Energiewende in Deutschland – Herausforderungen integrierter Infrastrukturplanung meistern
Bis 2045 soll in Deutschland eine klimaneutrale Energieversorgung aufgebaut werden, die auf Kohle, Erdgas und Öl verzichtet. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es eine gut durchdachte Strategie. Hier setzt die Systementwicklungsstrategie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz an – von ihrem Gelingen hängt der Erfolg der Energiewende maßgeblich ab. Aber was ist die Systementwicklungsstrategie überhaupt und was wird geplant? Wo gibt es noch Schwachstellen? Und wie kann die Umsetzung verbessert werden?
Wenn ich von meiner Arbeit erzähle, dann schauen mich meine Zuhörer:innen meist mit großen Augen an. Ich beschäftige mich in meinem Job mit dem Ausbau der Energieinfrastruktur. Fällt dieses Wort, dann dauert es häufig nicht lange bis zu den ersten verstohlenen Blicken aufs Handy. Schon klar: Systementwicklungsstrategie, Netzentwicklungspläne, Hochspannungsgleichstromübertragung – das sind sperrige Begriffe. Zugleich aber gehören sie zum kleinen Einmaleins einer gelingenden Energiewende. Denn Strom-, Wasserstoff- und Wärmenetze sowie der Umbau von Erdgasnetzen sind wichtig, wenn die Transformation zur Klimaneutralität gelingen soll. Klar ist: Ihr Aus-, Um- oder Rückbau sowie ihre intelligente Steuerung und Vernetzung mit Speichern muss gut koordiniert und aufeinander abgestimmt werden. Ansonsten drohen hohe Kosten, Planungsunsicherheiten, zeitliche Verzögerungen oder gar eine Verfehlung der Klimaschutzziele.
Mit der Systementwicklungsstrategie (SES) hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) einen Prozess gestartet, der diese Abstimmung ermöglichen soll. Das heißt: Vom Gelingen der Systementwicklungsstrategie hängt auch der Erfolg der Energiewende ab.
Intelligente Planung, intelligente Energieversorgung
Strom, Wasserstoff, (einstweilen noch) Erdgas und Wärme haben ganz unterschiedliche Eigenschaften und Anwendungsmöglichkeiten. Sie alle werden jedoch gebraucht, um in Zukunft eine klimaneutrale Energieversorgung zu ermöglichen. Damit dieses Ziel kosten- und ressourceneffizient sowie sozial gerecht erreicht werden kann, braucht es die richtigen regulatorischen und politischen Rahmenbedingungen, nach deren Vorgaben die Netzbetreiber den Aus- und Umbau sowie im Falle von Erdgas deren Stilllegung oder Umwidmung zu Wasserstoffnetzen vornehmen können.
Das Stromnetz muss zum Beispiel so ausgebaut werden, dass es genug Strom dorthin transportieren kann, wo in Zukunft deutlich mehr Menschen mit einer Wärmepumpe heizen wollen oder mit Elektroautos fahren; dorthin, wo auch die Industrie mehr Strom benötigt, damit sie klimafreundlich produzieren kann. Gleichzeitig müssen Strom- und Wärmenetze aufeinander abgestimmt werden, um einen optimalen Ausbaugrad für die Wärmeversorgung und andere Anwendungen zu erreichen. Auch das Strom- und Wasserstoffnetz sind eng miteinander verknüpft, etwa weil wir Elektrolyseure brauchen, die grünen Wasserstoff vor allem für die Industrie herstellen, und Kraftwerke, die klimaneutral hergestellten Wasserstoff nutzen, wenn nicht genug Strom aus Wind und Sonne zur Verfügung steht. Beide, Elektrolyseure und Kraftwerke, müssen an ausreichend starke Wasserstoff- und Stromnetze angeschlossen sein – ihre Standorte müssen also beim Ausbau der Netze schon mitgedacht werden.
Diese Abstimmung findet aktuell noch nicht ausreichend statt, wie zum Beispiel die aktuellen Vorschläge der Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) für die Standorte von Elektrolyseuren zeigen.[1] Die ÜNB treffen dort Annahmen für die Punkte, an denen Strom- und Wasserstoffnetz miteinander verknüpft werden. Diese Annahmen basieren aber nur zum Teil auf realen Planungen von Firmen für den Bau von Elektrolyseuren. Die restlichen Mengen, die zum Erreichen der politischen Vorgaben für inländische Produktion von grünem Wasserstoff benötigt werden, wurden von den ÜNB netzdienlich verteilt. Die Elektrolyseure werden also an den Standorten angenommen, wo sie das Stromnetz entlasten und so den Stromnetzausbau etwas reduzieren können. Dieser Ansatz ist grundsätzlich sehr gut und nachvollziehbar. Der Haken ist allerdings, dass die Standorte bislang nicht mit dem Ausbau von Wasserstoffnetzen abgestimmt sind. Es könnte also sein, dass die Elektrolyseure an anderen Stellen gebaut werden, weil dort ein Wasserstoffnetz zu Verfügung steht oder besonders hoher Wasserstoffbedarf herrscht. Wobei auch der Bau von Elektroylseuren und Wasserstoffnetzen sich gegenseitig bedingt und gut abgestimmt sein muss.
