Dezentralität, Regionalisierung und Stromnetze
Meta-Studie des Öko-Instituts im Auftrag der Renewables Grid Initiative vergleicht aktuelle Studien zu dezentralen Stromsystemen und Netzausbau.
Zusammenfassung aus der Meta-Studie
(Die ganze Studie zum Download unten auf der Seite)
Im Diskurs um einen robusten und akzeptanzseitig abgesicherten Infrastrukturausbau bildet das Verhältnis zwischen Dezentralität und dem zukünftigen Bedarf an Stromnetzinfrastrukturen einen kritischen Bereich. Dies betrifft sowohl die ganze Bandbreite der relevanten Zusammenhänge als auch die vielfältigen Spannungsfelder und Abwägungsfragen von Zentralität, Dezentralisierung und zellularen Ansätzen. Das oft sehr vage und (zu) oft auf der Ebene von eher groben Narrativen bleibende Thema Dezentralität bedarf einer Abschichtung.
Auf der ersten, qualitativen Untersuchungsebene der hier vorgelegten Studie werden die verschiedenen Dimensionen und Bewertungsaspekte von Dezentralität auf der Basis von Literaturauswertungen betrachtet. Dabei ergibt sich zunächst, dass mit Blick auf den Zusammenhang zwischen Dezentralität und Netzausbau die rein technische Sicht (Klein- vs. Großanlagen, angeschlossene Spannungsebene) keine tragfähige Perspektive bildet.
Einen entscheidenden Faktor hinsichtlich des Netzausbaus bildet erstens die Verbrauchsnähe der Erzeugungsanlagen. Ein großer Anteil von verbrauchsnahen Anlagen könnte den Netzbedarf naturgemäß verringern. Zweitens ist aber auch Verbrauchsnähe der Flexibilitätsoptionen (z.B. Nachfrageflexibilität, Speicher, Backup-Kapazitäten) von erheblicher Bedeutung, da diese Flexibilitätsoptionen in einem regenerativ geprägten Stromsystem eine elementare Rolle spielen werden. Hier können jegliche Kombinationen zwischen verbrauchsnaher und verbrauchsferner Erzeugung einerseits sowie verbrauchsnahen und verbrauchsfernen Flexibilitätsoptionen andererseits auftreten und sind mit Blick auf die große Bandbreite der Flexibilitätsprofile auch sinnvoll. Damit kann sich durch verbrauchsnahe Erzeugungsoptionen nur dann ein geringerer Netzausbaubedarf ergeben, wenn auch Flexibilitätsoptionen verbrauchsnah verfügbar. sind.
Entscheidend ist aber letztlich der dritte Aspekt, das Steuerungs- bzw. Koordinations- und ggf. das Marktmodell, das Nachfrage sowie Erzeugungs- und Flexibilitätsoptionen zusammen bringt. In einem Arrangement liberalisierter Märkte, also mit freien Entscheidungen über Produktion und Lieferantenwahl werden sich großräumig angelegte (zentrale) Märkte bzw. Steuerungssignale (Preise) herausbilden, die über den Einsatz der Flexibilitätsoptionen entscheiden werden. Jenseits des Spezialfalls der Eigenverbrauchsoptimierung könnte dies nur vermieden oder eingegrenzt werden, wenn eine sehr weitgehende Abschottung regionaler Märkte, z.B. über Gebietsmonopole oder sehr restriktive Infrastrukturbepreisungen, möglich wäre. Ein geringerer Stromnetzbedarf kann im Ergebnis richtungssicher nur angenommen werden, wenn verbrauchsnahe Erzeugungs- und verbrauchsnahe Flexibilitätsoptionen in Eigenverbrauchslösungen zusammengefasst werden oder (klein-) räumlich zugeschnittene zellulare Steuerungsansätze zum Tragen kommen.
