(Ende August 2003)
Spricht man von Entwicklungsanliegen im Rahmen der WTO-Agrarverhandlungen, dann geht es um Fragen der Ernährungssicherung und des Rechts auf Nahrung, um ländliche Entwicklung und Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion, um den Schutz der kleinbäuerlichen Produktion. Erfahrungen mit der Handelsliberalisierung und gegenwärtige Trends in Bezug auf Hunger und Armut machen deutlich, wirksame Sonderregelungen für Entwicklungsländer sind dringend notwendig.
Letzte Schätzungen der FAO sind alarmierend, die Zahl der Hungernden steigt wieder! Handelsliberalisierung im Rahmen von WTO und IWF/Weltbank-Strukturanpassungsprogrammen führten zu einem Netto-Anstieg der Importe. Der einheimische Nahrungsmittelverbrauch wird zunehmend durch Importe, anstelle durch lokale Produkte abgedeckt. Kleinbauern verlieren ihre Absatzmärkte und damit ihre Einkommensgrundlage. Die Abhängigkeit von Importen steigt und bei nicht parallel steigenden Exporten drohen Zahlungsbilanzdefizite. Studien des International Fund for Agriculture Development (IFAD) belegen, dass in Lateinamerika, Asien und Afrika (Ausnahme: Nordafrika) Kleinbauern zu denjenigen gehören, die von Armut betroffen sind. Diese Tatsache unterstreicht die Bedeutung von fairen Agrarhandelsregeln für kleinbäuerliche Produktion.
Eine Analyse der gesamten Vorschläge im Rahmen der WTO-Agrarverhandlungen zu Sonderregelungen für Entwicklungsländer offenbart, dass bezeichnenderweise genau jene Vorschläge ignoriert wurden, die entweder die Struktur des Agrarabkommen und damit die Ausnahmeregelungen für die Industrieländer in Frage stellen oder die gegen das Liberalisierungsdogma der WTO gerichtet sind. Und selbst diejenigen Vorschläge, die aufgegriffen wurden, sind im Laufe des Verhandlungsprozesses stark verwässert worden. So bleibt z.B. von der Sonderbehandlung für Grundnahrungsmittel im Bericht von Harbinson an das Verhandlungskomitee (Trade Negotiation Committee) und im EU/US-Papier nichts mehr übrig.
Der EU/US-Vorschlag vom 13. August 2003 brachte neue Bewegung in die Agrarverhandlungen. Er enthält einige positive Ansatzpunkte (Gleichbehandlung von Exportsubventionen und -krediten, Einordnung von Nahrungsmittelbereich im Bereich Exportwettbewerb), bleibt aber sonst in weiten Teilen hinter dem schon schwachen Vorschlag von Harbinson zurück. Dies trifft insbesondere auf die nicht mehr vorgesehene völlige Abschaffung der Exportsubventionen, die Nicht-Berücksichtigung der "speziellen Produkte" (keine Sonderbehandlung für Grundnahrungsmittel mehr!) und den Abbau der Zolleskalation zu. Grundsätzlich problematisch ist die zu erwartende weitgehende Forderung an Entwicklungsländer im Bereich Marktzugang (Zölle = einzige wichtige Schutzmöglichkeit!), das Fehlen von wirksamen Schutzinstrumenten und die Auseinanderdividierung der Entwicklungsländer in "net food exporting countries" und andere. Schaut man sich diese Kategorie der Entwicklungsländer an, muss man feststellen, dass Indien, Indonesien und Kamerun (alle drei Low Income Countries gemäß Weltbank-Kategorisierung) und Madagaskar (LDC) genauso behandelt werden sollen wie Malaysia, Südafrika, Thailand, Brasilien, und Argentinien. Einer Einordnung der Entwicklungsländer gemäß Exportpotential und Gefahrenklasse für die EU und die USA ist aus entwicklungspolitischer Sicht entschieden entgegenzutreten.
Als Harbinson ankündigte, seinen eigenen Entwurf zurückzuziehen - nur 8 Entwicklungsländer hätten sich explizit kritisch zum EU/US-Deal geäußert -, legten einige Entwicklungsländergruppen (Afrikanische Gruppe, Like Minded Group, G-17) neue eigene Vorschläge in Reaktion auf das gemeinsame Papier der EU und den USA vor. Insbesondere Das G-17-Papier sorgte für Aufsehen und provozierte eine "diplomatische Entgleisung" des EU-Kommissionsvertreters Carl. Es markiert eine Wendepunkt in den WTO-Agrarverhandlungen, in denen Harbinson einseitig die Interessen der EU und im besonderen der USA berücksichtigt hatte. Die G-17 umfasst mehrheitlich Mitglieder der Cairns-Gruppe. Entsprechend sind leider auch in diesem Papier Sonderregelungen für Entwicklungsländer schwach vertreten. Positiv sind besondere Marktzugangsregelungen für Entwicklungsländer (Zollreduktionskategorie I des EU/US-Papiers), die drastische Reduzierung der gelben Box-Subventionen, die Wiederbelebung der Diskussion um die Grüne (Obergrenze) und Blaue Box (Abschaffung), die völlige Abschaffung der Exportsubventionen und die Forderung zur Abschaffung der Zolleskalation zu nennen. Die Sonderregelungen für Entwicklungsländer gehen hingegen nicht über Harbinson II hinaus, was sehr kritisch zu bewerten ist. Die Like Minded Group hatte erneut die Forderung nach einer vollständigen Ausnahme der Grundnahrungsmittel von Zollreduktionsverpflichtungen wiederholt. Ohne Erfolg, denn im Castillo-Papier taucht die Forderung nicht auf!
