Meldung | 31.12.2006

Eine unbequeme Wahrheit

Vorbote einer klimapolitischen Trendwende in den USA? - Filmrezension

 

Über 1000 Mal ist Al Gore bisher mit seiner Präsentation zu der "unbequemen Wahrheit" des Klimawandels aufgetreten, so seine eigene Einschätzung. Ein Handlungsreisender in Sachen Klimaschutz, der vor allem sein eigenes Land verändern will, sich aber auch vor chinesischen Studierenden wiederfindet. Dass ein Mensch mit einem so großen politischen Gewicht die Botschaft, den Klimawandel sehr ernst zu nehmen, in die breite Bevölkerung tragen will ist gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Al Gore identifiziert einige der zentralen Brennpunkte, der globalen Tipping Points des Klimasystems. Das größte Gewicht im Film nehmen dabei die Prozesse der Gletscherschmelze an den Polen sowie in den Hochgebirgen der Welt, z.B. am Kilimandscharo, ein. Gerade die Prozesse in Grönland und in der Westantarktis gehören zu den Forschungsbereichen, die auf eine Beschleunigung des globalen Klimawandels hindeuten. Al Gore reflektiert hier die aktuellen klimawissenschaftlichen Debatten und - das ist für seine Präsentation von zentraler Bedeutung - visualisiert sie, z.T. mit eigenen innovativen Grafiken. Ein Flug mit dem Helikopter zu den Eismassen ist da natürlich ein filmisch ansprechendes zusätzliches Element, in Ergänzung zu seinem Vortrag. Auch Hurrikan Katrina erscheint auf der Leinwand. Kaum ein anderes Ereignis hat wohl so stark die öffentliche Klimadebatte in den USA beeinflusst und Menschen dafür sensibilisiert, dass der Klimawandel nicht ein fernes Zukunftsphänomen ist, auch wenn ein Einzelereignis wie Katrina wissenschaftlich nie eindeutig alleine auf den Klimawandel zurückgeführt werden kann.

Der Film ist stark auf die amerikanische Rolle im Klimaschutz ausgerichtet. Grafiken zeigen, wie ineffizient amerikanische Autos im Vergleich zu Modellen aus anderen Ländern sind. Die Weltkarte, die zeigt, welche Staaten das Kyoto-Protokoll unterzeichnet haben, zeigt die multilaterale Isolation der USA auf: Sie und Australien verbleiben als einzige Industrieländer, die sich dem Protokoll verweigern. Solche Bilder hinterlassen sichtlich Eindruck bei den amerikanische Zuschauern, wie aus den Reaktionen im Publikum zu erkennen ist.

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Doch Gore greift auch auf, was sich in den USA an neuen Pro-Klimaschutz-Initiativen tut: Das Thema "Klimaklagen und Autokonzerne" in Kalifornien taucht ebenso auf wie die wachsende Anzahl von Bundesstaaten, die Erneuerbare Energien stärker fördern oder die Einführung von Emissionshandelssystemen planen. Wenngleich hier noch mehr konkretere Beispiele dem Film gut tun würden, die z.B. persönliches Engagement von "normalen" Amerikanern zeigen, ist das doch eine wichtige Botschaft: Bei allem, was noch getan werden muss, kommen Initiativen in Bewegung, die vielleicht Vorboten einer energie- und klimapolitischen Zeitenwende in den USA sein könnten. Im letzten halben Jahr ließen sich hier noch eine Reihe von Beispielen ergänzen, die im Film noch nicht auftauchen (können).