Auch wenn die konkrete Umsetzung zellularer (Markt-) Systeme oder anders angelegter Regionalmärkte bisher an keiner Stelle hinreichend spezifiziert worden sind, lässt sich auf der qualitativen Ebene eine Reihe richtungssicherer Aussagen zu den Implikationen solcher Modelle treffen. Kleinräumige Steuerungsansätze mit hohen Anteilen verbrauchsnaher Erzeugung und Flexibilitätsoptionen führen im Gesamtsystem zu tendenziell höheren Kosten für Stromerzeugung und Flexibilitätsoptionen, wenn bei beiden die Effekte aus großräumigen Durchmischungen sehr unterschiedlicher Nachfrage- und Erzeugungsprofile (Portfolioeffekte) entfallen.
Als Konsequenz würde zunächst eine höhere Stromerzeugung (durch die Energieverluste der Flexibilitätsoptionen, Abregelungen etc.) notwendig, weil z.B. übergeordnete Emissionsminderungsziele eingehalten werden sollen. Eine der Kostenfrage ähnliche Situation ergibt sich, mit Ausnahme von Aufdach-PV-Anlagen, auch und besonders für den Flächenbedarf der Gesamtheit aller Erzeugungsoptionen im System.
Zunehmen würden aber auch der Aufwand und die Implikationen mit Blick auf die Flexibilitätsoptionen. Die zusätzlichen Kosten hier ließen sich begrenzen, wenn konventionelle Technologien auf Basis fossiler Brennstoffe (z.B. dezentrale Gaskraftwerke) zum Tragen kommen, die aber dann zu höheren Emissionsniveaus im Gesamtsystems führen, das gleichzeitig schnellstmöglich dekarbonisiert werden soll. Wenn höhere Emissionen vermieden werden sollen, steigen die Kosten der (verbrauchsnahen) Flexibilitätsoptionen jenseits der (im beschränkten Rahmen verfügbaren) besonders preiswerten Optionen stark an (wenn z.B. noch nicht ausgereiften Optionen, wie strombasierte Brennstoffe, in größerem Umfang zum Tragen kommen müssten).
Aus der ökonomischen Perspektive wären den Kosten der Flexibilitätsoptionen stets die korrespondierenden Infrastrukturkosten gegenüberzustellen. Diese Abwägungsfrage ist auf einer rein qualitativen Ebene nicht richtungssicher zu beantworten. Aus der ökologischen Perspektive gleicht der Wegfall signifikanter Stromnetzkapazitäten den beschriebenen Mehrverbrauch an Flächen und Ressourcen sowie die ggf. anfallenden höheren Emissionen richtungssicher nicht aus.
Von erheblicher Bedeutung sind neben den ökonomischen und ökologischen Kriterien auch Aspekte wie Innovationskraft und Akzeptanzfragen. Dezentrale Technologien und dezentrale Koordinationsansätze haben diesbezüglich durch ihre Nähe zu vielen relevanten Akteuren wohl unbestreitbare Vorteile. Es stellt sich aber auch die Frage, ob und in welchem Maße hierfür verbrauchsnahe Konzepte für Erzeugungs- und ggf. auch für Flexi-bilitätsoptionen sowie letztendlich auch kleinräumige Steuerungsmodelle im großen Umfang zwingend erforderlich sind. Hier könnten auch andere, selektiv angelegte Formen zur Verbesserung von Partizipation und Innovationskraft in Frage kommen.
Aus den rein qualitativ ausgerichteten Analysen der ersten Untersuchungsebene stellt sich schließlich auch die Frage, ob und wann sehr breit wirksame dezentrale Steuerungsmodelle mit dem existierenden regulativen Rahmen für die europäischen Energiemärkte in Übereinstimmung zu bringen wären.
Auf einer zweiten Untersuchungsebene wurden ergänzende Datenanalysen zu den räumlich hoch aufgelösten Grenzen der Potenziale für die absolute Solar- und Windstromerzeugung sowie zu den entsprechenden räumlichen Nachfragestrukturen (jeweils auf Ebe-ne der Landkreise) durchgeführt. Diese Analysen blenden zunächst Kosten- oder Verfügbarkeitsfragen der Flexibilitätsoptionen vollständig aus und umfassen allein räumlich hoch aufgelöste Mengenbilanzen. Sie zeigen, dass erstens eine erhebliche Konzentration der Nachfrage in den Industrieregionen im Westen und Süden Deutschlands sowie in den Metropolregionen vorliegt. Zweitens kann die ertragsstarke Solarstromerzeugung vor allem in Süddeutschland und mit Blick auf die Dachpotenziale in den Metropolregionen zum Tragen kommen. Drittens ist die ertragsstarke Windstromerzeugung vor allem im Norden und Nordosten sowie im Offshore-Bereich verfügbar. Schließlich werden viertens die Her-ausforderungen in Bezug auf die öffentliche Akzeptanz von Onshore-Windkraftanlagen vor
Dezentralität, Regionalisierung und Stromnetze allem in den bevölkerungsstarken und durch starke Stromnachfrage geprägten Regionen restriktiv auf die umsetzbaren Potenziale wirken.
