Das Ende vom Märchen, ein substanzieller Einstieg in den Kohleausstieg bis 2020 gefährde die Versorgungssicherheit
Am Mittwochabend (15.11.) präsentierte Rainer Baake, Staatssekretär im BMWi, bei der Sondierungsrunde zu Klima und Kohle unter Leitung der Bundeskanzlerin ein von Experten des Wirtschaftsministeriums und der Bundesnetzagentur am Vortag erstelltes Papier "Versorgungssicherheit in Deutschland" (BMWi, Bundesnetzagentur, 14.11.2017), in dessen Zentrum der Zusammenhang zwischen Kohlestrom und Versorgungssicherheit steht.
Das Papier war auf Anregung von Kanzleramtschef Peter Altmaier angefertigt worden. Dieser hatte Rainer Baake am Montagabend angerufen und für die Arbeitsgruppe Klima und Kohle am Dienstagabend um eine sogenannte Leistungsbilanz gebeten. Rainer Baake hatte ihm die sachlichen Gründe genannt, warum auf der Grundlage von nationalen Leistungsbilanzen anders als früher keine Aussagen zur Versorgungssicherheit mehr möglich sind, sondern es dafür grenzüberschreitender Analysen bedürfe. Als Peter Altmaier dennoch auf dem Papier bestand, sagte ihm Rainer Baake ein solches Papier zu, dass einerseits Aussagen zur Versorgungssicherheit macht und andererseits auch die Zahlen einer (für den Zweck der Prüfung der Versorgungssicherheit ungeeigneten) Leistungsbilanz enthalten werde.
MitarbeiterInnen von Rainer Baake im BMWi und KollegInnen der BNetzA arbeiteten den ganzen Dienstag an dem Papier. Es wurde 20 Minuten vor der Sitzung der AG fertig. Das Papier belegte mit Gutachten und Zahlen, dass bei einer Stilllegung von 7 GW Kohlekraftwerken, die Versorgungssicherheit in Deutschland auf hohem Niveau erhalten bleibt. Es weist zudem darauf hin, dass auch die Frage, ob 8 oder 10 GW bis 2020 stillgelegt werden können, zeitnah geprüft werden könne. Direkte Empfehlungen spricht das Papier - anders als die FAZ am 17.11. suggeriert, nicht aus.
Am Folgetag (Mittwoch) distanzierten sich die Bundeswirtschaftsministerin und der Präsident der BNetzA (der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in Südafrika weilte) von dem Papier ihrer Fachleute. Die abendliche Runde zu Klima und Kohle unter Leitung der Bundeskanzlerin verlief dann (nach aufgebrachten Ausführungen von Nüsslein und Laschet zu Beginn) sachlich. Es ist unverständlich, wieso der Artikel der FAZ am kommenden Tag dies ganz anders darstellt. Inzwischen scheint aber auch die Union von der Substanz des Papiers überzeugt. Sonst ließe sich nicht erklären, warum ihre Verhandlungsführung inzwischen die Stilllegung von 7 GW Kohlekapazität angeboten hat.
Im Folgenden werden die zentralen Passagen des Papiers und die Zahlen sowie die Grafik auf die es sich beruft, dargestellt, damit sich jederR ein eigenes Bild von dessen Substanz machen kann.
1. Warum eine nationale Leistungsbilanz nicht geeignet ist zur Einschätzung der Versorgungssicherheit
"Der europäische Strommarkt ist Realität. Täglich werden durchschnittlich 300 GWh von und nach Deutschland gehandelt. Die Kraftwerke und Grenzkuppelstellen in Europa tragen maßgeblich zur nationalen Versorgungssicherheit bei. Deutschland ist als Drehscheibe des europäischen Strommarkts mit allen zwölf elektrischen Nachbarländern im Stromaustausch. Aktuell haben die Grenzkuppelstellen eine Kapazität von ca. 17 GW und sie werden weiter ausgebaut. Das heißt: Deutschland kann heute schon die Strommenge aus umgerechnet 12 Kernkraftwerken oder 34 Kohlemeilern exportieren – oder importieren. In welche Richtung der Strom fließt, entscheidet sich anhand der Strompreise in den einzelnen Strommärkten. Sobald der Strompreis in einem Nachbarland höher ist als in Deutschland, exportieren wir so lange, bis die grenzüberschreitenden Leitungen und ihre innerdeutschen Zuführungen maximal ausgelastet sind. Der europäische Strommarkt hat also für Deutschland enorme Bedeutung. Wo ein Kraftwerk steht, ob in Deutschland oder im benachbarten Ausland, spielt für die Versorgungssicherheit in Deutschland nur noch eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist, dass die Versorgung unter Einbeziehung aller Kapazitäten – in Deutschland und den Nachbarländern – sicher ist. Deshalb muss bei der Bewertung der Versorgungssicherheit der europäische Strommarkt berücksichtigt werden. Dies wurde bei der Reform des Strommarktgesetzes ausdrücklich so geregelt.