Eine integrierte, das heißt gemeinsame Infrastrukturplanung sollte hier als Grundlage für einen zielgerichteten, parallelen und damit zügigen Ausbau der Energieinfrastruktur dienen. Denn die Zeit, einen Schritt nach dem anderen zu machen, bleibt nicht mehr, wenn Deutschland 2045 klimaneutral sein will.
Systementwicklungsstrategie führt alle Fäden zusammen
Hier kommt die Systementwicklungsstrategie ins Spiel. Dabei handelt es sich um einen Prozess unter Leitung des BMWK, dessen Ergebnis ein „sektorübergreifendes Leitbild und eine robuste Strategie für die Transformation des Energiesystems“[2] sein soll. Gemeint ist damit: Das Ministerium möchte beschreiben, wie die Energienachfrage und Energieerzeugung in Deutschland im Jahr 2045 aussehen werden – und welche Wege dorthin führen. Außerdem werden damit die Fragen beantwortet, auf welche unterschiedlichen Entwicklungen die Gesellschaft vorbereitet sein sollte und wie mit bestehenden Unsicherheiten umgegangen werden kann.
Da die Systementwicklungsstrategie ganz Deutschland in den Blick nimmt, erfolgt die Betrachtung auf einer hohen Flugebene. Es erfolgt also zum Beispiel keine standortscharfe Modellierung von Windenergieanlagen, sondern eine akkumulierte Darstellung von Erzeugung und Verbrauch nach Regionen. Ebenso wird der Verbrauch nicht für jeden einzelnen Endverbraucher dargestellt.
Aus den Ergebnissen der Systementwicklungsstrategie können somit vor allem direkte Vorgaben für die großräumige Infrastrukturplanung abgeleitet werden. So erhalten der NEP Strom und der zukünftige kombinierte NEP Wasserstoff/Gas eine gemeinsame Basis und Strom- und Wasserstoffnetze werden dort gebaut, wo sie wirklich gebraucht werden. Bislang aber werden die Netzentwicklungspläne Strom und Gas auf sehr unterschiedlichen Grundlagen entwickelt.[3] Ein „Weiter-so“ würde die Energiewende weniger effizient machen, da möglicherweise an manchen Stellen zu viel Netz und an einer anderen Stelle zu wenig ausgebaut würde. Das Ziel sollte aber heißen: so viel Netzausbau wie nötig und so wenig wie möglich, und vor allem genau dort, wo die Leitungen auch wirklich gebraucht werden. Unterstützt werden muss dies durch den gut integrierten Einsatz von Flexibilitäten, Digitalisierung und Speichern. Denn die Kosten für den Infrastrukturausbau werden am Ende von der Allgemeinheit getragen – durch Netzentgelte, Abgaben und Steuern. Auch Reihenfolge und Zeitplan für die Stilllegung der Erdgasnetze sind ohne eine gesamtsystemische Betrachtung deutlich schwieriger festzulegen und werden gegebenenfalls zu langsam umgesetzt, was zu einer Verfehlung der Klimaziele führen würde.
Soziale Folgen müssen berücksichtigt werden
Zugleich müssen die sozialen Auswirkungen vom Infrastrukturaus- und umbau bei der Entwicklung der Ergebnisse der Systementwicklungsstrategie berücksichtigt werden. Kostenverteilungen für den Netzausbau müssen sozial verträglich verteilt werden oder Härtefallregelungen für die letzte Endkundin/den letzten Endkunden am Erdgasnetz kurz vor der Stilllegung getroffen werden. Die sozialen Auswirkungen früh in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen, wird am Ende zu einer schnelleren Umsetzung und größeren Akzeptanz der Maßnahmen führen.