Diese Restriktionen nehmen auf der (exemplarisch gewählten) Ebene von Bundesländern ab, bleiben aber noch klar erkennbar. Auch auf der nächsten Aggregationsebene von ins-gesamt sechs Zonen bleibt eine wichtige Rolle des Stromaustauschs klar erkennbar, selbst wenn Kriterien wie Kosten, Landinanspruchnahme, Emissionen etc. weiterhin ausgeblendet bleiben.
Konsequent kleinräumig angelegte (zellulare) Konzepte wurden exemplarisch auf der Ebene von Landkreisen analysiert. Sie ließen sich ohne deutlich stärkere Inanspruchnah-me von Netzinfrastrukturen nur mit sehr breiter Nutzung von Flexibilitätsoptionen umset-zen, die die o.g. Implikationen (Kosten, Emissionen etc.) mit sich bringen würden. Die quantitative Analyse zeigt auch, dass die Portfolioeffekte umso stärker wirksam werden, je größer die Zellen definiert werden, d.h. bei größeren Zellen sinken der Bedarf an Flexibili-tätsoptionen und die damit einhergehenden negativen Effekte. Dabei ergibt sich, dass selbst bei eher großen Zuschnitten zellularer Ansätze davon ausgegangen werden muss, dass, ungeachtet der technologischen Voraussetzungen und der anfallenden Kosten, ein überregionaler Austausch in signifikantem Ausmaß anfallen würde. In jedem Fall bleibt darauf hinzuweisen, dass jenseits der optimierten Eigenstromerzeugung für durchgängig eingeführte kleinräumige Markt-Konzepte bisher noch keinerlei praktikable Vorschläge vorliegen.
Auf einer dritten Untersuchungsebene wurde eine große Bandbreite von verschieden aus-gerichteten und methodisch sehr unterschiedlich angelegten Modellierungen des deut-schen Stromsystems einer vergleichenden Analyse unterzogen. Szenarien, die einen um 20 bis 50% geringeren Netzausbaubedarf errechnen, sind durch die folgenden Punkte charakterisiert.
- Sie unterstellen oder ermitteln einen starken Ausbau der Onshore-Windenergie in der Zone Süd. Die Größenordnungen dieses Mehrausbaus für den Zeithorizont 2030 und 2035 liegen beim Drei- bis Vierfachen, im Extremfall beim Sechsfachen der in den Netzentwicklungsplänen angenommenen Werte.
- Ganz überwiegend wird ein ebenfalls überproportionaler Ausbau der Onshore-Windenergie in den Zone West unterstellt oder errechnet. Hier liegt der Mehraus-bau um den Faktor 2 bis 3, in zwei Extremfällen um den Faktor 7 über den Annahmen der Netzentwicklungspläne.
- Überwiegend, wenn auch nicht durchgängig, liegt ein sehr starker Ausbau der solaren Stromerzeugung in der Zone Süd zu Grunde. Das Kapazitätsniveau der PV-Anlagen in der Zone Süd übertrifft das der Netzentwicklungspläne für den Zeithorizont 2030 und 2035 um den Faktor 2 bis 3.
- Für den Zeithorizont 2030 hängen die Zusammenhänge zwischen dem Umfang der verbliebenen Kohlekraftwerkskapazitäten und dem notwendigen Netzausbau maßgeblich davon ab, nach welchem Muster die (zusätzliche) erneuerbare Stromerzeugung regionalisiert wird. Für den Zeithorizont 2035 hat der Umfang der Kohleverstromung keinen Erklärungswert für die Dimensionierung des Netzausbaus mehr.
