnen lernten in gemischten Gruppen den Strukturwandel in Deutschland kennen. Sie besuchten in Studienreisen das Ruhrgebiet, Berlin und das Münsterland. Danach trafen sie sich mit ExpertInnen ihrer Heimatländer, um die deutschen Beispiele kritisch zu diskutieren. Die JournalistInnen veröffentlichten bisher über 50 Analysen über die Perspektiven einer Low-Carbon-Economy in ihren Heimatländern und deren Kohleregionen. Partner dieses Projekts sind das Russisch-Deutsche Büro für Umweltinformationen sowie Ecoaction. Zwei besonders typische und gut recherchierte Beiträge wurden übersetzt und auf Klimareporter.de publiziert.
Mit den flankierenden Medienprojekten hat Germanwatch bereits zwei wichtige Ziele erreicht. Erstens haben national und lokal einflussreiche Medien in Russland und der Ukraine zu Strukturwandel und Energiewende publiziert. In beiden Ländern ist dies selten, die öffentliche Unterstützung für eine Dekarbonisierung noch niedrig. Zweitens haben russische und ukrainische JournalistInnen in Workshops an Problemfragen aus dem Berufsalltag gearbeitet, z.B. “Wie zuverlässig sind Informationsquellen von staatlicher Seite, wie sichern wir uns bei der Recherche ab?”. Ein solcher Austausch ist bereits ein großer Erfolg an sich, da der Konflikt beider Länder auch auf medialer Ebene ausgetragen wird viele JournalistInnen in beiden Ländern emotional involviert sind. So haben die Projekte auch einen kleinen Beitrag geleistet, die Diskussion in beiden Ländern zu versachlichen.
Germanwatch leistet mit seinen Projekten mehrere Impulse für die Region: Mit Blick auf die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland soll durch die Projekte letztlich auch ein Austausch auf Sachebene erfolgen und so eine Annäherung zwischen beiden Ländern vorangebracht werden. Zudem konnte Germanwatch bereits konstruktiv-kritisches Feedback an die deutsche Entwicklungszusammenarbeit mit der Ukraine geben.
Erste analytische Ergebnisse der Projekte:
- Viele Akteure und Entscheider in der Ukraine sehen die Zukunft der Energieversorgung in den Erneuerbaren und wünschen sich Deutschland sowie die EU als starke Partner. Insbesondere Deutschland wird als Kompetenzpartner für Erneuerbare Energien betrachtet. Deutschland und die EU sollten der Ukraine deshalb eine strategische Partnerschaft für Erneuerbare Energien anbieten.
- Der Donbass ist entscheidend für die politische Stabilisierung der Ukraine und der Region. Dafür brauchen die Ukraine und der unter ukrainischer Kontrolle befindliche Teil des Donbass sichtbare neue wirtschaftliche, soziale und energetische Entwicklungsperspektiven. Deutschland und die EU sollten die Entwicklung und Erprobung solcher Perspektiven systematisch unterstützen.
- Unser ukrainischer Partner Ecoaction wirbt mit Nachdruck dafür, dass das unambitionierte Emissionsziel der Ukraine für 2030 an die Ambition der Pariser Klimaziele angeglichen wird. Deutschland und die EU können die Ukraine bei der Entwicklung des neuen Emissionsziels und seiner Umsetzung entscheidend unterstützen.
- Akteure aus Russland und Deutschland profitieren von einem sachorientierten Austausch, um trotz des politischen Konflikts Vorurteile abbauen und entsprechende Botschaften auch in ihren Ländern vermitteln zu können. Deutschland kann solche Prozesse besonders glaubwürdig begleiten und sollte deshalb sein Engagement verstärken.
Das Projekt "Eine Multiakteurspartnerschaft für den Strukturwandel im Donbass" wird gefördert von Engagement Global aus Mitteln des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Das Projekt "Medien als Akteure der friedlichen Transformation von Kohleregionen in Ukraine und Russland" wird vom Auswärtigen Amt gefördert. Germanwatch-Partner sind die ukrainische Umwelt-NGO Ecoaction, das Russisch-Deutsche Büro für Umweltinformationen sowie der Deutsch-Russische Austausch. | #CivilSocietyCooperation
Autor:innenMartin Schön-Chanishvili, Emanuel Kalle, Oldag Caspar |