Pressemitteilung | 12.01.2017

Studie offenbart tiefgreifenden Reformbedarf: 65 Prozent der Europäer sehen EU-Agrarpolitik in der Pflicht für Klima- und Tierschutz – Renationalisierung nicht gewollt

Gemeinsame Pressemitteilung zur Vorstellung der Studie „Fundamente statt Säulen: Vorschläge zur Neuausrichtung der EU-Agrarpolitik“.
Bild: Pressemitteilung ohne Schriftzug

Berlin (12. Jan. 2017). „Eine klare Mehrheit von 65 Prozent der EU-Bürgerinnen und Bürger will neue Prioritäten für die EU-Agrarpolitik. Klima- und Tierschutz sollen nach dem Willen der Steuerzahler Vorrang bei der Vergabe der aktuell 58 Milliarden Euro an jährlichen EU-Agrarsubventionen aus Brüssel erhalten. Bisher spielt der Tierschutz in der Landwirtschaftspolitik praktisch keine Rolle. Zudem stehen Überproduktion und EU-Exportrekorde bei Fleisch- und Milchpulver zu Dumpingpreisen dem Klimaschutz und der globalen Hungerbekämpfung im Wege. Das zeigt eine Analyse der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch im Auftrag von Martin Häusling, die am 12. Januar im Europäischen Haus in Berlin vorgestellt wurde.


Kernherausforderung sei es dem Bericht zu Folge, Widersprüche in den EU-Regeln zur Agrarpolitik auszuräumen, die das Vertrauen der Bürger und Verbraucher erschüttern und dem Tier- und EU-Wasserschutz schaden. Zugleich legt die Analyse dar, dass es in Europa inzwischen einen gesellschaftspolitischen Konsens gebe, dass öffentliche Gelder nur für öffentliche Leistungen zu zahlen und der Wertschöpfungsanteil für bäuerliche Betriebe deutlich zu verbessern seien. In der Realität liege beides jedoch im Argen. Daher sei eine tiefgreifende Reform zeitnah erforderlich. EU-Agrarkommissar Phillip Hogan habe für 2017 die übliche Halbzeitbewertung der Agrarreform von 2013 versprochen, doch inhaltliche Neuerungen blockiere er bisher.


Dem sogenannte Greening der Reform 2013, mit dem 30 Prozent der Direktzahlungen eines Betrieb an bestimmte Umweltauflagen gekoppelt werden, bescheinigt die Analyse weitgehende Wirkungslosigkeit. "Solange im Rahmen der vorgeblichen "Umwelt"-Auflagen Pestizide und synthetische Dünger auf den Vorrangflächen erlaubt bleiben und rundherum Monokulturen und Humusabbau der Artenvielfalt und dem Klimaschutz zusätzlich den Garaus machen dürfen, schaden die Zahlungen allesamt unseren natürlichen Ressourcen", sagte Tobias Reichert, Teamleiter Agrarpolitik bei Germanwatch und einer der Autoren.


Beispielhaft für das Scheitern der alten Agrarpolitik ist nach Auffassung der Autoren die Erzeugerpreiskrise. Im Zuge der Abschaffung der Milchquote weitete die EU im Zeitfenster 2013 bis 2015 die Milchpulverexporte von 400 000 Tonnen auf 700 000 Tonnen aus. Das hat den Milchmarkt der ganzen Welt überflutet. Der Weltmarktpreis je Tonne Milchpulver sank in dem Zeitraum von rund 4800 auf 1500 US Dollar und somit um über 65 Prozent. Zugleich erhielt beispielsweise die norddeutsche Molkerei Ülzena in den Jahren 2013/ 2014 Förderung in Höhe von 1,2 Millionen Euro und eröffnete 2014 eines der größten neuen Milchpulverwerke Europas. Andere erhielten Hundertausende Euro für die Lagerung von Milchpulver. Diese Konzernförderung verdrehe den Anspruch der Agrarpolitik zur "Erhöhung der Wertschöpfung" beizutragen, radikal ins Negative wie
der Sinkflug der Weltmarktpreise zeige.