Im Vergleich zu unterschiedlichen Potenzialannahmen erweist sich, dass die Annahmen zum Ausbau der Onshore-Windkrafterzeugung und teilweise auch für die PV-Stromerzeugung für den Zeithorizont 2030/2035 in den Zonen Süd und West in Bereichen liegen, in denen Potenzialgrenzen relevant werden können bzw. wird mit Ausbauannahmen für die regenerative Stromerzeugung modelliert, die zumindest für den relevanten Zeitraum als eher fragwürdig erscheinen.
Eine Auswertung von Szenarien mit ambitionierteren Ausbaupfaden für den Stromerzeugungsanteil erneuerbarer Energien zeigt weiterhin, dass der ggf. verminderte Netzausbau vor allem temporärer Natur ist bzw. der Netzausbau längerfristig in jedem Fall notwendig würde.
Mit Blick auf die Beiträge dezentraler Steuerungsmodelle zu einem ggf. verringerten Netzausbaubedarf zeigen die diesbezüglich aussagekräftigen Modellsimulationen, dass die regionale Verteilung der regenerativen Stromerzeugung das insgesamt entscheidende Erklärungsmerkmal für die unterschiedlichen Netzausbaubedarfe bleibt. Der Einfluss der Regionalisierung ist vor allem für die Windkraftkapazitäten an Land klar dominierend.
Hinsichtlich der Gesamtkosteneffekte unterschiedlicher Regionalisierungs- oder Steuerungsansätze lassen sich aus den vorliegenden Studien keine belastbaren quantitativen Schlussfolgerungen ziehen, da die analysierten Studien diese Aspekte nicht im notwendi-gen Umfang bzw. mit vergleichbaren Abgrenzungsansätzen untersuchen. Gleiches gilt für ökologische Faktoren wie Flächenverbrauch oder den Einfluss auf die CO2-Emissionen.
In der Zusammenschau der drei Untersuchungsebenen lässt sich neben den genannten Erkenntnissen eine Reihe von Handlungsbedarfen und Handlungsempfehlungen ableiten. Diese betreffen erstens einen strukturierten Diskurs zur Klärung der Frage, ob und in welchem Modell bzw. mit welchen Zeithorizonten dezentrale (zellulare) Steuerungsansätze jenseits der Eigenverbrauchsoptimierung eingeführt bzw. als Variante für die Netzausbau-planung berücksichtigt werden könnten. Zweitens bedürfen die Annahmen zu Ausbaugrenzen der regenerativen Stromerzeugung einer Validierung. Dies gilt für die Onshore- und Offshore-Windkraftkapazitäten wie auch die PV-Stromerzeugung in hoher räumlicher Auflösung, zumindest aber auf Ebene der verschiedenen Zonen und insbesondere mit Blick auf die Zonen Süd und West. Die reale Flächenerschließbarkeit und Akzeptanz sollten hier in besonderem Maße Berücksichtigung finden. Drittens sollten dringend einheitliche Bewertungsraster für die Bilanzierung aller Kosten und Flächenbedarfe (jeweils für Erzeugungsanlagen, Flexibilitätsoptionen und Infrastrukturen) entwickelt werden, um für zukünftige Analysen auch hier Vergleichbarkeiten zu ermöglichen. Viertens wäre für bessere Vergleichbarkeit zukünftiger Analysen die Entwicklung einer pragmatischen Metrik hilfreich, mit der unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Modellierungsansätze der Umfang des Netzausbaubedarfs in vergleichbarer Weise beschrieben werden kann.
Die hier vorgelegte Metastudie bildet einen ersten umfassenden Versuch, die komplexe, an vielen Stellen von Narrativen geprägte sowie konzeptionell und datenseitig anspruchsvolle Materie im Spannungsfeld von Dezentralität und Netzausbau aufzuarbeiten. Eine Weiterführung dieses Analysestrangs erscheint dringend geboten.
Germanwatch ist Mitglied der Renewables Grid Initiative (RGI) und Teil des Projektteams.
Autor:innen | Dr. Felix Chr. Matthes, Franziska Flachsbarth und Moritz Vogel |
---|---|
Publikationstyp | Studie
|