Europäischer Gerichtshof verweigert Grundrechtsschutz für Betroffene der Klimakrise
Bonn/Berlin (25. März 2021). Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Klimaklage von zehn Familien aus der EU, Kenia und Fidschi sowie eines samischen Jugendverbands auf den Schutz ihrer durch die Klimakrise bedrohten Grundrechte heute ohne inhaltliche Prüfung als unzulässig abgewiesen. Die Klägerinnen und Kläger hatten eine ausreichend ambitionierte Verschärfung der Klimaziele für 2030 und ein wissenschaftsbasiertes Vorgehen dabei gefordert, da sie ihre Grundrechte durch die unzureichenden Klimaziele der EU bedroht sehen. Zu den Kläger:innen des People‘s Climate Case zählte auch Familie Recktenwald von der ostfriesischen Insel Langeoog.
Prof. Gerd Winter, einer der Rechtsvertreter der Klägerfamilien: „Der EuGH entzieht sich mutlos seiner Verantwortung für den Klimaschutz. Obwohl er Hüter der Grundrechte ist, weigert er sich, die Vorgaben der EU für die Reduktion von Treibhausgasemissionen an ihnen zu messen. Dies begründet er damit, dass die Kläger nicht individuell betroffen seien – eine angesichts der tatsächlichen Notsituationen, in denen diese sich befinden, schmerzende Gleichgültigkeit. Aus Angst vor einer Klageflut nimmt er dabei den Widerspruch in Kauf, dass den Betroffenen umso weniger Rechtsschutz gewährt wird, je dramatischer der Klimawandel ist und je mehr Menschen dementsprechend in ihrer Gesundheit und beruflichen Existenz geschädigt werden.“
Auch die Klägerin Maike Recktenwald ist enttäuscht über das Urteil: „Die EU verwehrt uns den Schutz unserer Rechte. Wir haben gemeinsam mit unseren Mit-Klägern gezeigt, wie sehr die Klimakrise unsere Grundrechte schon jetzt bedroht. Auf Langeoog nehmen Sturmfluten zu, aufwändige Küstenschutzmaßnahmen müssen immer öfter durchgeführt werden. Es geht um unseren Lebensraum und die Zukunft unserer Kinder. Wir hatten auf den Schutz durch die EU vertraut, doch der bleibt uns verwehrt.“
Dorothea Sick-Thies, die mit ihrer Organisation Protect the Planet die Kläger:innen unterstützt hat, erklärt: „Es ist ein Skandal für das Rechtsempfinden, dass die existenziellen Probleme der Klagenden vor Gericht kein Gehör bekommen. Betroffene wie die Familie Guyo in Kenia fürchten um ihr Überleben und ihre Grundrechte werden durch unser Handeln und die Untätigkeit der Politik und dieses Urteil bedroht.“
EU-Parlament greift wichtige Forderungen der Kläger:innen in Verhandlungen zum EU-Klimagesetz auf
Während das Gericht den Forderungen der Kläger:innen nicht stattgibt, finden diese auf politischer Ebene zunehmend Anklang. Das EU-Parlament hat sich wichtige Forderungen der Kläger:innen zu eigen gemacht: deutlich verschärfte Klimaziele, einen wissenschaftsbasierten Budgetansatz dafür, einen Klimarat, der die Nachbesserung der Ziele und ihre Umsetzung auf die Tagesordnung setzen kann und ein Recht auf Klimaschutz. Kurz vor der anstehenden vierten Verhandlungsrunde zum EU-Klimagesetz sind sich EU-Kommission, Rat und Parlament noch nicht einig, was davon übernommen wird. Anders als das EU-Parlament (minus 60 Prozent) hat die EU-Kommission nur eine Verschärfung des Klimaziels bis 2030 von derzeit 40 auf mindestens 55 Prozent netto gegenüber 1990 vorgeschlagen. Die Regierungschefs im Rat haben diesem Klimaziel zugestimmt, unterstützen allerdings noch nicht das wissenschaftsbasierte Vorgehen, einen unabhängigen Klimarat und das Recht auf Klimaschutz. Die Kläger:innen appellieren nun an die EU, sich auf die Forderung des Parlaments zu einigen.
Christoph Bals von der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch, die das Anliegen der Klägerfamilien unterstützt, kommentiert: „Es ist höchste Zeit, dass sich Kommission und Rat in Richtung Parlament bewegen. Sie sollten mindestens den Weg frei machen für den Kompromiss, dass das 55 Prozent-Ziel als reines Minderungsziel um ein zusätzliches Ziel zur Einbeziehung von Emissionssenken wie Wäldern ergänzt wird, was zusätzlichen Klimaschutz bedeuten würde. Ein wissenschaftsbasiertes Vorgehen und ein unabhängiger Klimarat würde die Glaubwürdigkeit der Ziele stark unterstreichen.“
Kläger von der Insel Langeoog vor dem Bundesverfassungsgericht
Das rechtliche Verfahren des People’s Climate Case auf EU-Ebene ist damit beendet, doch Familie Recktenwald auf Langeoog gibt nicht auf. Ihr Sohn Lüke hat bereits im Februar gemeinsam mit weiteren Jugendlichen eine Verfassungsbeschwerde gegen das Bundesklimaschutzgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben. Denn das darin verankerte deutsche Klimaziel setzt die für den Schutz der Grundrechte unzureichenden europäischen Klimaschutzvorgaben, die Gegenstand des People’s Climate Case waren, auf nationaler Ebene um und damit aus Sicht der Kläger:innen eine grundrechtswidrige Klimapolitik fort.
Im Gegensatz zum EuGH hat überdies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kürzlich einer anderen Klimaklage von sechs jungen Portugiesen aufgrund der "Bedeutung und Dringlichkeit der aufgeworfenen Fragen" Vorrang eingeräumt. Germanwatch hat gemeinsam mit Fridays for Future beantragt, diese Klage als Streithelfer zu unterstützen.
Weiterführende Links:
· Urteil des Europäischen Gerichtshofes
· Zu den rechtlichen Hintergründen der Klage
· Informationen zum People’s Climate Case
· Pressemappe zum Urteil mit Bildern der Kläger:innen