NGOs aus aller Welt, die sich für Ernährungssicherung und die Sicherung der Lebensgrundlagen von Kleinbauern in Entwicklungsländern einsetzen, hatten den zweiten Entwurf für eine Abschlusserklärung der WTO-Ministerkonferenz in Cancún 2003 vehement abgelehnt. Der Grund: die im Rahmenabkommen vorgesehenen drastischen Zollreduzierungen für Entwicklungsländer und die Weiterführung des Exportdumpings. Damit würde die Existenz von Millionen von Kleinbauern im Süden direkt gefährdet!
Die Bewertung im Einzelnen:
Interne Stützung
Industrieländer sollen grundsätzlich substantielle Reduzierungen bei den handelsverzerrenden Subventionen vornehmen, die wesentlich über jene der Uruguay-Runde hinausgehen. Dabei ist zu beachten, dass das Agrarabkommen nur eine Umschichtung der Subventionen von der gelben und blauen Box in die grüne Box vorsieht, mit der ein Ende der Handelsverzerrung zwar im WTO-Jargon gegeben, in der Realität nicht zutreffend ist. Exportdumping wird auch dann weiter fortbestehen.
Aber selbst von einer völligen Entkoppelung, die im Ansatz umwelt- und entwicklungspolitisch sinnvoll ist, ist die WTO mit ihren Abbauverpflichtungen für Industrieländer weit entfernt. Im Derbez Entwurf werden zwar Reduzierungen der handelsverzerrenden Subventionen (gemessen in AMS, gelbe Box) angestrebt, einen Hinweis auf die Höhe des Einschnitts gibt es jedoch nicht. Die de minimis Subventionen (das sind jene, die nicht abgebaut werden müssen, obwohl sie handelsverzerrend sind) für Industrieländer sollen nur reduziert und nicht abgeschafft werden. Und die blaue Box, die eigentlich nur als Übergangslösung angelegt war, um insbesondere der EU und den USA Spielraum für die Einleitung des internen Reformprozesses zu geben, soll nicht abgeschafft, sondern verlängert werden. Sie stellt de facto eine Sonderregelung für die EU und die USA dar. Das notwendige Ende des Exportdumpings bliebe bei den vorgesehenen Bestimmungen Zukunftsmusik und das Fortbestehen bittere Realität für Kleinbauern.
Aber auch die grüne Box hält in Wirklichkeit einer Prüfung der Nicht-Handelsverzerrung nicht stand. Dabei soll hier nicht einer völligen Abschaffung der Subventionen oder einer Deckelung der grünen Box das Wort geredet werden. Aber es gilt anzuerkennen, dass einige "grüne" Subventionstatbestände ein hohes handelsverzerrendes Potential haben und damit zum Dumping beitragen. Dies ist z.B. der Fall bei den reinen Einkommenszahlungen, den Einkommensversicherungen und der Investitionsförderung. Eine Überprüfung der grünen Box ist von daher dringend erforderlich. Die Aufnahme dieser Forderung im Derbez-Enwurf ist positiv zu bewerten.
Exportsubventionen
90% aller Exportsubventionen weltweit werden von der EU an ihre Exporteure gezahlt. Die EU weist zwar richtigerweise auf die Einbeziehung aller Formen von Exportsubventionen hin (Nahrungsmittelhilfe, Exportkredite), aber dies enthebt sie nicht von der Pflicht, diese komplett abzuschaffen. Bisher wird "nur" eine völlige Abschaffung von Exportsubventionen für Produkte, die von Interesse für Entwicklungsländer sind, vorgesehen. Aber selbst bei diesem positiven Ansatz bleibt zu befürchten, dass die EU bei jenen Produkten einen Riegel vorschiebt, die ihnen als sensibel erscheinen. Dies wurde in Cancún bereits von der Kommission angedeutet. Ungeklärt ist nämlich die Frage, wer bestimmt, welche Produkte von Interesse für Entwicklungsländer sind.