Der früher verfolgte Ansatz, bloß nationale „gesicherte Leistung“ zusammen zu zählen, ist daher wissenschaftlich überholt und praktisch ohne Aussagekraft. Auch unsere europäischen Nachbarn arbeiten so wie Deutschland mittlerweile nicht mehr mit nationalen Leistungsbilanzen, sondern mit grenzüberschreitenden Analysen, die eine Vielzahl denkbarer Entwicklungen berücksichtigen. Denn Nationale Leistungsbilanzen würden Risiken unterschätzen. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass ein Kraftwerk, das in Deutschland steht, auf jeden Fall im Inland zur Versorgungssicherheit beiträgt. Wenn wegen höherer Strompreise im Ausland ein deutsches Kraftwerk Strom exportiert, „fehlt“ diese Kapazität national. Nach den Regeln des europäischen Strommarktes könnte niemand ein solches Kraftwerk am Export hindern" (BMWi, Bundesnetzagentur, 14.11.2017).
2. Nachweis, dass die Versorgungssicherheit bei einer Stilllegung von 7 GW an Kohlekraftwerken erhalten bleibt
"Das BMWi hat analysiert, wie sich eine Stilllegung von Kohlekraftwerken auf die Versorgungssicherheit auswirken würde. Die Analysen wurden von der Consentec GmbH nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft durchgeführt. Sie ergeben, dass die Versorgungssicherheit gewährleistet bleibt, wenn eine angenommene Kapazität von 7 GW an Kohlekraftwerken im Jahr 2020 stillgelegt würden. Die installierte Kohlekraftwerkskapazität beträgt dann 36,3 GW. Die Versorgung bleibt auch sicher, wenn sich 2020 eine „Dunkelflaute“ wie Anfang 2017 einstellen sollte. Und die Versorgung bleibt auch dann sicher, wenn im Jahr 2022 das letzte Kernkraftwerk vom Netz geht.
Ein Grund für dieses Ergebnis ist, dass im europäischen Strommarkt immer noch beträchtliche Überkapazitäten bestehen (ca. 40 GW). Die Analysen zeigen auch, dass Deutschland weiterhin Nettoexporteuer von Strom bleibt. Der deutsche Kraftwerkspark wäre also auch nach Stilllegung von 7 GW Kohlekraftwerken wettbewerbsfähig" (BMWi, Bundesnetzagentur, 14.11.2017).
3. Berechnungen für weitergehende Stilllegungen bis 2020 sind kurzfristig zu erbringen
Das Papier von BMWI und Bundesnetzagentur schreibt: "Berechnungen zu höheren Stilllegungsmengen (wie 8 oder 10 GW) wurden bislang nicht durchgeführt. Dies ist kurzfristig möglich, wenn gewünscht" (BMWi, Bundesnetzagentur, 14.11.2017). Aus Sicht von Germanwatch bleibt unverständlich, warum eine solche Berechnung bislang nicht angefordert wurde, obwohl einer der potenziellen Koalitionspartner fordert, dass 8-10 GW an Kohlekraftwerken bis 2020 still gelegt werden - und die Umweltverbände basierend auf den neuen Zahlen der Agora Energiewende und des Umweltbundesamtes zeigen, dass selbst das nicht ausreichen würde um das deutsche Klimaziel zu erreichen.
4. Nachweis, dass die Stilllegung von Kohlekraftwerken sogar die Versorgungssicherheit verbessern würde.
"Die Lage im deutschen Stromnetz ist angespannt. 2015 fielen bei den Übertragungsnetzbetreibern über 1 Mrd. Euro an Kosten an, um die Probleme im Stromnetz zu beheben. Besonders relevant sind Situationen, in denen starker Wind und starke Last zusammenfallen. Dann laufen Kohlekraftwerke im Wesentlichen für den Export und verschärfen die Engpässe im deutschen Netz" (BMWi, Bundesnetzagentur, 14.11.2017).