Reinhild Benning, Studienautorin, Germanwatch e.V., stellt fest: "Tierschutz ist nach Erhebungen von Eurobarometer die zweitwichtigste Aufgabe der Landwirtschaft, gleich nach der Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen Lebensmitteln. Diese Forderung erheben immer mehr Menschen in der EU. Daher steht sie im Zentrum des Germanwatch-Modells für eine Neue Agrarpolitik. Wir empfehlen, nicht Landwirten, sondern der Nahrungsmittelindustrie und dem Handel zur Auflage zu machen, die Prozessqualität von Lebensmitteln zu kennzeichnen. Wie bei der Eierkennzeichnung würden alle Lebensmittel in die Kategorien 0,1,2,3 eingeteilt und gekennzeichnet. Die Ziffer 0 entspricht den Ökolandbauanforderungen. Die Ziffer 3 kennzeichnet, dass lediglich gesetzliche Mindestanforderungen eingehalten wurden. In die Ziffern 1 und 2 sollen Bauernhöfe für Verbraucher sichtbar gemacht werden, die z.B. mit geringerem Pestizideinsatz und tierfreundlicher Weidehaltung besondere Leistungen erbringen. So können Konsumenten am Verkaufsregal die aus ihrer Sicht "besten Bauern" erkennen und zu deren Wertschöpfung beitragen. Zugleich wird der gesamte Umfang des EU-Agrarhaushaltes benötigt, um Bauernhöfe in die Lage zu versetzen, von einer Stufe in die nächst höhere zu gelangen, Landwirtschaft in benachteiligten Regionen zu erhalten und Natur- und Artenschutz in die Agrarfläche zu integrieren. Im Jahr 2028 liefe die Förderung für Betriebe der Kategorie 3 aus, weil sie nur die gesetzlichen Mindeststandards erfüllen ohne gesellschaftliche Leistungen nachzuweisen. "Diese Neue Agrarpolitik hat das Potential, das Vertrauen in die Europäische Union - insbesondere in ländlichen Regionen - wieder zu stärken, während die Agrarpolitik alter Facon geeignet ist, den Bürgern den letzten Rest Vertrauen auszutreiben".


Tobias Reichert, Studienautor, Germanwatch e.V., ergänzt: „Die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen verpflichten: Die EU-Agrarpolitik muss dazu beitragen, dass sich das Klima nicht mehr als 1,5 Grad-erwärmt und Hunger und Armut weltweit beendet werden. Das geht nur mit einer Abkehr von einer Fleischerzeugung, die maßgeblich von Futtermittelimporten abhängt und Billigprodukte exportiert – zulasten regionaler Erzeugungs- und Vermarktungsstrukturen weltweit. Ein Stopp der Subventionen an Konzerne und eine generelle Obergrenze für Beihilfen je Empfänger wären geeignete Instrumente, um Subventionsmissbrauch zu bremsen.“


Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA im Europäischen Parlament und Auftraggeber, fasst zusammen: „Seit vielen Jahren verfehlt die europäische Agrarpolitik ihre eigenen Ziele. Unser derzeitiges Modell einer export- und wachstumsorientierten Landwirtschaft beschert zwar dem Handel und der Lebensmittelindustrie satte Gewinne. Es sichert aber weder den Bauern ein angemessenes Einkommen noch entspricht es den Erwartungen der Verbraucher. Es geht zudem und in wachsendem Maße mit Umweltverschmutzung, Artenschwund und Tierleid einher. Dies kritisieren nicht nur Verbraucher- und Umweltgruppen, sondern auch zunehmend wissenschaftliche Sachverständige und regierungsberatende Gremien europaweit seit Jahren. Die vorliegende Studie belegt: Die in diesem Jahr eingeleitete nächste Reformrunde muss eine grundsätzliche Neuausrichtung der europäischen Agrarpolitik zum Ziel haben. Die Gelder der ersten Säule werden weitgehend unqualifiziert gezahlt und landen letztendlich bei denjenigen, die das Land besitzen. Das Greening ist gescheitert. Wir müssen weg vom Säulenmodell hin zu einer Leistungshonorierung, die sich den Ökologischen Landbau zum Leitbild nimmt und ihn als Premiumstandard für öffentliche Gelder definiert.

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