Für alle anderen Produkte sollte laut Derbez die Entscheidung später getroffen bzw. verhandelt werden. Eine Zustimmung des Entwurfs auf dieser Grundlage hätte bedeutet, den Druck diesbezüglich aus den Verhandlungen nehmen. Wie notwendig dieser jedoch ist, verdeutlicht ein internes Papier der EU vom 2.9.2003, in dem diese die Festlegung eines Enddatums für die völlige Abschaffung aller Exportsubventionen ablehnt. Diese Haltung ist aus entwicklungspolitischer Perspektive scharf zu verurteilen, denn Exportsubventionen stellen das offensichtlichste "Dumping-Instrument" dar und gehören von daher aufgrund ihrer zerstörerischen Wirkungen für die kleinbäuerliche Landwirtschaft im Süden schnellstmöglich abgeschafft.
Verlängerung der Friedensklausel
Derbez hat in seinem Entwurf eine Verlängerung der Friedensklausel vorgeschlagen. Diese schützt die Industrieländer vor einer Anfechtung ihrer handelsverzerrenden Subventionen beim Schiedsgericht der WTO. Sie ist aus entwicklungspolitischer Perspektive nicht zu befürworten.
Marktzugang
Großen Unmut riefen die Marktzugangsforderungen an Entwicklungsländer hervor. In allen bisherigen Entwürfen für einen neuen Agrarvertrag waren nie so weitgehende Zollreduzierungen für sie vorgeschlagen worden. Dieser Tatbestand für sich genommen rechtfertigte bereits eine Ablehnung des Derbez-Textes. Die Mischformel der Industrieländer wurde ebenso auf die Entwicklungsländer übertragen mit einem minimalistischen Unterschied: Reduzierung der Zölle auf einen Zollsatz zwischen 0-5% anstatt zollfreier Marktzugang (dritte Zollkategorie). Auch bei der zweiten Zollkategorie "Schweizer Formel" wird kein Unterschied zwischen Industrie- und Entwicklungsländern gemacht! Das Grundprinzip der Sonder- und Vorzugsbehandlung, die Nicht-Reziprozität, wurde somit vollkommen missachtet. Dabei soll diese, laut Doha Mandat, integraler Bestandteil aller Abkommen sein.
Die Mischformel ist voll und ganz auf die Zollstruktur der Industrieländer abgestimmt, so dass ihnen prinzipiell ein weiterer Schutz ihrer Landwirtschaft offen steht. Die gleiche Mischformel auf die Entwicklungsländer angewandt, bedeutet aber drastische, unverhältnismäßige Zollreduzierungen für die Entwicklungsländer. Entwicklungsländer wären damit zu mehr Marktöffnung gezwungen, als die Industrieländer! Seine Auswirkungen für Kleinbauern im Süden wären fatal: Lebensmittel aus kleinbäuerlicher Produktion würden immer mehr durch Importe vom Markt verdrängt werden. Einkommensverluste und die weitere Verschärfung der bestehenden Armutssituation auf dem Lande mit negativen Folgeerscheinungen für die Umwelt wären die Folge. Die Bestimmungen für die Marktöffnung seitens der Entwicklungsländer sind deswegen aufs schärfste zu verurteilen und kategorisch abzulehnen.
Eine besondere Bedeutung kommt aus Ernährungssicherungsgründen der Einführung des Konzeptes der "speziellen Produkte" und der Einführung eines speziellen Schutzmechanismus' zu. Mit den speziellen Produkten, soll eine Liste von Grundnahrungsmittel komplett von allen Reduktionsverpflichtungen ausgenommen werden. Entwicklungsländer sollen diese Liste selbst bestimmen dürfen. Der spezielle Schutzmechanismus (SSM) ermöglicht die Erhebung eines Schutzzolles, wenn einheimische Märkte durch Importfluten oder durch Preisverfall von Importen gestört werden und die Einkommen der Kleinbauern gefährden. Dieses Instrument steht den Industrieländern bereits seit 1995 zur Verfügung, und sie haben es intensiv genutzt! Die Anwendung des SSM muss allen Entwicklungsländer für alle Agrarprodukte offen stehen. Derbez hat zwar beide Instrumente in seinem Entwurf aufgenommen, jedoch bleibt die Ausgestaltung, wie in allen bisherigen Entwürfen, nach wie vor ungenügend. Jegliche Verknüpfung dieser beiden Instrumente mit dem Zugeständnis zu weitreichenden Zollreduzierungen ist inakzeptabel und kontraproduktiv, da sie deren Wirksamkeit schmälert.