Die Abbildung stammt aus der aktuellen Systemanalyse der Netzbetreiber. Dargestellt ist eine Extremsituation, in der starker Wind und starke Last zusammenfallen. Deutschland exportiert 14 GW. Es sind deutliche Überlastungen im Netz erkennbar (rote Leitungen). Zu diesen tragen Kohlekraftwerke in Nord- und Ostdeutschland erheblich bei.
"Analysen von BNetzA und BMWi zeigen, dass die Stilllegung von Kohlekraftwerken die Lage im Stromnetz deutlich entspannen kann. Der Großteil der Kohlekraftwerke hat heute eine belastende Wirkung auf das Netz. Eine Stilllegung von Kohlekraftwerken könnte damit die Versorgungssicherheit sogar steigern. Die Übertragungsnetze sind nämlich die derzeit größte Herausforderung hinsichtlich der Versorgungssicherheit; im Vergleich zu den Netzen stellt sich die Situation am Strommarkt überaus entspannt dar" (BMWi, Bundesnetzagentur, 14.11.2017).
5. Selbst die Doppelte Sicherheit: Im Notfall im Inland genügend Kapazitäten verfügbar
Obwohl der früher verfolgte Ansatz der nationalen Leistungsbilanz überholt und praktisch ohne Aussagekraft ist (siehe oben) hat das BMWi dennoch "ergänzend zur Analyse von Consentec eine Übersicht über verfügbare Kapazitäten für Deutschland in 2020 und 2023 erstellt. Im Ergebnis zeigt sich ein verbleibender Leistungsüberschuss von ca. 18 GW (2020) und ca. 11 GW (2023), wenn die Kapazität von Kohlekraftwerken auf 36,3 GW zurückgeführt wird (BMWi, Bundesnetzagentur, 14.11.2017)".
Aufstellung nationaler Erzeugung und Nachfrage für 2020 | |||||
2020 | |||||
Zeitpunkt (CET) | |||||
Zeile | TEIL A: Installierte Netto-Engpassleistung nach Primärenergieträgern | ||||
1 | Kernenergie | 8,1 GW | |||
davon Druckwasserreaktor | 6,9 GW | ||||
davon Siedewasserreaktor | 1,3 GW | ||||
2 | Fossile Brennstoffe | 72,9 GW | |||
2a | davon Braunkohle | 18,0 GW | |||
2b | davon Steinkohle | 21,6 GW | |||
2c | davon Gas | 26,2 GW | |||
2d | davon Öl | 3,6 GW | |||
2e | davon gemischte Brennstoffe | 3,5 GW | |||
3 | Erneuerbare Energiequellen (ohne Wasser) | 118,7 GW | |||
3a | davon onshore Wind | 54,7 GW | |||
3b | davon offshore Wind | 7,9 GW | |||
3c | davon Photovoltaik | 48,1 GW | |||
3d | davon Biomasse / Biogas | 7,4 GW | |||
3e | davon sonstige Erneuerbare Energiequellen | 0,6 GW | |||
4 | Wasser | 10,5 GW | |||
4a | davon Laufwasser | 4,3 GW | |||
4b | davon Speicher und Pumpspeicher | 6,2 GW | |||
5 | Nicht eindeutig zuweisbare Energiequellen | 0,0 GW | |||
6 | Netto-Engpassleistung (6 = 1 + 2 + 3 + 4 + 5) | 210,2 GW | |||
7 | Revisionen | 2,0 GW | |||
8 | Netzreservekraftwerke DE | 3,7 GW | |||
davon Braunkohle | |||||
davon Steinkohle | |||||
davon Gas | |||||
davon Mineralöl | |||||
9 | Sicherheitsbereitschaft | 2,7 GW | |||
davon Braunkohle | 2,7 GW | ||||
TEIL B : Nicht einsetzbare Leistung | Rate der nicht-einsetzbaren Leistung | ||||
10 | Nicht einsetzbare Leistung zum betrachteten Zeitpunkt | 115,8 GW | |||
10a | davon eingemottete Kraftwerke | 3,7 GW | |||