Wenn Gore sagt: "Es ist die natürliche Rolle der USA, Schrittmacher des Klimaschutzes zu sein. Welche andere Nation sollte sie übernehmen?", wirkt das in europäischen Ohren sicherlich erst einmal zwiespältig. Zu oft hat man dieses amerikanische Sendungsbewusstsein in anderen, nicht zuletzt militärischen Kontexten gehört. Doch dass die USA (noch) keine Vorreiter sind, ist ja gerade eines der größten Probleme des Klimawandels. Welche Perspektive hat der globale Klimaschutz, wenn es keine radikale Wende in den USA geben wird? Der bisherige Vorreiter, die EU, sollte sich diesen Platz natürlich nicht einfach wegnehmen lassen. Doch würde irgendein ernsthafter Klimaschützer verneinen, dass ein technologischer Wettbewerb um die Rolle des klimapolitischen Vorreiters nicht genau das ist, was notwendig ist? Die amerikanische Apollo Alliance, ein Zusammenschluss von zahlreichen Organisationen, orientiert sich an den Visionen von John F. Kennedy, der innerhalb von zehn Jahren Menschen auf den Mond schicken wollte. In neun Jahren war der verwegene Plan geglückt. Die Apollo-Allianz will jetzt durchsetzen, dass die USA in höchstens zehn Jahren auf der Erde einen großen Schritt für die Menschheit machen: einen Schritt zu mehr Klimaschutz. Viel Erfolg für diese Vision!

Die Visualisierung der behandelten Klimaphänome ist sicher ein Schlüsselfaktor dafür, dass die Präsentation von Al Gore - und der Film insgesamt - bleibende Eindrücke hinterlässt, nach dem Motto "Einmal gesehen ist besser als zehnmal gelesen". Wenngleich etwas mehr Interaktion mit den Zuhörern der Präsentation wünschenswert wäre - was bewegt sie, welche Fragen stellen sie an Al Gore? Fühlen sie sich zum eigenen Handeln angespornt? - wird doch deutlich, dass die Menschen durch die Macht der Bilder bewegt sind. Nicht zuletzt ist dies auch ein Erfolgsfaktor von innovativen Bildungsprojekten wie z.B. der Klimaexpedition, in der Satellitenbilder die Aufarbeitung des Klimawandels unterstützen. Was Al Gore im Kino macht, macht die Klimaexpedition an deutschen Schulen. Beide zusammenzubringen wäre sicherlich ein interessantes Unterfangen. Einige vom Germanwatch-Team waren mit fünf 13jährigen in dem Film. Und sie hatten durchaus den Eindruck, dass er für Jugendliche in diesem Alter eine gute Gesprächsgrundlage legt.

Der Vortrag von Al Gore fokussiert allerdings sehr stark auf die Problemanalyse, die Darstellung von Lösungen kommt insgesamt etwas zu kurz. Die beim Abspann durchs Bild flackernden Handlungsvorschläge - grünen Strom beziehen, öffentliche Verkehrsmittel nutzen, die Stimme Politikern geben, die sich für Klimaschutz einsetzen (an wen da wohl gedacht ist?) - könnten in konkreterer Form in der Präsentation eine wichtigere Rolle spielen. Wenn man sich aber die Klimadebatte in der amerikanischen Öffentlichkeit anschaut, wie sie bisher verlief, ist sicherlich diese wissenschaftlich basierte Problemanalyse noch dringend notwendig. In Deutschland gibt es kaum noch jemanden, auch in den Medien nicht, der an dem grundsätzlichen Zusammenhang zwischen dem menschlichen Handeln und dem globalen Klimawandel zweifelt. Doch die USA waren hier zumindest bis vor kurzem noch in einem anderen klimapolitischen Evolutionsstadium. Wenn Gore dazu beitragen kann, dass diese grundsätzliche Erkenntnis zum Allgemeinwissen wird, ist zumindest eine wichtige Wissensbasis gelegt, die den Leugnern den Boden unter den Füßen wegzieht. Dass das alleine noch nicht ausreicht, um den Tanker zu wenden, ist keine Frage. Auch in Deutschland ist die Zahl der Menschen, die vom Klimawandel überzeugt sind, noch viel höher als die derer, die klimapolitisch aktiv werden oder ihr Haus isolieren, die Heizung auf Pelletsheizung umstellen oder grünen Strom beziehen. "From knowledge to action" bleibt weiterhin eine Herausforderung. Aber vielleicht - und hoffentlich - gibt es ja in wenigen Jahren eine Fortsetzung des Films, die die Erfolgsstorys einer klima- und energiepolitischen Revolution in den USA in die Welt streut. Dass die Realität den Stoff dafür hergeben wird, können wir alle nur hoffen.

Sven Harmeling