Andere Themen
Die Forderung der Entwicklungsländer, Zugeständnisse beim Marktzugang an eine substantielle Reduzierung der handelsverzerrenden Subventionen zu knüpfen, taucht in der Kategorie "keine Einigung" auf, wird aber nicht weiter ausgeführt. Faire Bedingungen im Agrarhandel machen sich insbesondere an dieser Forderung fest. Eine Fortführung des Dumping bei weiter liberalisierten Märkten der Entwicklungsländer schmälert sowohl ihre Bemühungen, einheimische Produktionskapazitäten aufzubauen als auch ihre Absatzchancen auf Drittländermärkten.
Sonder- und Vorzugsbehandlung
Wie bereits ausgeführt soll die Sonder- und Vorzugsbehandlung integraler Bestandteil aller Abkommen sein. Deren Umsetzung ist im Agrarabkommen bisher völlig unzureichend. Dem Entwicklungsstand der Entwicklungsländer und ihren spezifischen Problemen wird in keinster Weise angemessen Rechnung getragen. Einzig bei den speziellen Produkten und dem speziellen Schutzmechanismus findet die in Doha eingegangene Verpflichtung ansatzweise ihren Niederschlag. Es ist jedoch auffallend, dass keine S&DT-Maßnahme unilateral nur den Entwicklungsländern zugestanden wird. Denn auch bei den speziellen Produkten findet sich jetzt ein Pendant für Industrieländer im Derbez-Text, die neue Kategorie der "nicht-handelsbezogenen Produkte". Die Schutzklausel (Pendant zu SSM, aber stärker) hingegen steht den Industrieländer sowieso schon seit 1995 zur Verfügung, und das für eine große Anzahl von Tarifflinien (537 für die EU!). Die Vorschläge für einen neuen Agrarvertrag stellen nicht einmal Chancengleichheit her, geschweige denn eine Situation der Vorzugsbehandlung der Entwicklungsländer! Stattdessen finden sich nach wie vor wirksame Sonderregelungen für Industrieländer z.B. die Fortführung der blauen Box und der Friedensklausel.
Baumwolle
Die vier westafrikanischen Staaten Bénin, Mali, Tschad und Burkina Faso hatten mit ihrer Baumwollinitiative die schnelle Abschaffung der Baumwollsubventionen gefordert incl. Festlegung eines Enddatums und die Einrichtung eines Kompensationsmechanismus für die Landwirte in den LDCs. Aber abgesehen von schönen Worten und einem warmen Händedruck, wurden den Regierungschefs dieser Länder keine Zugeständnisse in ihrem Sinne gemacht. Stattdessen wurde ihnen mit dem Derbez Text vorgeschlagen, Wettbewerbsverzerrungen im gesamten Textilsektor zu analysieren. Weiterhin sollen unter Einbeziehung von IWF, Weltbank, FAO und des International Trade Centre bestehende Programme im Baumwollsektor umgewidmet werden, um eine Diversifizierung der Exportprodukte in den besonders betroffenen Ländern zu erreichen. Angesichts der dramatischen Auswirkungen der Baumwollsubventionen auf den Baumwollsektor und für die ländliche Bevölkerung in diesen Ländern, sind diese Vorschläge ein "Schlag ins Gesicht" und eine Absage an solche entwicklungsfreundlichen Regelungen, die wirkliche Anpassungen in den Industrieländern erfordern. Der Baumwollfall zeigte den Entwicklungsländern einmal mehr, dass sie nichts von der "Entwicklungsrunde" zu erwarten haben.
Marita Wiggerthale, Oktober 2003
Weitere Infos zum Thema:
- Gerechtigkeit jetzt in den WTO-Agrarverhandlungen: damit das Recht auf Nahrung gesichert wird. Analyse - Bewertung - Forderungen post Cancún