Wenn das grüne Produkt zum Standard wird

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Wenn das grüne Produkt zum Standard wird

Interview mit Sylviane Chassot, Journalistin bei Finanz und Wirtschaft mit Schwerpunkt Energie
Portraitfoto Sylviane Chassot

Im Jahr 2012 stellten die St. Galler Stadtwerke ihr Standardangebot in der Stromversorgung für alle Haushaltskunden sowie Gewerbe und Industrie in der Stadt auf einen ökologischeren Strom-Mix um. Vor dem Wechsel hatten sich nur rund 10 % der Stadtbevölkerung selbst aktiv für Strom aus Erneuerbaren Energien entschieden. Jetzt wurde Öko-Strom zum Standardangebot und man musste aktiv herausoptieren. 90 % blieben beim Ökostrommix, nur 10 % wechselten aktiv zurück zum billigeren Kernstrom-Mix. Sylviane Chassot hat das Projekt 2011 mit ihren damaligen Kolleg*innen von der Universität St. Gallen wissenschaftlich begleitet und darüber eine Studie mit dem Titel „Wenn das grüne Produkt zum Standard wird“ veröffentlicht.

Warum haben sich vor der Änderung der Standardoption nur so wenige Bürger*innen für die nachhaltigere Stromversorgung entschieden?

Wir sind von morgens bis abends mit mehr oder weniger komplexen Entscheidungen konfrontiert. Eine Studienteilnehmerin beschrieb einmal, wie Entscheidungen ohne Deadline daher immer wieder aufgeschoben werden: „Das ist wie ’ne Erledigungsblockade haben. To-Do- Listen schreiben, die man fleißig abarbeitet, um dann so’n paar kleine Punkte immer auf die nächste Liste mit rüberzuschieben. Und so ein paar Sachen werden halt immer weiter rübergeschoben […] Die Empörung, die man zwischendurch empfindet, reicht offensichtlich nicht aus, sich hinzusetzen.“

Und wie erklären Sie sich, dass nach der Änderung des Standardangebots nur sehr wenige Menschen wieder zurück zum preiswerteren, nicht-erneuerbaren Stromangebot wechselten?

Strom ist für die meisten Menschen ein sehr abstraktes Produkt. So kommt es, dass sich viele Haushaltskunden bei der Wahl des Produkts auf eine Person oder Institution verlassen, die sie als kompetent einschätzen. Und wer, wenn nicht die eigene Stromversorgerin, sollte geeigneter sein, eine Empfehlung zum Strom-Mix abzugeben? Statt also eine aktive Auswahl zu treffen, bleiben viele Kunden und Kundinnen bei dem Produkt, welches das Energieversorgungsunternehmen ihnen standardmäßig liefert.

Grafik: Bezieher von grünem und konventionellem Strom in St. Gallen

Bezieher von grünem und konventionellem Strom in St. Gallen

Wie beurteilen Sie die Wirkung der Veränderung der Standardoption nach sieben Jahren?

Seit der Einführung des neuen Systems haben die St.Galler Stadtwerke über die neuen Stromprodukte Mehreinnahmen erzielt, die sie zweckgebunden für den Zubau von erneuerbarem Strom sowie für Kraft-Wärme-Kopplungs- Anlagen eingesetzt haben. Zudem wurden auch Einspeisetarife festgelegt, um Anreize für Private zu schaffen, selbst in Photovoltaikanlagen zu investieren. Weitere Ökologisierungsschritte sollen in den nächsten Jahren folgen, habe ich von den St. Galler Stadtwerken gehört. In der öffentlichen Wahrnehmung stößt diese „nachhaltige Verbesserung“ überwiegend auf positive Resonanz. Natürlich ist es schwierig, die Wirkung mit absoluten Zahlen zu erfassen. Tatsache ist aber, dass – auch dank kommunikativer Maßnahmen – die Anzahl Personen in St. Gallen, die sich mit dem Thema Strom-Mix auseinandersetzen, zugenommen hat. Es sind immer noch rund 10 % der Kundinnen und Kunden, welche aktiv das günstigste – nicht nachhaltige – Produkt gewählt haben.

Was hindert andere Städte daran, Strom aus Erneuerbaren Energien als Standardoption festzulegen?

Ein Hindernis ist die enge Verflechtung zwischen regionalen Versorgern und den überregionalen Stromproduzenten. Diese Stromproduzenten sind Eigentümer der Atomkraftwerke und haben mit dem Zubau erneuerbarer Energien relativ lange gezögert. Ein weiteres Argument gegen die Änderung der Standardoption ist die angebliche Bevormundung der Stromkunden. Nur: Wo auch immer ich bisher neu eingezogen bin, ging das Licht immer gleich an, sobald eine Glühbirne da war. Irgendein Stromprodukt ist also im Alltag für einen Großteil der Wohnbevölkerung vorausgewählt. Warum ist es Bevormundung, wenn der Versorger ein Ökostrom- Produkt als Standard vorgibt, aber nicht, wenn es ein Atomstrom-Produkt ist?

In welchen anderen Bereichen sehen Sie Potenzial, durch andere Auswahloptionen oder Standardeinstellungen nachhaltiges Verhalten zu erleichtern?

Es gibt unzählige sinnvolle Beispiele, im Großen wie im Kleinen, wo ein Unternehmen oder eine Behörde unseren Alltag durch eine Vorauswahl nachhaltiger machen könnte – von der Frage, ob ein Drucker standardmäßig auf ein- oder doppelseitigen Ausdruck eingestellt ist bis hin zur viel diskutierten Organspende-Thematik. Viel Potenzial gibt es auch in der Ernährung. Zum Beispiel war am St. Galler Forum für Management Erneuerbarer Energien 2019 die Vorauswahl für das Konferenz-Dinner die vegetarische Variante – wer Fleisch wollte, musste sich bei der Anmeldung aktiv dafür entscheiden. Bis auf eine Person hatten alle an meinem Tisch das vegetarische Menü.
 

Interview: Marie Heitfeld

Weitere Infos:
Chassot, S., Wüstenhagen, R., Fahr, N., Graf, P. (2013): Wenn das grüne Produkt zum Standard wird – Wie ein Energieversorger seinen Kunden die Verhaltensänderung einfach macht. OrganisationsEntwicklung, Nr. 3, 80-87.

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