davon Kernenergie | 0,0 GW | ||||
davon Braunkohle | 0,3 GW | ||||
davon Steinkohle | 0,1 GW | ||||
davon Gas | 2,9 GW | ||||
davon Öl | 0,2 GW | ||||
davon Pumpspeicher | 0,3 GW | ||||
10b | davon Kernenergie | 0% | |||
10c | davon Braunkohle | 0% | |||
10d | davon Steinkohle | 0% | |||
10e | davon Gas | 0% | |||
10f | davon Öl | 0% | |||
10g | davon gemischte Brennstoffe | 0% | |||
10h | davon onshore Wind | 95% | 52,0 GW | ||
10i | davon offshore Wind | 95% | 7,5 GW | ||
10j | davon Photovoltaik | 100% | 48,1 GW | ||
10k | davon Biomasse / Biogas | 12% | 0,9 GW | ||
10l | davon sonstige Erneuerbare Energiequellen | 50% | 0,3 GW | ||
Aufstellung nationaler Erzeugung und Nachfrage für 2023 | |||||
2023 | |||||
Zeitpunkt (CET) | |||||
Zeile | TEIL A: Installierte Netto-Engpassleistung nach Primärenergieträgern | ||||
1 | Kernenergie | 0,0 GW | |||
davon Druckwasserreaktor | 0,0 GW | ||||
davon Siedewasserreaktor | 0,0 GW | ||||
2 | Fossile Brennstoffe | 68,6 GW | |||
2a | davon Braunkohle | 14,0 GW | |||
2b | davon Steinkohle | 22,1 GW | |||
2c | davon Gas | 25,4 GW | |||
2d | davon Öl | 3,6 GW | |||
2e | davon gemischte Brennstoffe | 3,5 GW | |||
3 | Erneuerbare Energiequellen (ohne Wasser) | 125,5 GW | |||
3a | davon onshore Wind | 54,7 GW | |||
3b | davon offshore Wind | 9,5 GW | |||
3c | davon Photovoltaik | 53,3 GW | |||
3d | davon Biomasse / Biogas | 7,4 GW | |||
3e | davon sonstige Erneuerbare Energiequellen | 0,6 GW | |||
4 | Wasser | 11,6 GW | |||
4a | davon Laufwasser | 4,3 GW | |||
4b | davon Speicher und Pumpspeicher | 7,3 GW | |||
5 | Nicht eindeutig zuweisbare Energiequellen | 0,0 GW | |||
6 | Netto-Engpassleistung (6 = 1 + 2 + 3 + 4 + 5) | 205,7 GW | |||
7 | Revisionen | 2,0 GW | |||
8 | Netzreservekraftwerke DE | 3,7 GW | |||
davon Braunkohle | |||||
davon Steinkohle | |||||
davon Gas | |||||
davon Mineralöl | |||||
9 | Sicherheitsbereitschaft | 0,8 GW | |||
davon Braunkohle | 0,8 GW | ||||
TEIL B : Nicht einsetzbare Leistung | Rate der nicht-einsetzbaren Leistung | ||||
10 | Nicht einsetzbare Leistung zum betrachteten Zeitpunkt | 118,8 GW | |||
10a | davon eingemottete Kraftwerke | 0,0 GW | |||
davon Kernenergie | 0,0 GW | ||||
davon Braunkohle | 0,0 GW | ||||
davon Steinkohle | 0,0 GW | ||||
davon Gas | 0,0 GW | ||||
davon Öl | 0,0 GW | ||||
davon Pumpspeicher | 0,0 GW | ||||
10b | davon Kernenergie | 0% | |||
10c | davon Braunkohle | 0% | |||
10d | davon Steinkohle | 0% | |||
10e | davon Gas | 0% | |||
10f | davon Öl | 0% | |||
10g | davon gemischte Brennstoffe | 0% | |||
10h | davon onshore Wind | 95% | 52,0 GW | ||
10i | davon offshore Wind | 95% | 9,0 GW | ||
"Das bedeutet, dass auch ohne Beiträge der Nachbarn im Notfall die verfügbare Erzeugungskapazität im Jahr 2020 die Last um ca. 18 GW und für 2023 um ca. 11 GW überschreitet. Dabei sind auch die Reserven wie die Sicherheitsbereitschaft berücksichtigt" (BMWi, Bundesnetzagentur, 14.11.2017).
Autor:innenChristoph Bals |