Der Top-down-Ansatz der Systementwicklungsstrategie kann für lokale Planungsprozesse wie zum Beispiel die kommunale Wärmeplanung nur eine grobe Richtungsentscheidung darstellen. Der Prozess der Systementwicklungsstrategie ist jedoch iterativ, das heißt er soll sich in regelmäßigen Abständen wiederholen und dabei jedes Mal präziser werden. So können die Ergebnisse der kommunalen Wärmeplanung als Bottom-up-Prozess mit in die Systementwicklungsstrategie einfließen und diese präziser machen oder auch aufgrund neuer Entwicklungen – etwa industriellen Neuansiedlungen – verändern. Dieses Einspeisen von Input aus beiden Richtungen stellt sicher, alle relevanten Aspekte in der Entwicklung der Leitbilder zu berücksichtigen, wodurch diese belastbarer werden. Nach aktuellem Stand soll die erste Runde der Systementwicklungsstrategie Anfang 2024 abgeschlossen sein – mit einem halben Jahr Verzögerung.
Chancen nutzen, Verzögerungen vermeiden
Das BMWK hat in den letzten Monaten viele notwendige Prozesse angeschoben und Gesetze auf den Weg gebracht, die Verzögerung bei der Systementwicklungsstrategie ist darum grundsätzlich nachvollziehbar. Dennoch ist sie ein Problem: Denn andere Prozesse laufen bereits an oder werden fortgeführt, ohne dass sie ausreichend aufeinander abgestimmt wären. Beispiele sind die Entwicklung des Wasserstoffkernnetzes, die Kraftwerksstrategie, die Plattform Klimaneutrales Energiesystem (PKNS), die Wasserstoffstrategie und die Fortschreibung der Netzentwicklungspläne Strom und Gas. Auch ohne hier im Detail auf die einzelnen Prozesse einzugehen, wird klar, dass ein aufeinander abgestimmtes Vorgehen dringend nötig ist, wenn am Ende ein effizientes, klimaneutrales Energiesystem stehen soll.
Die Systementwicklungsstrategie birgt die riesige Chance, den zielgerichteten und zügigen Aus- und Umbau der Energieinfrastruktur maßgeblich zu unterstützen und so für eine schnelle und bezahlbare Energiewende zu sorgen. Durch die bereits stattfindende Beteiligung vieler Stakeholder:innen und geplante öffentliche Konsultationen kann sie viele wertvolle Hinweise aufnehmen sowie Rückhalt und Akzeptanz für die Ergebnisse des Prozesses erreichen. Darüber hinaus kann sie eine transparente Grundlage für den Ausbau von Energieinfrastrukturvorhaben schaffen und den Umsetzer:innen der Energiewende in der Industrie, Kommunalpolitik und in Behörden Planungssicherheit geben.
Um das zu erreichen, muss die Systementwicklungsstrategie jetzt so zeitnah wie möglich umgesetzt werden. Die parallel bereits laufenden Prozesse müssen mitdenken, dass ein Abgleich mit den Ergebnissen der Systementwicklungsstrategie noch aussteht – und die Systementwicklungsstrategie muss deren Zwischenergebnisse berücksichtigen. Dafür braucht es eine gute Kommunikation über die zu erwartenden Anknüpfungspunkte mit anderen Prozessen sowie über die Ergebnisinhalte, die für die jeweiligen Prozesse relevant sind.
Zuletzt, als vielleicht wichtigster Punkt: Es braucht jetzt den notwendigen politischen Willen, die Systementwicklungsstrategie zur Planungsgrundlage für ein klimaneutrales Energiesystem zu machen. Die gesamte Bundesregierung muss diese Entscheidung mittragen und ein gemeinsamer Kabinettsbeschluss diese Klarheit schaffen. Dann muss die Regierung die Ergebnisse zügig in entsprechende Gesetze gießen, um den regulatorischen Rahmen sowie Rechts- und Investitionssicherheit für die Umsetzung zu schaffen.
[1] Das betrifft konkret das Klimaneutralitätsnetz im Netzentwicklungsplan 2037/45 (NEP). Der NEP 2037/45 wurde im April von den ÜNB vorgelegt und durchläuft noch öffentliche Konsultationen und die Prüfung durch die Bundesnetzagentur. Die ÜNB stellen darin den Aus- und Umbaubedarf im Übertragungsnetz in Deutschland bis zum Erreichen der Klimaneutralität 2045 dar.
[2] Siehe dazu: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Dossier/ses.html.
[3] Der NEP Strom wird auf Grundlage des Szenariorahmens Strom erstellt, der NEP Gas überwiegend auf Grundlage einer Bedarfsabfrage der ans Fernleitungsnetz angeschlossenen Verbraucher (z.B. den Gasverteilnetzbetreibern), was die Vorgaben der Klimaziele außer Acht lässt.
Autor:innenKirsten Kleis, Dr. Simon Schreck, Tessa-Sophie Schrader |