Am 24. August hat der Vorsitzende des Allgemeinen Rates, Perez de Castillo den 2. Entwurf für eine Ministererklärung vorgestellt, der einen neuen Vorschlag für die Agrarverhandlungen im Annex A enthält. Es ist das Ergebnis von "closed room meetings" mit verschiedenen Delegationen. Eine Ablehnung des Gesamttextes von ca. 45 WTO-Mitgliederns als Verhandlungsgrundlage wurde nicht weiter Rechnung getragen. Der Text stellt in Teilen eine Synthese des EU/US-Papiers und des G-17-Papiers dar, trägt aber die deutliche Handschrift des EU/US-Papiers!. Während die Interessen der EU/US in allen Bereichen berücksichtigt wurden, sind die einzigen G-17-Elemente die Paragraphen, die weiteren Verhandlungsbedarf bzgl. Grüne Box und Enddatum bei Exportsubventionen ankündigen.
Dennoch macht das Castillo-Papier wenigstens einige der bestehenden Meinungsunterschiede zwischen Nord und Süd deutlich, welche die ganze Zeit über existent, aber von Harbinson unter den Teppich gekehrt wurden. Die strittigen Punkte werden zumindest erwähnt (ein bescheidener Fortschritt!), auch wenn er nach schlechter WTO-Manier die bestehenden Unterschiede genauso wenig in eckigen Klammern ausweist, wie andere Verhandlungsleiter. Diese strittigen Punkte sind: Grüne Box, Enddatum bei Exportsubventionen, spezielle Produkte, nicht handelsbezogene Anliegen (NTCs), Friedensklausel, sektorale Initiativen (Baumwolle), "inter pillar linkages" (d.h. Marktzugangszugeständnisse erst nach substantieller Reduzierung der handelsverzerrenden Subventionen und re-balancing Mechanismus). Die Forderungen hinsichtlich einer drastischen Reduzierung der handelsverzerrenden Subventionen und einer sehr viel vorsichtigeren Marktöffnung in den Entwicklungsländern wurden von Castillo ignoriert.
Im Sinne des Schutzes der bäuerlichen Produktion in Deutschland und Europa sei noch erwähnt, dass Germanwatch die Position der Bundesregierung in Bezug auf NTCs und vorsichtige Marktöffnung unterstützt. In Bezug auf Zucker sollte der Marktzugang hingegen für Entwicklungsländer über Quotenregeln verbessert werden sowie der Marktzugang insgesamt bei den weiterverarbeiteten Produkten (Abbau der Zolleskalation). Gleiches gilt für tropische Produkte wie von der G-17 gefordert.
Zur Sicherung der Ernährung, der Umsetzung des Rechts auf Nahrung und des Schutzes der kleinbäuerlichen Produktion sei abschließend erstens auf die Notwendigkeit einer sehr vorsichtigen Marktöffnung für Entwicklungsländer hingewiesen, da Zölle ihr einziges Schutzinstrument darstellen. Und zweitens auf wirksame Sonderregelungen wie ...
- "strategische Produkte" (vollständige Ausnahme von Grundnahrungsmitteln von den Zollabbauverpflichtungen)
- wirksamer spezieller Schutzmechanismus für alle Agrarprodukte für alle Entwicklungsländer
- Anheben der gebundenen Zölle für Grundnahrungsmittel für Länder, die diese in der Uruguay-Runde zu niedrig angesetzt haben und
- Berücksichtigung der "inter pillar linkages"
- Zugeständnis eines wirksamen Instruments gegen das strukturelle Problems des Dumpings.
- völlige Entkoppelung der Subventionen (d.h. alles in die Grüne Box)
- folglich Abschaffung der blauen Box und schnelle Reduzierung der gelben Box
- Zügige völlige Abschaffung der Exportsubventionen mit Enddatum
- Umwidmung der Subventionen zugunsten von Umwelt und Entwicklung i.S. einer nachhaltigen ländlichen Entwicklung in Nord und Süd
- Obergrenze der Grünen Box, wobei die Höhe der Obergrenze nicht zu restriktiv festgelegt werden sollte. Reduzierungen sollten bei den reinen einkommensstützenden Direktzahlungen (§ 5,6,7 des Annex II) in der Implementierungsperiode vorgesehen werden.
Marita Wiggerthale